Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2005Das Bild des Vaters im Taschenspiegel
Porträt der Autorin als rebellische junge Frau: Im Roman "Ausgesetzt" erzählt Joyce Carol Oates die Geschichte einer Karriere
Ich-Geschichten, Selbstfindungen, Literatur als autobiographisches Verwirrspiel - haben wir davon immer noch nicht genug? Immer noch nicht genug von den Variationen und Verfremdungen des Literatenlebens? Nein, haben wir nicht. Ein mitreißendes, bestürzendes, erheiterndes, erschütterndes, tragisches und komisches Buch ist anzuzeigen: der Roman "Ausgesetzt" von Joyce Carol Oates.
Ob Bürgersöhne oder Farmerstöchter, auf eine prekäre Jugend blicken viele Schriftsteller zurück, auf eine Zeit voll Unordnung, Leid, Gefährdungen und Peinlichkeiten. Künstlertum und frühes Außenseiterdasein sind schon lange unauflösbar verbunden. Die Introvertierten unter ihnen blinzeln ein wenig wehmütig nach dem Leben und seiner Gewöhnlichkeit. Bedrohlicher dagegen erscheint eine Sehnsucht nach Normalität, die zur fixen Idee wird, zu einem inneren Anpassungszwang, vor dem man sich nur in Grenzüberschreitungen, bis hin zu Wahnsinn und Raserei, retten kann.
Eine solche riskante Gratwanderung mutet die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates der namenlosen Ich-Erzählerin ihres neuen, autobiographisch grundierten Romans zu. Die neunzehnjährige Heldin ist, ähnlich wie die Autorin selbst, in ärmlichen, bedrückenden Verhältnissen aufgewachsen, auf einer Farm in trostloser Gegend. Ihre Mutter hat sie verloren, ihre Brüder beachten sie nicht, ihr Vater, den es zu Hause nicht hält, lehnt sie ab.
Ihre Zukunft als gefeierte Schriftstellerin ist noch fern. Die erste Station ihrer Selbstsuche führt sie, Anfang der sechziger Jahre, zu der elitären Studentinnenverbindung "Kappa Gamma Pi" an der Universität Syracuse, einer "heiligen Schwesternschaft" mit überspannten Ritualen. Um jeden Preis will sie zu den schönen, reichen, glamourösen Verbindungsstudentinnen gehören. Sie bearbeitet ihr Ich wie mit einem Meißel, paßt sich chamäleonartig an und glaubt sich dabei aufzulösen wie ihre billigen Orlon-Pullover. Immer weiter wird sie von ihrem inneren Gravitationspunkt weggeschleudert, bis nichts sie mehr retten kann, auch nicht die geliebte Philosophie. Sie verliert die Kontrolle, brüllt allen ins Gesicht, daß sie nicht dazugehört, weidet sich an ihrem Schmerz, verwahrlost und klaubt in Mülltonnen nach Eßbarem.
Hast du dir den Namen auch irgendwo herausgeklaubt? wird sie später von Vernor Matheius gefragt. Dem brillanten, viel älteren schwarzen Philosophiestudenten hat sie sich mit dem Phantasienamen "Anellia" vorgestellt. Die Studentin, die von ihrem Vater nur "du" genannt wurde und von einem "geheimen Kappa-Namen" träumte, erfindet sich für ihn neu, formt sich nach seinen Vorstellungen. Sie lebt, um ihn zu lieben, kopflos, überrascht, bis zur Selbstaufgabe. Einen Halt für ihr fragiles Ego findet sie nicht: "Meine sogenannte Persönlichkeit war immer eine Maske gewesen, die ich nervös nestelnd angelegt und mit unsicheren, irritierten Fingern wieder abgenommen hatte." Es gebe gar keine persönliche Identität, predigt ihr der arrogante Vernor Matheius. Er entzieht sich ihr, denn sein Zuhause sei "der gedankliche Weg, der alle anderen Wege ausschließt", auch die Liebe. "Anellia" steht wieder vor den Trümmern einer Möglichkeit, und wieder sehnt sie sich, ihres neuen Lebensinhalts beraubt, nach der Reinheit des Nichts. Von ihrer Liebe zu Vernor Matheius behält sie nur ein neues Etikett für ihr Ausgeschlossensein zurück: Als "Negerfreundin" wird sie nun in der rassistischen Kleinstadt beschimpft.
In einem dritten Kapitel wird sie, viel später, ans Sterbebett des längst totgeglaubten Vaters gerufen. Die lange Fahrt nach Utah, mit ihrem ersten Buch im Gepäck, durch die von Joyce Carol Oates so oft beschworenen weiten amerikanischen Landschaften, wird für die junge Schriftstellerin zur wichtigsten Etappe auf der Reise zur Selbsterkenntnis. Ihr Vater, von Krebs und Operationen entstellt, verbietet ihr, ihn anzuschauen, sie muß sich ihm mit geschlossenen Augen nähern. Mit Hilfe eines Taschenspiegels gelingt es ihr, ein Bild von ihm einzufangen. Erst da sind die Gespenster ihrer Kindheit und Jugend gebannt.
