Als Nikki Eaton, Anfang dreißig, unabhängig und eigenwillig, endlich ihr schlechtes Verhältnis zu ihrer Mutter klären will, wird diese Opfer eines Raubüberfalls. Wäre Nikki zehn Minuten eher bei ihrer Mutter eingetroffen, hätte sie deren Tod vielleicht noch verhindern können. Jetzt muss sie sich mit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter Gwen auseinandersetzen. Bisher hatte sie diese pflichtschuldig an Feiertagen besucht, immer auf der Hut vor deren Einmischung in ihr Leben. Nun trifft sie der Kummer um Gwens Tod unerwartet und heftig. Engagiert und spannend beschreibt Joyce Carol Oates das Spektrum der Veränderungen und verwirrenden Gefühle in Nikkis Trauerjahr: Lähmung, Wut, Sorge und auch Erkenntnis. Mit Du fehlst hat Oates einen Pageturner geschaffen, ein großartiges Buch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2008Partymaus in der Falle
Geschichte einer Heiligenverehrung: Joyce Carol Oates lässt eine Tochter in die Rolle der ermordeten Mutter schlüpfen - kein Krimi, sondern Erbauungsliteratur.
Die Vielschreiberin Joyce Carol Oates, die jüngst ihren siebzigsten Geburtstag feierte, ist eine Tragödiendichterin des amerikanischen Traums: beschwört sie in ihren mittlerweile über vierzig veröffentlichten Romanen doch immer wieder das Bild der scheinbar perfekten Idylle, die eines Tages durch ein schweres Unglück erschüttert wird. In dem Roman "We were the Mulvanys" (1996) war es beispielsweise die Vergewaltigung der jüngsten Tochter, die eine christliche Dachdeckerfamilie in die Verzweiflung trieb. Im Jugendroman "Freaky Green Eyes" (2003) musste die fünfzehnjährige Francesca erkennen, dass ihr Vater, ein angesehener Sportreporter, in Wahrheit ein Psychomonster war. Und in "Middle Age: A Romance" (2001) führte der plötzliche Herzinfarkt-Tod eines Künstler-Bohemiens dazu, die hübsche Upper-Class-Fassade einer ganzen Wohnsiedlung nahe New York zum Einsturz zu bringen.
Joyce Carol Oates' Helden und Heldinnen wollen als gute Amerikaner das Beste aus ihrem Leben machen - und machen genau damit oft genug das Wichtigste falsch. Ein Unschuldig-Schuldigwerden unter dem Stars-and-Stripes-Banner, das auch auf Nicole zutrifft, die Ich-Erzählerin des jüngst auf Deutsch erschienenen Romans mit dem Titel "Du fehlst" ("Mom missing").
Nicole, genannt "Nikki", wirkt zunächst einmal wie ein Glückskind. Sie ist einunddreißig Jahre jung, attraktiv und begehrt als "Partygirl". Außerdem pflegt sie einen Hang zu exzentrischen Outfits und arbeitet als Reporterin einer Lokalzeitung. Lediglich ihre Liebesaffäre mit einem verheirateten Familienvater wirft einen kleinen Schatten auf Nikkis Erfolgsbiographie. Ein Makel, der auf der Muttertagsfeier ihrer Mutter Gwen prompt zur Sprache kommt. Denn Nikkis Mutter ist als wertekonservative Nur-Hausfrau von der außerehelichen Liebschaft ihrer jüngsten Tochter alles andere als begeistert. Also stellt sie Nikki auf der Feier zur Rede. Es kommt zum Streit, der in der Anklage der Tochter gipfelt: "Mutter, du bist nicht ich, und ich bin nicht du. Gott sei Dank." So weit, so harmlos ein typischer Frauengenerationskonflikt, der in Oates' Roman jedoch schnell an Brisanz gewinnt: Nur zwei Tage später findet Nikki ihre Mutter erstochen in der Garage auf.
Die früh verwitwete Gwen, die sich mit Vorliebe sozial engagierte, ist zum Opfer ihrer eigenen Gutmütigkeit geworden. Ausgerechnet ihr ehemaliger Schützling, ein drogensüchtiger Ex-Sträfling, hat sie ermordet. Dieser plötzliche Einbruch von Gewalt ist die stärkste Passage des knapp fünfhundertseitigen Romans. Für Nikki und ihre ältere Schwester Clare hebt das die Welt aus den Angeln. Doch was zunächst rasant wie ein Krimi mit tragischem Unterton beginnt, verschlappt in "Du fehlst" allzu bald zur gutgemeinten Erbauungsliteratur, bei der es Joyce Carol Oates strikt darauf anlegt, ihre Lebefrau-Heldin Nikki ethisch zu läutern. Während die Stärke früherer Romane der Autorin gerade darin bestand, dass der Verlustschmerz die Helden rasend und damit unberechenbar machte, fällt die Trauer der jungen Ich-Erzählerin diesmal brav und bürgerlich aus. Nikki kümmert sich nach der Ermordung ihrer Mutter um deren Kater, räumt mit der Schwester zusammen das Elternhaus leer, backt schon bald nicht nur ihr Brot selbst wie einst die Mutter, sondern gibt natürlich auch ihrem Hallodri-Liebhaber den Laufpass. Schließlich hatte Gwen ja schon zu Lebzeiten vorhergesagt, dass dieser "Ehebrecher" nicht der Richtige für Nikki ist.
