Miriam Toews unnachahmlicher Witz zeichnet auch ihren neuen Roman aus, in dem die eigenwilligen Bewohner einer kanadischen Kleinstadt ihrem Bürgermeister das Leben zur Hölle machen - schlicht indem sie leben, sterben und sich vermehren, denn das passt nicht in seine ehrgeizigen Pläne.
1500 Einwohner hat Algren und genau so muss es auch bleiben. Ein Einwohner weniger und Algren wäre keine Stadt mehr, ein Einwohner mehr und es wäre womöglich nicht mehr die kleinste. Denn Premierminister John Baert wird am 1. Juli, dem kanadischen Nationalfeiertag, der kleinsten Stadt Kanadas einen Besuch abstatten, und Algrens Bürgermeister Hosea Funk ersehnt insgeheim nichts so sehr wie diesen Besuch - hat seine Mutter ihm doch auf dem Sterbebett anvertraut, John Baert sei sein Vater. Wie aber soll man die Einwohnerzahl halten, wenn die Geburt von Drillingen droht, Knute und ihre Tochter Summer Feelin' in den Schoß der Familie zurückkehren, der lang verschollene Max plötzlich wiederauftaucht und Hoseas Sweetheart Lorna Garden beschließt, zu ihm nach Algren zu ziehen? Komisch und anrührend schildert Miriam Toews, wie Hosea sich mit allen Mitteln der steigenden Einwohnerzahl zu erwehren sucht (inklusive Verschiebung der Stadtgrenzen). Er rechnet, überschlägt, stellt neue Berechnungen an, und als dann der 95-jährige Leander Hamm schwer gezeichnet ins Krankenhaus eingeliefert wird, wird Hoseas Nächstenliebe auf eine harte Probe gestellt.
1500 Einwohner hat Algren und genau so muss es auch bleiben. Ein Einwohner weniger und Algren wäre keine Stadt mehr, ein Einwohner mehr und es wäre womöglich nicht mehr die kleinste. Denn Premierminister John Baert wird am 1. Juli, dem kanadischen Nationalfeiertag, der kleinsten Stadt Kanadas einen Besuch abstatten, und Algrens Bürgermeister Hosea Funk ersehnt insgeheim nichts so sehr wie diesen Besuch - hat seine Mutter ihm doch auf dem Sterbebett anvertraut, John Baert sei sein Vater. Wie aber soll man die Einwohnerzahl halten, wenn die Geburt von Drillingen droht, Knute und ihre Tochter Summer Feelin' in den Schoß der Familie zurückkehren, der lang verschollene Max plötzlich wiederauftaucht und Hoseas Sweetheart Lorna Garden beschließt, zu ihm nach Algren zu ziehen? Komisch und anrührend schildert Miriam Toews, wie Hosea sich mit allen Mitteln der steigenden Einwohnerzahl zu erwehren sucht (inklusive Verschiebung der Stadtgrenzen). Er rechnet, überschlägt, stellt neue Berechnungen an, und als dann der 95-jährige Leander Hamm schwer gezeichnet ins Krankenhaus eingeliefert wird, wird Hoseas Nächstenliebe auf eine harte Probe gestellt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Höchst erfreut zeigt sich Rezensent Reinhard Helling über Miriam Toews' zweiten Roman "Kleinstadtknatsch" von 1998, der nun in einer ausgezeichneten deutschen Übersetzung vorliegt. Das Werk scheint ihm eine echte Bereicherung für die kanadische Nationalliteratur. Im Mittelpunkt des Romans stehen seiner Darstellung zufolge eine Kleinstadt und ihre schrulligen Bewohner. Das Besondere daran: es ist die kleinste Kleinstadt Kanadas. Ein Einwohner weniger und sie wäre ein Dorf, einer mehr und sie wäre nur noch eine Kleinstadt von vielen. Dieser Besonderheit verdankt sich die Ankündigung des Premierministers zum Besuch am Nationalfeiertag, was den Bürgermeister der Stadt gehörig unter Druck setzt, will er doch die Einwohnerzahl bis dahin konstant halten, weswegen er penibel Buch führt über alle Geburten und Todesfälle. Helling hat bei der Lektüre oft herzlich lachen können. Gleichwohl stimmt ihn die "lustig-traurige" Geschichte aus der kanadischen Provinz immer wieder melancholisch. Er bescheinigt der Autorin, eine Reihe von Figuren geschaffen zu haben, denen man mit großer Anteilnahme folgt. Die auftretenden Personen sind in Hellings Augen vor allem Träumer, "denen auf der Leiter zum Glück nur ein paar Stufen fehlen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.05.2008Die Rechnung geht auf
Miriam Toews grotesker „Kleinstadtknatsch” in Kanada
Dies ist eines der Bücher, die man in einem Rutsch liest, schmunzelnd über die komischen Leute, die darin vorkommen, und die komischen Situationen, in die sie geraten. Auch wenn man sich sicher ist, dass alles gut ausgehen wird, hält einen Autorin Miriam Toews doch bei der Stange. Die Spannung liegt in der absurden Arithmetik, von der die Handlung und ihre Personen bestimmt werden.