Mit Zauberhand fügt Joyce Carol Oates die drei Episoden aus dem Leben ihrer innerlich zerrissenen Heldin zu einer präzisen, kunstvoll gebauten Chronik einer Selbstsuche zusammen. Nüchtern, karg und rein wie die Gedankenwelt, in die sich die Protagonistin oft flüchtet, ist der Tonfall dieses sehr persönlichen Buchs. Oates stellt ihre immer wiederkehrenden Themen - junge Frauen und deren Innenleben, Rassismus und Bürgerrechte, den Kampf gegen Engstirnigkeit und verkrustete Strukturen - in den neuen Zusammenhang ihrer ureigenen Geschichte. Was dabei herauskommt, ist Entwicklungsroman und Künstlervita zugleich: Scharfsinnig analysiert die Autorin, die hin und wieder als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis im Gespräch ist, die Krisen, aus denen, mit viel Glück, Literatur hervorgehen kann. "Ausgesetzt" ist von der ersten bis zur letzten Seite verstörend, denn immer tönt im Hintergrund der Dreiklang von Auflösung, Entfremdung und Selbstauslöschung. Doch eine Welt, in der das Schreiben als Rettung vor einer bleiernen Wirklichkeit winkt, kann auch bei Joyce Carol Oates nicht ganz schlecht sein.
Joyce Carol Oates: "Ausgesetzt". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 334 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Porträt der Autorin als rebellische junge Frau: Im Roman "Ausgesetzt" erzählt Joyce Carol Oates die Geschichte einer Karriere
Ich-Geschichten, Selbstfindungen, Literatur als autobiographisches Verwirrspiel - haben wir davon immer noch nicht genug? Immer noch nicht genug von den Variationen und Verfremdungen des Literatenlebens? Nein, haben wir nicht. Ein mitreißendes, bestürzendes, erheiterndes, erschütterndes, tragisches und komisches Buch ist anzuzeigen: der Roman "Ausgesetzt" von Joyce Carol Oates.
Ob Bürgersöhne oder Farmerstöchter, auf eine prekäre Jugend blicken viele Schriftsteller zurück, auf eine Zeit voll Unordnung, Leid, Gefährdungen und Peinlichkeiten. Künstlertum und frühes Außenseiterdasein sind schon lange unauflösbar verbunden. Die Introvertierten unter ihnen blinzeln ein wenig wehmütig nach dem Leben und seiner Gewöhnlichkeit. Bedrohlicher dagegen erscheint eine Sehnsucht nach Normalität, die zur fixen Idee wird, zu einem inneren Anpassungszwang, vor dem man sich nur in Grenzüberschreitungen, bis hin zu Wahnsinn und Raserei, retten kann.
Eine solche riskante Gratwanderung mutet die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates der namenlosen Ich-Erzählerin ihres neuen, autobiographisch grundierten Romans zu. Die neunzehnjährige Heldin ist, ähnlich wie die Autorin selbst, in ärmlichen, bedrückenden Verhältnissen aufgewachsen, auf einer Farm in trostloser Gegend. Ihre Mutter hat sie verloren, ihre Brüder beachten sie nicht, ihr Vater, den es zu Hause nicht hält, lehnt sie ab.
Ihre Zukunft als gefeierte Schriftstellerin ist noch fern. Die erste Station ihrer Selbstsuche führt sie, Anfang der sechziger Jahre, zu der elitären Studentinnenverbindung "Kappa Gamma Pi" an der Universität Syracuse, einer "heiligen Schwesternschaft" mit überspannten Ritualen. Um jeden Preis will sie zu den schönen, reichen, glamourösen Verbindungsstudentinnen gehören. Sie bearbeitet ihr Ich wie mit einem Meißel, paßt sich chamäleonartig an und glaubt sich dabei aufzulösen wie ihre billigen Orlon-Pullover. Immer weiter wird sie von ihrem inneren Gravitationspunkt weggeschleudert, bis nichts sie mehr retten kann, auch nicht die geliebte Philosophie. Sie verliert die Kontrolle, brüllt allen ins Gesicht, daß sie nicht dazugehört, weidet sich an ihrem Schmerz, verwahrlost und klaubt in Mülltonnen nach Eßbarem.