Oates' bewährtes Tragödienschema kippt in "Du fehlst" damit schnell in eine vorhersehbare Erweckungsgeschichte um, in der die Tochter entgegen ihrer anfänglichen Ankündigung der Mutter immer ähnlicher wird. Denn Nikki, eingezogen in das Haus ihrer Eltern, trägt zunehmend sogar Kleidungsstücke der toten Mutter. Eigentlich alles Anzeichen einer Obsession, die bei anderen Autoren in einen Norman-Bates-Psychothriller münden würden. Nicht so bei Oates, die Nikkis übersteigerte Mutterverehrung in "Du fehlst" von vorneherein dadurch positiv umwertet, dass sie Gwen völlig ironiefrei zur amerikanischen Hausfrau-Heiligen stilisiert. Diese Frau, so entdeckt die Tochter, hatte zwar ihre Geheimnisse (früher Selbstmord der Mutter, eine unglückliche Jugendliebe, eine Fehlgeburt). Es sind dies aber alles solche Geheimnisse, die Gwens Glorienschein nur noch weiter aufpolieren: Stets ist sie optimistisch und gestärkt aus den Krisen hervorgegangen. Spätestens, als die Stimme der Mutter schließlich aus dem Jenseits der Tochter zu guten Taten rät, hat der Roman endgültig das schwere Gewässer tragischer Schuld verlassen und ist ins Seichte der kitschigen Bekehrungs-Schmonzette abgedriftet.
GISA FUNCK.
Joyce Carol Oates: "Du fehlst". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 489 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichte einer Heiligenverehrung: Joyce Carol Oates lässt eine Tochter in die Rolle der ermordeten Mutter schlüpfen - kein Krimi, sondern Erbauungsliteratur.
Die Vielschreiberin Joyce Carol Oates, die jüngst ihren siebzigsten Geburtstag feierte, ist eine Tragödiendichterin des amerikanischen Traums: beschwört sie in ihren mittlerweile über vierzig veröffentlichten Romanen doch immer wieder das Bild der scheinbar perfekten Idylle, die eines Tages durch ein schweres Unglück erschüttert wird. In dem Roman "We were the Mulvanys" (1996) war es beispielsweise die Vergewaltigung der jüngsten Tochter, die eine christliche Dachdeckerfamilie in die Verzweiflung trieb. Im Jugendroman "Freaky Green Eyes" (2003) musste die fünfzehnjährige Francesca erkennen, dass ihr Vater, ein angesehener Sportreporter, in Wahrheit ein Psychomonster war. Und in "Middle Age: A Romance" (2001) führte der plötzliche Herzinfarkt-Tod eines Künstler-Bohemiens dazu, die hübsche Upper-Class-Fassade einer ganzen Wohnsiedlung nahe New York zum Einsturz zu bringen.
Joyce Carol Oates' Helden und Heldinnen wollen als gute Amerikaner das Beste aus ihrem Leben machen - und machen genau damit oft genug das Wichtigste falsch. Ein Unschuldig-Schuldigwerden unter dem Stars-and-Stripes-Banner, das auch auf Nicole zutrifft, die Ich-Erzählerin des jüngst auf Deutsch erschienenen Romans mit dem Titel "Du fehlst" ("Mom missing").
Nicole, genannt "Nikki", wirkt zunächst einmal wie ein Glückskind. Sie ist einunddreißig Jahre jung, attraktiv und begehrt als "Partygirl". Außerdem pflegt sie einen Hang zu exzentrischen Outfits und arbeitet als Reporterin einer Lokalzeitung. Lediglich ihre Liebesaffäre mit einem verheirateten Familienvater wirft einen kleinen Schatten auf Nikkis Erfolgsbiographie. Ein Makel, der auf der Muttertagsfeier ihrer Mutter Gwen prompt zur Sprache kommt. Denn Nikkis Mutter ist als wertekonservative Nur-Hausfrau von der außerehelichen Liebschaft ihrer jüngsten Tochter alles andere als begeistert. Also stellt sie Nikki auf der Feier zur Rede. Es kommt zum Streit, der in der Anklage der Tochter gipfelt: "Mutter, du bist nicht ich, und ich bin nicht du. Gott sei Dank." So weit, so harmlos ein typischer Frauengenerationskonflikt, der in Oates' Roman jedoch schnell an Brisanz gewinnt: Nur zwei Tage später findet Nikki ihre Mutter erstochen in der Garage auf.
