Miriam Toews neuer Roman ist ein fulminanter literarischer Roadtrip: Mit Nichte und Neffe im Schlepptau brettert die 28-jährige Hattie über die Route 66, im verzweifelten Versuch, den Vater der Kinder zu finden, eine Suche, eine Flucht, ein Roman so anrührend und so komisch, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll.
Als Hattie den Anruf erhält, ist klar, dass sie ihr ungezwungenes Leben in Paris aufgeben muss. Statt Touristen an der Seine zu porträtieren und ihren Freund Mark anzuhimmeln, kehrt sie zurück nach Kanada, um sich um die Kinder ihrer Schwester zu kümmern. Min muss schwer depressiv in eine Klinik eingeliefert werden, und Hattie soll Ersatzmutter für die 11-jährige Thebes und den 15-jährigen Logan spielen. Nicht nur dass sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt, es geht auch wirklich alles schief. Logan fliegt wegen Kontakt zu Gangmitgliedern von der Schule, Thebes färbt sich die Haare lila, kommuniziert nur noch in Hiphopslang und wird beim Klauen erwischt. Hattie entscheidet schnell, dass sie sich aus dem Staub machen und den verschollenen Vater der beiden suchen werden. Auf diesem anarchischen Roadtrip übernachten sie in schäbigen Motels, begegnen kuriosen Typen, geraten in eine Schlägerei, vor allem aber beginnen sie zu reden, wirklich miteinander zu reden, einander Geschichten zu erzählen, und wachsen so, während der Wagen Kilometer um Kilometer frisst, zu einer schrulligen kleinen Patchworkfamilie zusammen. Miriam Toews gelingt es auf unvergleichliche Weise, die Balance zwischen Komödie und Tragödie zu halten, zwischen Slapstick und Rührstück, und somit eine wunderbar komische, tieftraurige Geschichte zu erzählen. Das würdige literarische Pendant zu Little Miss Sunshine.
Als Hattie den Anruf erhält, ist klar, dass sie ihr ungezwungenes Leben in Paris aufgeben muss. Statt Touristen an der Seine zu porträtieren und ihren Freund Mark anzuhimmeln, kehrt sie zurück nach Kanada, um sich um die Kinder ihrer Schwester zu kümmern. Min muss schwer depressiv in eine Klinik eingeliefert werden, und Hattie soll Ersatzmutter für die 11-jährige Thebes und den 15-jährigen Logan spielen. Nicht nur dass sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt, es geht auch wirklich alles schief. Logan fliegt wegen Kontakt zu Gangmitgliedern von der Schule, Thebes färbt sich die Haare lila, kommuniziert nur noch in Hiphopslang und wird beim Klauen erwischt. Hattie entscheidet schnell, dass sie sich aus dem Staub machen und den verschollenen Vater der beiden suchen werden. Auf diesem anarchischen Roadtrip übernachten sie in schäbigen Motels, begegnen kuriosen Typen, geraten in eine Schlägerei, vor allem aber beginnen sie zu reden, wirklich miteinander zu reden, einander Geschichten zu erzählen, und wachsen so, während der Wagen Kilometer um Kilometer frisst, zu einer schrulligen kleinen Patchworkfamilie zusammen. Miriam Toews gelingt es auf unvergleichliche Weise, die Balance zwischen Komödie und Tragödie zu halten, zwischen Slapstick und Rührstück, und somit eine wunderbar komische, tieftraurige Geschichte zu erzählen. Das würdige literarische Pendant zu Little Miss Sunshine.
"Literarische Stimmen wie die von Toews erfüllen die Tradition der großen kanadischen Erzähler mit neuem Leben." (Reinhard Helling, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.02.2009Gemeinsam ist nur das Unglück
Kanadische Road Novel: Miriam Toews sucht auf der Route 66 nicht das Abenteuer, sondern nur das Überlebensnotwendige
Normale Familien kommen bei Miriam Toews nicht vor. Das ist bei ihrer Kindheit kein Wunder. In den Büchern der kanadischen Autorin treten meist vom Glück verlassene Einzelgänger auf, deren familiäres Band nach diversen Belastungsproben brüchig geworden ist. Das zeigte sich schon in ihrem Buch "Ein komplizierter Akt der Liebe", das 2005 auf Deutsch erschien, einer autobiographischen Aufarbeitung ihrer freudlosen Kindheit in einer Mennoniten-Gemeinde in Manitoba, mit der uns die Autorin hierzulande erstmals vorgestellt wurde. Darin muss die Ich-Erzählerin Nomi Nickel mitansehen, wie ihre Schwester und Mutter das Weite suchen, während ihr Vater Ray die strengen Regeln der Glaubensgemeinschaft hochhält.