Der Originaltitel „A Man of Good Breeding” mag zwar langweiliger sein als der deutsche „Kleinstadtknatsch”, aber es dreht sich doch in diesem Roman alles um den Bürgermeister Hosea Funk und seinen Ehrgeiz, den Ehrentitel „kleinste Stadt Kanadas” für sein Städtchen Algren zu erringen. Daran hängt nicht nur seine Bürgermeisterehre, sondern seine Identität. Denn es heißt, der Vater des unehelich, unter höchst dramatischen Umständen in einem Schuppen Geborenen sei der kanadische Premierminister John Beart, der Garant für good breeding – die noble Abstammung. Und der wartet üblicherweise am Nationalfeiertag am 1. Juli jedes Jahr mit seinem Besuch in der kleinsten Stadt seines Landes auf.
Um den Titel zu erringen, muss Algren exakt 1500 Einwohner haben. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist nicht nur für Hosea Funk, sondern auch für den Leser eine ununterbrochene Zitterpartie. Jeder Zuzug in Algren, jeder Todesfall, jede Geburt, zumal, wenn es sich um Drillinge handelt, bringt das delikate Gleichgewicht ins Wanken. Hoseas Liebste Lorna Garden wird auf eine harte Geduldsprobe gestellt und schließlich eingeweiht, warum sie erst nach besagtem 1. Juli zu ihm ziehen darf. Max, der Kindsvater von Knutes Tochter Summer Feelin, hat keine Ahnung, was seine Wiederkunft über die familiären Verwerfungen und Versöhnungen hinaus auslöst. Während Johnny Dranger, der Feuerwehrmann, kaum begreift, weshalb sein Hof am Rande der Stadt mal ein- und dann wieder ausgemeindet wird.
Miriam Toews, selbst in Kanada in einer Mennonitengemeinde geboren, kennt die Schrullen und Marotten der Menschen in der Provinz. Sie leben keineswegs unberührt von den Problemen unserer Zeit, von der Arbeitslosigkeit, von Beziehungsproblemen oder den Misslichkeiten, die ein rigider Moralkodex mit sich bringt, wie ihn Hoseas Mutter noch verinnerlicht hat. Es ist nicht bös gemeint, wenn man die Bürger von Algren und den ganz normalen Wahnsinn ihres Alltags liebenswert nennt. So etwas liest jeder zwischendurch richtig gern. Denn im Grotesken verbirgt sich schöne Lebensklugheit. EVA-ELISABETH FISCHER
MIRIAM TOEWS: Kleinstadtknatsch. Roman. Aus dem Englischen von Christine Buchner. Berlin Verlag, Berlin 2007. 269 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Miriam Toews grotesker „Kleinstadtknatsch” in Kanada
Dies ist eines der Bücher, die man in einem Rutsch liest, schmunzelnd über die komischen Leute, die darin vorkommen, und die komischen Situationen, in die sie geraten. Auch wenn man sich sicher ist, dass alles gut ausgehen wird, hält einen Autorin Miriam Toews doch bei der Stange. Die Spannung liegt in der absurden Arithmetik, von der die Handlung und ihre Personen bestimmt werden.