Die früh verwitwete Gwen, die sich mit Vorliebe sozial engagierte, ist zum Opfer ihrer eigenen Gutmütigkeit geworden. Ausgerechnet ihr ehemaliger Schützling, ein drogensüchtiger Ex-Sträfling, hat sie ermordet. Dieser plötzliche Einbruch von Gewalt ist die stärkste Passage des knapp fünfhundertseitigen Romans. Für Nikki und ihre ältere Schwester Clare hebt das die Welt aus den Angeln. Doch was zunächst rasant wie ein Krimi mit tragischem Unterton beginnt, verschlappt in "Du fehlst" allzu bald zur gutgemeinten Erbauungsliteratur, bei der es Joyce Carol Oates strikt darauf anlegt, ihre Lebefrau-Heldin Nikki ethisch zu läutern. Während die Stärke früherer Romane der Autorin gerade darin bestand, dass der Verlustschmerz die Helden rasend und damit unberechenbar machte, fällt die Trauer der jungen Ich-Erzählerin diesmal brav und bürgerlich aus. Nikki kümmert sich nach der Ermordung ihrer Mutter um deren Kater, räumt mit der Schwester zusammen das Elternhaus leer, backt schon bald nicht nur ihr Brot selbst wie einst die Mutter, sondern gibt natürlich auch ihrem Hallodri-Liebhaber den Laufpass. Schließlich hatte Gwen ja schon zu Lebzeiten vorhergesagt, dass dieser "Ehebrecher" nicht der Richtige für Nikki ist.
Oates' bewährtes Tragödienschema kippt in "Du fehlst" damit schnell in eine vorhersehbare Erweckungsgeschichte um, in der die Tochter entgegen ihrer anfänglichen Ankündigung der Mutter immer ähnlicher wird. Denn Nikki, eingezogen in das Haus ihrer Eltern, trägt zunehmend sogar Kleidungsstücke der toten Mutter. Eigentlich alles Anzeichen einer Obsession, die bei anderen Autoren in einen Norman-Bates-Psychothriller münden würden. Nicht so bei Oates, die Nikkis übersteigerte Mutterverehrung in "Du fehlst" von vorneherein dadurch positiv umwertet, dass sie Gwen völlig ironiefrei zur amerikanischen Hausfrau-Heiligen stilisiert. Diese Frau, so entdeckt die Tochter, hatte zwar ihre Geheimnisse (früher Selbstmord der Mutter, eine unglückliche Jugendliebe, eine Fehlgeburt). Es sind dies aber alles solche Geheimnisse, die Gwens Glorienschein nur noch weiter aufpolieren: Stets ist sie optimistisch und gestärkt aus den Krisen hervorgegangen. Spätestens, als die Stimme der Mutter schließlich aus dem Jenseits der Tochter zu guten Taten rät, hat der Roman endgültig das schwere Gewässer tragischer Schuld verlassen und ist ins Seichte der kitschigen Bekehrungs-Schmonzette abgedriftet.
GISA FUNCK.
Joyce Carol Oates: "Du fehlst". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 489 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Gisa Funck erleidet das "bewährte Tragödienschema", das so viele Romane von Joyce Carol Oates trägt, in ihrem jüngsten Buch Schiffbruch und entwickelt sich in den Augen der wenig begeisterten Rezensenten gar zur Schmonzette. Die amerikanische Autorin, die vor kurzem siebzig geworden ist und die mittlerweile über vierzig Romane veröffentlicht hat, erzählt in diesem Buch von der erfolgreichen, mit einem verheirateten Mann verbandelten Lebefrau Nikki, deren Mutter ermordet wird. Im Verlauf der Trauerarbeit erscheint das Bild der Mutter - "gänzlich ironiefrei", wie Funck feststellen muss - immer glorioser und dient schließlich gar zur sittliche Läuterung der trauernden Tochter. So wird eine Geschichte, die durch den gewaltsamen Tod der Mutter durchaus mit der Rasanz eines Kriminalromans begann, zur "gutgemeinten Erbauungsliteratur", in der Nikki auf die bürgerlichen Tugenden einer amerikanischen Über-Hausfrau eingeschworen wird, wenn es sein muss auch mit Ratschlägen aus dem Jenseits, so die Rezensenten mit Grausen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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