Auch bei Hosea Funk, dem Bürgermeister von Algren, der in dem 2007 in Deutschland erschienenen Roman "Kleinstadthelden" die kleinste Stadt Kanadas zu besonderen Ehren führen will, steht nicht alles zum Besten: Möglicherweise ist er der Sohn des Premierministers, aber ganz genau weiß das selbst seine Mutter nicht. Desolat ist auch die Lage bei der Familie, um die es in Miriam Toews' neuem Roman "The Flying Troutmans" geht, zu Deutsch: "Die fliegenden Trautmans". Hattie, die als Künstlerin in Paris lebt, erhält den Notruf ihrer elfjährigen Nichte Theodora, genannt Thebes: Min, Hatties Schwester, gehe es schlecht, und sie, Thebes, sowie ihr vier Jahre älterer Bruder Logan könnten sich nicht allein um ihre psychisch kranke Mutter kümmern. Doug Cherkis, der Vater der Kinder, steht nicht zur Verfügung. Er hat sich schon vor Jahren aus dem Staub gemacht.
Also kehrt die Achtundzwanzigjährige zurück in ihre Heimat, nimmt sich der hilflosen Kinder an, liefert ihre Schwester in die Psychiatrie ein, meldet die Geschwister in der Schule ab und macht sich in einem reparaturanfälligen Van auf die Suche nach dem verschwundenen Vater, der in Murdo, South Dakota, vermutet wird. Auf der turbulenten Reise, die mit einigen Zacken entlang der berühmten Route 66 bis an die mexikanische Grenze führt, schenkt uns die Autorin viele traurige, aber auch viele hochkomische Lesemomente. In diesem vierten Roman - Toews' Debüt "Summer of My Amazing Luck" von 1996 ist bisher nicht übersetzt - beweist die in Winnipeg als Filmregisseurin und Journalistin lebende Autorin abermals, dass sie nicht nur ein Auge für Details hat, die Jugendlichen so unendlich wichtig sind - eine lila Strähne im Haar, ein bestimmter Kopfhörer. Und sie hat ein Ohr für die von Flüchen und Anspielungen auf die Popkultur durchsetzte Sprache. Man kann Toews' neuen Roman, für den sie mit dem kanadischen Rogers Writers' Trust Fiction Prize ausgezeichnet wurde, auf vielerlei Arten lesen: zunächst als spannende Roadnovel, in deren Verlauf das ungleiche Trio in fragwürdigen Motels absteigt und einem Haufen kauziger Typen begegnet. Dann als die Geschichte zweier grundverschiedener Schwestern: Immer wieder ruft Hattie von unterwegs in der Klinik an, um sich nach Mins Befinden zu erkundigen, woran sich meist eine Erinnerung an ihre gemeinsame, unglückliche Kindheit anschließt. Nicht zuletzt spiegelt die von Liebeskummer geplagte Hattie - ihr Freund Marc nutzt deren Abwesenheit für Liebeleien mit einer anderen - mit ihren Kommentaren die kanadische Befindlichkeit. Zweifellos könnte die 1964 geborene Autorin eines Tages die Nachfolge von Alice Munro und Margaret Atwood antreten, die im Moment jedoch noch unangefochten ihr Land literarisch und als Frau repräsentieren.
Bei ihren bisherigen Toews-Übersetzungen hat Christiane Buchner alles richtig gemacht und uns stets einen lebendigen Lesestoff vorgesetzt. Was sie nun aber dazu bewogen hat, den Namen der Troutmans so halbherzig auf unsere Breiten anzupassen, bleibt schleierhaft. Oder hat ihr der Verlag diktiert, das o gegen ein a zu tauschen, ohne zugleich ein n zu spendieren? Die Umbenennung in Trautmans ist jedenfalls Blödsinn. So geht die Assoziation zu den aus dem Wasser auftauchenden Forellen, eben den "trouts", flöten, ohne jedoch eine neue Anspielung hervorzurufen.
REINHARD HELLING
Miriam Toews: "Die fliegenden Trautmans". Roman. Aus dem Englischen von Christiane Buchner. Berlin Verlag, Berlin 2008. 256 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kanadische Road Novel: Miriam Toews sucht auf der Route 66 nicht das Abenteuer, sondern nur das Überlebensnotwendige
Normale Familien kommen bei Miriam Toews nicht vor. Das ist bei ihrer Kindheit kein Wunder. In den Büchern der kanadischen Autorin treten meist vom Glück verlassene Einzelgänger auf, deren familiäres Band nach diversen Belastungsproben brüchig geworden ist. Das zeigte sich schon in ihrem Buch "Ein komplizierter Akt der Liebe", das 2005 auf Deutsch erschien, einer autobiographischen Aufarbeitung ihrer freudlosen Kindheit in einer Mennoniten-Gemeinde in Manitoba, mit der uns die Autorin hierzulande erstmals vorgestellt wurde. Darin muss die Ich-Erzählerin Nomi Nickel mitansehen, wie ihre Schwester und Mutter das Weite suchen, während ihr Vater Ray die strengen Regeln der Glaubensgemeinschaft hochhält.