Hast du dir den Namen auch irgendwo herausgeklaubt? wird sie später von Vernor Matheius gefragt. Dem brillanten, viel älteren schwarzen Philosophiestudenten hat sie sich mit dem Phantasienamen "Anellia" vorgestellt. Die Studentin, die von ihrem Vater nur "du" genannt wurde und von einem "geheimen Kappa-Namen" träumte, erfindet sich für ihn neu, formt sich nach seinen Vorstellungen. Sie lebt, um ihn zu lieben, kopflos, überrascht, bis zur Selbstaufgabe. Einen Halt für ihr fragiles Ego findet sie nicht: "Meine sogenannte Persönlichkeit war immer eine Maske gewesen, die ich nervös nestelnd angelegt und mit unsicheren, irritierten Fingern wieder abgenommen hatte." Es gebe gar keine persönliche Identität, predigt ihr der arrogante Vernor Matheius. Er entzieht sich ihr, denn sein Zuhause sei "der gedankliche Weg, der alle anderen Wege ausschließt", auch die Liebe. "Anellia" steht wieder vor den Trümmern einer Möglichkeit, und wieder sehnt sie sich, ihres neuen Lebensinhalts beraubt, nach der Reinheit des Nichts. Von ihrer Liebe zu Vernor Matheius behält sie nur ein neues Etikett für ihr Ausgeschlossensein zurück: Als "Negerfreundin" wird sie nun in der rassistischen Kleinstadt beschimpft.
In einem dritten Kapitel wird sie, viel später, ans Sterbebett des längst totgeglaubten Vaters gerufen. Die lange Fahrt nach Utah, mit ihrem ersten Buch im Gepäck, durch die von Joyce Carol Oates so oft beschworenen weiten amerikanischen Landschaften, wird für die junge Schriftstellerin zur wichtigsten Etappe auf der Reise zur Selbsterkenntnis. Ihr Vater, von Krebs und Operationen entstellt, verbietet ihr, ihn anzuschauen, sie muß sich ihm mit geschlossenen Augen nähern. Mit Hilfe eines Taschenspiegels gelingt es ihr, ein Bild von ihm einzufangen. Erst da sind die Gespenster ihrer Kindheit und Jugend gebannt.
Mit Zauberhand fügt Joyce Carol Oates die drei Episoden aus dem Leben ihrer innerlich zerrissenen Heldin zu einer präzisen, kunstvoll gebauten Chronik einer Selbstsuche zusammen. Nüchtern, karg und rein wie die Gedankenwelt, in die sich die Protagonistin oft flüchtet, ist der Tonfall dieses sehr persönlichen Buchs. Oates stellt ihre immer wiederkehrenden Themen - junge Frauen und deren Innenleben, Rassismus und Bürgerrechte, den Kampf gegen Engstirnigkeit und verkrustete Strukturen - in den neuen Zusammenhang ihrer ureigenen Geschichte. Was dabei herauskommt, ist Entwicklungsroman und Künstlervita zugleich: Scharfsinnig analysiert die Autorin, die hin und wieder als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis im Gespräch ist, die Krisen, aus denen, mit viel Glück, Literatur hervorgehen kann. "Ausgesetzt" ist von der ersten bis zur letzten Seite verstörend, denn immer tönt im Hintergrund der Dreiklang von Auflösung, Entfremdung und Selbstauslöschung. Doch eine Welt, in der das Schreiben als Rettung vor einer bleiernen Wirklichkeit winkt, kann auch bei Joyce Carol Oates nicht ganz schlecht sein.
Joyce Carol Oates: "Ausgesetzt". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 334 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Carol Joyce Oates bleibt ihren Themen treu, meint Rezensent Jörg Magenau nach der Lektüre ihres jüngsten Romans "Ausgesetzt". Auch in dieser Geschichte um Oates' namenloses (weil noch nach seiner Identität suchendes) alter ego, eine schwarze Studentin und Außenseiterin, arbeitet sich Oates an "Emanzipation der Frau, Bürgerrechte und Rassismus in den USA, die Weite der amerikanischen Landschaft und die Engstirnigkeit provinzieller Moral" ab. Gemeinsamer Nenner aller Episoden des Romans ist für den Rezensenten die Macht der Bilder und das Bedürfnis, Bilder zu schaffen. Dies werde deutlich im Scheitern der Beziehung mit dem intellektuellen Vernon, das von ihrer zu großen Identitätsabhängigkeit von ihm verschuldet wird, besonders aber in der Begegnung mit dem todkranken Vater, als dieser der Tochter befiehlt, sich ihm abgewandt zu nähern, damit sie sein Gesicht nicht sieht. Die Tochter, berichtet der Rezensent, widersetzt sich in einer mythologischen Wendung, indem sie einen Handspiegel zuhilfe nimmt. Wenn auch in den Sechziger Jahren angesiedelt, ist "Ausgesetzt" keine Chronik dieser Epoche. So wie auch die Emanzipation der Protagonistin keine politische, sondern "eine sehr persönliche und recht einsame Angelegenheit". Mit diesem Roman, der sehr ein feines Gespür für "innere Zustände" beweist, so das wohlwollende Fazit des Rezensenten, betreibt Oates "Forschungsarbeit am eigenen, vergangenen Ich".
© Perlentaucher Medien GmbH
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