Der Originaltitel „A Man of Good Breeding” mag zwar langweiliger sein als der deutsche „Kleinstadtknatsch”, aber es dreht sich doch in diesem Roman alles um den Bürgermeister Hosea Funk und seinen Ehrgeiz, den Ehrentitel „kleinste Stadt Kanadas” für sein Städtchen Algren zu erringen. Daran hängt nicht nur seine Bürgermeisterehre, sondern seine Identität. Denn es heißt, der Vater des unehelich, unter höchst dramatischen Umständen in einem Schuppen Geborenen sei der kanadische Premierminister John Beart, der Garant für good breeding – die noble Abstammung. Und der wartet üblicherweise am Nationalfeiertag am 1. Juli jedes Jahr mit seinem Besuch in der kleinsten Stadt seines Landes auf.
Um den Titel zu erringen, muss Algren exakt 1500 Einwohner haben. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist nicht nur für Hosea Funk, sondern auch für den Leser eine ununterbrochene Zitterpartie. Jeder Zuzug in Algren, jeder Todesfall, jede Geburt, zumal, wenn es sich um Drillinge handelt, bringt das delikate Gleichgewicht ins Wanken. Hoseas Liebste Lorna Garden wird auf eine harte Geduldsprobe gestellt und schließlich eingeweiht, warum sie erst nach besagtem 1. Juli zu ihm ziehen darf. Max, der Kindsvater von Knutes Tochter Summer Feelin, hat keine Ahnung, was seine Wiederkunft über die familiären Verwerfungen und Versöhnungen hinaus auslöst. Während Johnny Dranger, der Feuerwehrmann, kaum begreift, weshalb sein Hof am Rande der Stadt mal ein- und dann wieder ausgemeindet wird.
Miriam Toews, selbst in Kanada in einer Mennonitengemeinde geboren, kennt die Schrullen und Marotten der Menschen in der Provinz. Sie leben keineswegs unberührt von den Problemen unserer Zeit, von der Arbeitslosigkeit, von Beziehungsproblemen oder den Misslichkeiten, die ein rigider Moralkodex mit sich bringt, wie ihn Hoseas Mutter noch verinnerlicht hat. Es ist nicht bös gemeint, wenn man die Bürger von Algren und den ganz normalen Wahnsinn ihres Alltags liebenswert nennt. So etwas liest jeder zwischendurch richtig gern. Denn im Grotesken verbirgt sich schöne Lebensklugheit. EVA-ELISABETH FISCHER
MIRIAM TOEWS: Kleinstadtknatsch. Roman. Aus dem Englischen von Christine Buchner. Berlin Verlag, Berlin 2007. 269 Seiten, 18 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2007Der Bürgermeister ist nervös
Ihre Figuren heißen Summer Feelin und Mähdrescher-Sue: Miriam Toews' traurig-lustige Geschichte aus der Provinz wertet die kanadische Nationalliteratur beachtlich auf.
Das neue Jahrtausend fing nicht gut an für die kanadische Literatur. Innnerhalb von achtundzwanzig Monaten starben der Modernist Louis Dudek, der jüdische Polemiker Mordecai Richler, das Nationaldenkmal Timothy Findley und Carol Shields, die Stimme der Hausfrauen. Glücklicherweise machten in ebendiesen Jahren einige Autoren auf sich aufmerksam, die den nun neuen Alten - allen voran Alice Munro, aber auch Margaret Atwood - in ihrer Rolle als literarische Botschafter des Landes mit dem Ahornblatt in der Flagge eines Tages folgen könnten, darunter auch "internationale Bastarde" wie David Bezmozgis aus Lettland, Joe Fiorito aus Italien, Rohinton Mistry aus Indien und Miriam Toews aus Manitoba.
Aber Manitoba ist doch eine der zehn kanadischen Provinzen, wieso ist Toews dann ein "Bastard"? Weil sie mit dem zweitgrößten Land der Welt erst nach der Schule wirklich in Berührung kam. Sie wuchs nämlich in der Mennonitengemeinde Steinbach auf. "Meines Wissens ist das die peinlichste religiöse Untergruppierung von Menschen, zu der man als Teenager gehören kann." Mit diesen klaren Worten hatte die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Nomi Nickel in Toews' autobiografischem Roman "Ein komplizierter Akt der Liebe" (F.A.Z. vom 1. Dezember 2005), für den die verheiratete Mutter von zwei Kindern den begehrten Governor General's Literary Award bekam, ihre Herkunft beschrieben. "A Complicated Kindness" (2004), so der Originaltitel, war das vierte Buch der 1964 geborenen Autorin. Nun hat der Berlin Verlag, dessen ehemaliger Chef Arnulf Conradi schon als Lektor bei Claassen und S. Fischer einige Kanadier für uns entdeckt hat, Toews' zweiten Roman nachgereicht: "A Boy of Good Breeding" (1998) trägt in der tadellosen Übersetzung von Christiane Buchner den schönen und sehr passenden Titel "Kleinstadtknatsch".
Wir schreiben das Jahr 1996. Algren ist mit seinen 1500 Einwohnern Kanadas kleinste Stadt - einer weniger, und Algren wäre ein Dorf. Einer mehr, und Algren wäre eine Kleinstadt unter vielen. Die Stadt ist also etwas ganz Besonderes. Zum Canada Day, dem Nationalfeiertag am 1. Juli, will sogar der Premierminister anreisen. Diese Aussicht setzt Bürgermeister Hosea Funk ziemlich unter Druck, denn Menschen kann man ja nicht wie Briefmarken ins Album einsortieren und dort in aller Ruhe betrachten. Sie haben die für einen Bürgermeister in Erwartung des Premiers unangenehme Eigenschaft, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen gefällt.
Die Dramatik des Geschehens in diesem zeitlich und räumlich sehr konzentrierten Roman ist auf die bange Frage aufgebaut, ob Funk es schafft, die Zahl seiner Schäfchen bis zu dem entscheidenden Tag konstant zu halten. Eine Grundspannung ist schon mal garantiert. Da kehrt im März die alleinerziehende Knute McCloud mit ihrer vierjährigen Tochter Summer Feelin aus der Provinzhauptstadt Winnipeg nach Algren zurück. Sie will sich um ihren Vater kümmern, der nach einem Herzinfarkt in eine "depressive Apathie" gefallen ist und sein Bett nicht mehr verlässt. Wenig später taucht auch noch Max auf, Summer Feelins Vater, der sich "als Leonard Cohen im schwarzen Mantel" durch Europa geschleppt hatte und nun sesshaft werden will. Das sind schon mal drei Menschen über Soll. Ebenso penibel wie missmutig trägt Funk die Neuzugänge in sein orangefarbenes Schulheft ein und schielt hoffnungsvoll auf die Spalte, in der er mögliche Abgänge notiert hat.
Bei so viel Chuzpe wundert es nicht, dass Funk, bei dem die vierundzwanzigjährige Knute inzwischen als Beauftragte für die Verschönerung der Stadt engagiert ist, regelmäßig das Charlie Orson Memorial Hospital aufsucht, um sich über mögliche Neu-Algrener zu informieren. Kürzlich etwa wurde Mrs. Epp mit sehr dickem Bauch eingeliefert, in dem wahrscheinlich Zwillinge stecken. Funk rechnet lieber gleich mit Drillingen. Dafür liegt ein paar Zimmer weiter der alte Leander Hamm im Sterben - ein kleiner Trost für den Bürgermeister.
Funk meint es nicht böse, und er wünscht wirklich keinem den Tod, aber irgendwie möchte er einfach sehr gern den Premier in Kanadas kleinster Stadt empfangen. So erklärt sich sein geringes Mitgefühl. Beruhigend ist für Funk die Tatsache, dass der einzige Arzt François ein Frankokanadier mit Sehnsucht nach Montreal ist - ein möglicher Abwanderer. Und dann hat Funk auch noch einen Joker: Johnny Dranger, einen Farmer, der etwas außerhalb wohnt und sich schon daran gewöhnt hat, dass er je nach Bedarf aus- oder eingemeindet wird. "Bin ich wieder mal draußen?", fragt Dranger routiniert, sobald Funk bei ihm auftaucht.
Wer beim Lesen gern Musik hört, sollte zu Emmylou Harris greifen, deren Lieder gewissermaßen den Soundtrack zu "Kleinstadtknatsch" liefern. Immer, wenn Funk auf den Besuch seiner glücklicherweise außerhalb von Algren wohnenden Freundin Lorna Garden wartet, schiebt er eine Kassette der Countrysängerin in den Recorder. So in Stimmung gebracht, bringt er eines Nachts allerdings seine Rechnung selbst durcheinander, als er mit Lorna ein Kind zeugt.
Seltsamerweise gibt es bei diesem Roman, der keineswegs nur komisch ist, einiges zu lachen, und obwohl er nicht trübselig ist, ruft die Lektüre eine gewisse Melancholie hervor. Man begleitet Funks Schrullen mit der gleichen Anteilnahme, die man auch den anderen Figuren mit ihren jeweiligen Handicaps entgegenbringt - sei es Mähdrescher-Sue, die stets alkoholisierte Mutter von Max, oder Knutes Mutter Dory, der beim permanenten Renovieren des Hauses jede Menge tragische Geschichten einfallen. Oder Summer Feelin, die jedes Mal wie wild mit den Armen flattert, wenn sie sich freut. Jeweils auf ihre Art sind die auftretenden Personen Träumer, denen auf der Leiter zum Glück nur ein paar Stufen fehlen.
Die fehlten auch der Autorin in ihrer entsagungsvollen Kindheit. Nur einmal war sie im Kino. Später, als sie die Mennoniten verlassen konnte, studierte Toews alles Mögliche und machte je einen B.A. in Journalismus und Filmwissenschaft. Und auf beiden Feldern ist sie heute tätig. Es könnte also noch etwas dauern, bis sie einen neuen Roman fertig hat - für den Berlin Verlag eine gute Gelegenheit, auch ihr Debüt "Summer of My Amazing Luck" (1996) sowie "Swing Low: A Life" (2000) übersetzen zu lassen, die Erinnerung an ihren von Jugend an depressiven Vater, der 1998 durch Freitod aus dem Leben schied.
Toews schafft es, selbst bei diesem dunklen Thema den Humor nicht zu kurz kommen zu lassen. Eine seltene Gabe, die ihr Landsmann Mordecai Richler Zeit seines Lebens voll ausgeschöpft hat. Literarische Stimmen wie die von Toews versöhnen - zumal aus dem zeitlichen Abstand heraus - mit dem Abgang der vier großen Erzähler. Nicht armes Kanada, muss man denken, sondern reiches Kanada.
REINHARD HELLING
Miriam Toews: "Kleinstadtknatsch". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christiane Buchner. Berlin Verlag, Berlin 2007. 270 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ihre Figuren heißen Summer Feelin und Mähdrescher-Sue: Miriam Toews' traurig-lustige Geschichte aus der Provinz wertet die kanadische Nationalliteratur beachtlich auf.
Das neue Jahrtausend fing nicht gut an für die kanadische Literatur. Innnerhalb von achtundzwanzig Monaten starben der Modernist Louis Dudek, der jüdische Polemiker Mordecai Richler, das Nationaldenkmal Timothy Findley und Carol Shields, die Stimme der Hausfrauen. Glücklicherweise machten in ebendiesen Jahren einige Autoren auf sich aufmerksam, die den nun neuen Alten - allen voran Alice Munro, aber auch Margaret Atwood - in ihrer Rolle als literarische Botschafter des Landes mit dem Ahornblatt in der Flagge eines Tages folgen könnten, darunter auch "internationale Bastarde" wie David Bezmozgis aus Lettland, Joe Fiorito aus Italien, Rohinton Mistry aus Indien und Miriam Toews aus Manitoba.
Aber Manitoba ist doch eine der zehn kanadischen Provinzen, wieso ist Toews dann ein "Bastard"? Weil sie mit dem zweitgrößten Land der Welt erst nach der Schule wirklich in Berührung kam. Sie wuchs nämlich in der Mennonitengemeinde Steinbach auf. "Meines Wissens ist das die peinlichste religiöse Untergruppierung von Menschen, zu der man als Teenager gehören kann." Mit diesen klaren Worten hatte die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Nomi Nickel in Toews' autobiografischem Roman "Ein komplizierter Akt der Liebe" (F.A.Z. vom 1. Dezember 2005), für den die verheiratete Mutter von zwei Kindern den begehrten Governor General's Literary Award bekam, ihre Herkunft beschrieben. "A Complicated Kindness" (2004), so der Originaltitel, war das vierte Buch der 1964 geborenen Autorin. Nun hat der Berlin Verlag, dessen ehemaliger Chef Arnulf Conradi schon als Lektor bei Claassen und S. Fischer einige Kanadier für uns entdeckt hat, Toews' zweiten Roman nachgereicht: "A Boy of Good Breeding" (1998) trägt in der tadellosen Übersetzung von Christiane Buchner den schönen und sehr passenden Titel "Kleinstadtknatsch".
Wir schreiben das Jahr 1996. Algren ist mit seinen 1500 Einwohnern Kanadas kleinste Stadt - einer weniger, und Algren wäre ein Dorf. Einer mehr, und Algren wäre eine Kleinstadt unter vielen. Die Stadt ist also etwas ganz Besonderes. Zum Canada Day, dem Nationalfeiertag am 1. Juli, will sogar der Premierminister anreisen. Diese Aussicht setzt Bürgermeister Hosea Funk ziemlich unter Druck, denn Menschen kann man ja nicht wie Briefmarken ins Album einsortieren und dort in aller Ruhe betrachten. Sie haben die für einen Bürgermeister in Erwartung des Premiers unangenehme Eigenschaft, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen gefällt.
Die Dramatik des Geschehens in diesem zeitlich und räumlich sehr konzentrierten Roman ist auf die bange Frage aufgebaut, ob Funk es schafft, die Zahl seiner Schäfchen bis zu dem entscheidenden Tag konstant zu halten. Eine Grundspannung ist schon mal garantiert. Da kehrt im März die alleinerziehende Knute McCloud mit ihrer vierjährigen Tochter Summer Feelin aus der Provinzhauptstadt Winnipeg nach Algren zurück. Sie will sich um ihren Vater kümmern, der nach einem Herzinfarkt in eine "depressive Apathie" gefallen ist und sein Bett nicht mehr verlässt. Wenig später taucht auch noch Max auf, Summer Feelins Vater, der sich "als Leonard Cohen im schwarzen Mantel" durch Europa geschleppt hatte und nun sesshaft werden will. Das sind schon mal drei Menschen über Soll. Ebenso penibel wie missmutig trägt Funk die Neuzugänge in sein orangefarbenes Schulheft ein und schielt hoffnungsvoll auf die Spalte, in der er mögliche Abgänge notiert hat.
Bei so viel Chuzpe wundert es nicht, dass Funk, bei dem die vierundzwanzigjährige Knute inzwischen als Beauftragte für die Verschönerung der Stadt engagiert ist, regelmäßig das Charlie Orson Memorial Hospital aufsucht, um sich über mögliche Neu-Algrener zu informieren. Kürzlich etwa wurde Mrs. Epp mit sehr dickem Bauch eingeliefert, in dem wahrscheinlich Zwillinge stecken. Funk rechnet lieber gleich mit Drillingen. Dafür liegt ein paar Zimmer weiter der alte Leander Hamm im Sterben - ein kleiner Trost für den Bürgermeister.
Funk meint es nicht böse, und er wünscht wirklich keinem den Tod, aber irgendwie möchte er einfach sehr gern den Premier in Kanadas kleinster Stadt empfangen. So erklärt sich sein geringes Mitgefühl. Beruhigend ist für Funk die Tatsache, dass der einzige Arzt François ein Frankokanadier mit Sehnsucht nach Montreal ist - ein möglicher Abwanderer. Und dann hat Funk auch noch einen Joker: Johnny Dranger, einen Farmer, der etwas außerhalb wohnt und sich schon daran gewöhnt hat, dass er je nach Bedarf aus- oder eingemeindet wird. "Bin ich wieder mal draußen?", fragt Dranger routiniert, sobald Funk bei ihm auftaucht.
Wer beim Lesen gern Musik hört, sollte zu Emmylou Harris greifen, deren Lieder gewissermaßen den Soundtrack zu "Kleinstadtknatsch" liefern. Immer, wenn Funk auf den Besuch seiner glücklicherweise außerhalb von Algren wohnenden Freundin Lorna Garden wartet, schiebt er eine Kassette der Countrysängerin in den Recorder. So in Stimmung gebracht, bringt er eines Nachts allerdings seine Rechnung selbst durcheinander, als er mit Lorna ein Kind zeugt.
Seltsamerweise gibt es bei diesem Roman, der keineswegs nur komisch ist, einiges zu lachen, und obwohl er nicht trübselig ist, ruft die Lektüre eine gewisse Melancholie hervor. Man begleitet Funks Schrullen mit der gleichen Anteilnahme, die man auch den anderen Figuren mit ihren jeweiligen Handicaps entgegenbringt - sei es Mähdrescher-Sue, die stets alkoholisierte Mutter von Max, oder Knutes Mutter Dory, der beim permanenten Renovieren des Hauses jede Menge tragische Geschichten einfallen. Oder Summer Feelin, die jedes Mal wie wild mit den Armen flattert, wenn sie sich freut. Jeweils auf ihre Art sind die auftretenden Personen Träumer, denen auf der Leiter zum Glück nur ein paar Stufen fehlen.
Die fehlten auch der Autorin in ihrer entsagungsvollen Kindheit. Nur einmal war sie im Kino. Später, als sie die Mennoniten verlassen konnte, studierte Toews alles Mögliche und machte je einen B.A. in Journalismus und Filmwissenschaft. Und auf beiden Feldern ist sie heute tätig. Es könnte also noch etwas dauern, bis sie einen neuen Roman fertig hat - für den Berlin Verlag eine gute Gelegenheit, auch ihr Debüt "Summer of My Amazing Luck" (1996) sowie "Swing Low: A Life" (2000) übersetzen zu lassen, die Erinnerung an ihren von Jugend an depressiven Vater, der 1998 durch Freitod aus dem Leben schied.
Toews schafft es, selbst bei diesem dunklen Thema den Humor nicht zu kurz kommen zu lassen. Eine seltene Gabe, die ihr Landsmann Mordecai Richler Zeit seines Lebens voll ausgeschöpft hat. Literarische Stimmen wie die von Toews versöhnen - zumal aus dem zeitlichen Abstand heraus - mit dem Abgang der vier großen Erzähler. Nicht armes Kanada, muss man denken, sondern reiches Kanada.
REINHARD HELLING
Miriam Toews: "Kleinstadtknatsch". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christiane Buchner. Berlin Verlag, Berlin 2007. 270 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ihr hinreißend rotziges Buch könnte eine Ersatz-Bibel für alle Teenies werden, die an einem klaustrophobischen Ort erwachsen werden müssen."(Brigitte über"Ein komplizierter Akt der Liebe")