Auch bei Hosea Funk, dem Bürgermeister von Algren, der in dem 2007 in Deutschland erschienenen Roman "Kleinstadthelden" die kleinste Stadt Kanadas zu besonderen Ehren führen will, steht nicht alles zum Besten: Möglicherweise ist er der Sohn des Premierministers, aber ganz genau weiß das selbst seine Mutter nicht. Desolat ist auch die Lage bei der Familie, um die es in Miriam Toews' neuem Roman "The Flying Troutmans" geht, zu Deutsch: "Die fliegenden Trautmans". Hattie, die als Künstlerin in Paris lebt, erhält den Notruf ihrer elfjährigen Nichte Theodora, genannt Thebes: Min, Hatties Schwester, gehe es schlecht, und sie, Thebes, sowie ihr vier Jahre älterer Bruder Logan könnten sich nicht allein um ihre psychisch kranke Mutter kümmern. Doug Cherkis, der Vater der Kinder, steht nicht zur Verfügung. Er hat sich schon vor Jahren aus dem Staub gemacht.
Also kehrt die Achtundzwanzigjährige zurück in ihre Heimat, nimmt sich der hilflosen Kinder an, liefert ihre Schwester in die Psychiatrie ein, meldet die Geschwister in der Schule ab und macht sich in einem reparaturanfälligen Van auf die Suche nach dem verschwundenen Vater, der in Murdo, South Dakota, vermutet wird. Auf der turbulenten Reise, die mit einigen Zacken entlang der berühmten Route 66 bis an die mexikanische Grenze führt, schenkt uns die Autorin viele traurige, aber auch viele hochkomische Lesemomente. In diesem vierten Roman - Toews' Debüt "Summer of My Amazing Luck" von 1996 ist bisher nicht übersetzt - beweist die in Winnipeg als Filmregisseurin und Journalistin lebende Autorin abermals, dass sie nicht nur ein Auge für Details hat, die Jugendlichen so unendlich wichtig sind - eine lila Strähne im Haar, ein bestimmter Kopfhörer. Und sie hat ein Ohr für die von Flüchen und Anspielungen auf die Popkultur durchsetzte Sprache. Man kann Toews' neuen Roman, für den sie mit dem kanadischen Rogers Writers' Trust Fiction Prize ausgezeichnet wurde, auf vielerlei Arten lesen: zunächst als spannende Roadnovel, in deren Verlauf das ungleiche Trio in fragwürdigen Motels absteigt und einem Haufen kauziger Typen begegnet. Dann als die Geschichte zweier grundverschiedener Schwestern: Immer wieder ruft Hattie von unterwegs in der Klinik an, um sich nach Mins Befinden zu erkundigen, woran sich meist eine Erinnerung an ihre gemeinsame, unglückliche Kindheit anschließt. Nicht zuletzt spiegelt die von Liebeskummer geplagte Hattie - ihr Freund Marc nutzt deren Abwesenheit für Liebeleien mit einer anderen - mit ihren Kommentaren die kanadische Befindlichkeit. Zweifellos könnte die 1964 geborene Autorin eines Tages die Nachfolge von Alice Munro und Margaret Atwood antreten, die im Moment jedoch noch unangefochten ihr Land literarisch und als Frau repräsentieren.
Bei ihren bisherigen Toews-Übersetzungen hat Christiane Buchner alles richtig gemacht und uns stets einen lebendigen Lesestoff vorgesetzt. Was sie nun aber dazu bewogen hat, den Namen der Troutmans so halbherzig auf unsere Breiten anzupassen, bleibt schleierhaft. Oder hat ihr der Verlag diktiert, das o gegen ein a zu tauschen, ohne zugleich ein n zu spendieren? Die Umbenennung in Trautmans ist jedenfalls Blödsinn. So geht die Assoziation zu den aus dem Wasser auftauchenden Forellen, eben den "trouts", flöten, ohne jedoch eine neue Anspielung hervorzurufen.
REINHARD HELLING
Miriam Toews: "Die fliegenden Trautmans". Roman. Aus dem Englischen von Christiane Buchner. Berlin Verlag, Berlin 2008. 256 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eingenommen ist Reinhard Helling von Miriam Toews' neuem Roman "Die fliegenden Trautmans". Wie in ihren bisherigen Romanen sieht er auch hier eine nicht ganz normale Familie im Mittelpunkt, deren Lage ziemlich verfahren ist, weil die Mutter psychisch krank und der Vater verschwunden ist. Die Geschichte um die beiden Kinder, die sich zusammen mit ihrer Tante auf die Suche nach dem Vater machen und eine chaotische Reise entlang der Route 66 unternehmen, enthält in seinen Augen viele "traurige, aber auch viele hochkomische Lesemomente". Er hebt hervor, dass man das Buch auf verschiedene Arten lesen kann: als "spannende Roadnovel", als "Geschichte zweier grundverschiedener Schwestern" und als Spiegelbild kanadischer Befindlichkeit. Mit Lob bedenkt er die Übersetzung Christiane Buchners, die alles richtig gemacht habe und dem Leser stets "lebendigen Lesestoff" biete.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH