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Menschen am Ort des Übergangs. Das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde Ende der siebziger Jahre - Nadelöhr zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Die Lebenswege von vier Menschen kreuzen sich hier: Nelly, die mit ihren Kindern aus der DDR ausreist, Krystyna aus Polen und der aus dem Ost-Gefängnis freigekaufte Schauspieler Hans. Ihnen gegenüber steht John Bird, der als amerikanischer Geheimdienstler die Verhöre mit den Flüchtlingen führt. Er interessiert sich nicht für ihre ungewisse Zukunft, sondern für die verborgenen Geschichten ihrer…mehr

Produktbeschreibung
Menschen am Ort des Übergangs.
Das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde Ende der siebziger Jahre - Nadelöhr zwischen den beiden deutschen Staaten und zwischen den Blöcken des Kalten Krieges.
Die Lebenswege von vier Menschen kreuzen sich hier: Nelly, die mit ihren Kindern aus der DDR ausreist, Krystyna aus Polen und der aus dem Ost-Gefängnis freigekaufte Schauspieler Hans.
Ihnen gegenüber steht John Bird, der als amerikanischer Geheimdienstler die Verhöre mit den Flüchtlingen führt. Er interessiert sich nicht für ihre ungewisse Zukunft, sondern für die verborgenen Geschichten ihrer Vergangenheit. Bis er an Nelly gerät, die selbstbewusst sein Spiel durchschaut.

Lagerfeuer verknüpft vier Schicksale in einer hochaufgeladenen Situation. Julia Franck gelingt es meisterlich, die Figuren ihres Romans in ihrer Ausweglosigkeit darzustellen, mit höchster Einfühlung und verzweifeltem Witz. In der Enge des Lagerlebens spitzen sich die Beziehungen der Menschen dramatisch zu.
Julia Franck kennt Marienfelde aus eigener Erfahrung. Als Achtjährige lebte sie nach der Ausreise aus der DDR ein Dreivierteljahr lang dort.
In ihrem neuen Roman führt sie Menschen an einen Ort, an dem sich Lebensgeschichten entschieden.

Autorenporträt
Julia Franck wurde 1970 in Berlin (Ost) geboren. 1978 reiste die Familie aus. Sie wurde u. a. mit dem 3sat-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2000 ausgezeichnet und mit dem Marie-Luise Kaschnitz-Preis 2004. Julia Franck lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"So einen Roman hatten wir noch nicht", feiert Rezensent Edo Reents Julia Francks Roman "über sogenannte Republikflüchtlinge". Seinen Informationen zufolge spielt die Geschichte in den späten siebziger Jahren und wird aus vier Perspektiven erzählt, und jeder, der gerade spreche, habe Recht. "Niemand wird bloßgestellt, aber auch niemand entschuldigt", schreibt Reents voller Hochachtung für den geglückten Balanceakt dieses in seinen Augen ambivalenten und hochsubversiven Buches. Mit einem Kunstverstand, den der Rezensent erstaunlich für eine Generation findet, die er unter "Oberflächenverdacht" stehen sieht, habe Franck eine Logik entwickelt, bei der die Frage, auf welcher Seite man steht, keine Rolle spiele. Es gehe ihr nicht um eine Abrechnung mit der DDR. Reents bescheinigt der Autorin ein Gespür für das Demütigende von Zuwendungen, die der Westen nicht anders als materiell verstehen könne. Auch in der Erkenntnis, dass Sicherheit und Wohlstand, "ja selbst Freiheit" relative Größen sind, findet er den Roman subversiv.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Julia Francks Erzählkunst rührt an den geheimnisvollen Untergrund menschlicher Triebe, Gefühle und Affektlagen." (SDZ
"Man ist immer wieder verblüfft, mit welchem Understatement Julia Franck ihre Meisterschaft zum Einsatz bringt." (BZ)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Im Westen viel Neues
Deutsch-deutsche Kaltfronten: Julia Francks subversiver Roman über eine Flucht in die Bundesrepublik / Von Edo Reents

In Martin Ritts Le-Carré-Verfilmung "Der Spion, der aus der Kälte kam" spielt Richard Burton den Agenten, der nur in menschlicher Isolierung in seinem Element ist. Er lernt eine Bibliothekarin kennen und fängt an zu lachen, als sich herausstellt, daß sie das Gegenteil der westlichen Ideologie vertritt: "Nancy, jetzt sagen Sie bloß, Sie sind eine verdammte Kommunistin?!" Dieses Lachen läßt ihm für selbstkritische Erkenntnisse genügend Raum. Daß auch der Kapitalismus Opfer fordert, war in den sechziger Jahren so richtig wie heute. Aber auch nach dem Ende der DDR wird dergleichen reflexhaft mit den Mauertoten pariert, als dürfte man das eine ohne das andere nicht denken. Die eisige Atmosphäre des Films und auch des Romans, die das Verhalten aller Protagonisten als notwendig erscheinen läßt, verdankt sich einer epischen Gerechtigkeit, die etwas vermittelt, das über seinen ideologischen Gehalt hinaus von Interesse ist.

In einer Öffentlichkeit, die für ihre Befassung mit der deutsch-deutschen Vergangenheit entweder die verbissene Verdächtigung oder die ulkhafte Nostalgie kennt, ist es kein leichtes Unterfangen, einen Roman über sogenannte Republikflüchtlinge zu schreiben, der den Geist dieser epischen Gerechtigkeit atmet. Julia Franck ist das gelungen: "Lagerfeuer" ist von beiden Extremen gleich weit entfernt und läßt den, der gerade spricht, recht haben. Niemand wird hier bloßgestellt, aber auch niemand entschuldigt. Mit einem Kunstverstand, der erstaunlich ist für eine Angehörige einer Generation, die unter Oberflächenverdacht gestellt wird, hat sie ein Buch geschrieben, das gerade recht zu kommen scheint. Aber Julia Franck konnte nicht wissen, daß in diesem heißen Sommer Wallraff-Verdächtigungen und Ostalgie-Fernsehen gleichermaßen Konjunktur haben würden.

Die Geschichte spielt in den späten siebziger Jahren und wird aus vier Perspektiven erzählt. Nelly Senff, eine junge Chemikerin, reist mit ihrer zehnjährigen Tochter Katja und ihrem achtjährigen Sohn Aleksej unter dem Vorwand aus, einen Mann aus dem Westen heiraten zu wollen. Im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde trifft sie auf die Polin Krystyna Jablonowska, die hier ihren schwerkranken Bruder behandeln lassen will und ihren alten, verwirrten Vater gleich mitgeschleppt hat. Außerdem ist dort Hans Pischke untergebracht, ein halt- und illusionsloser ehemaliger Schauspieler, der vom Westen freigekauft wurde und schnell unter Verdacht gerät, für die Staatssicherheit zu arbeiten. Zur Spitzelabwehr ist der Amerikaner John Bird da, dessen alliierte Behörde gleichzeitig den Flüchlingsstatus der Lagerbewohner überprüft. Daß es bei beidem nicht zimperlich zugeht, verdankt sich einer Logik, bei der die Frage, auf welcher Seite man steht, im Grunde keine Rolle spielt.

Julia Franck geht es nicht um eine Abrechnung mit der DDR. In dieser Hinsicht wird sie es Lesern, die nur auf Signalwörter wie "Stasi" oder "Spreewaldgurken" aus sind, nicht recht machen. Dafür ist sie eine zu gute Erzählerin. Daß auch sie als solche nicht geboren wurde, macht, nach den zum Teil drastischen Liebesgeschichten, mit denen sie bekannt wurde, das eigentlich Staunenswerte dieses Romans aus. Hier ist eine Autorin, deren Erzählstoff sich nicht in generationsspezifischen Lifestyle-Angelegenheiten erschöpft; die weiß, daß auch Melancholie etwas ist, das man sich leisten können muß. Deshalb zieht sie die Strenge einer diffusen Stimmung vor. Sie hat etwas zu erzählen und ist dabei von keiner Mission beseelt.

Das läßt sich schon an Kleinigkeiten erkennen. Zu Anfang, als Nelly Senff die Aufforderung der DDR-Beamten zum Aussteigen mißversteht, sagt ein Uniformierter: "Nein, nicht Sie, nur die Kinder." Es wäre ein leichtes gewesen, aus einer solchen Szene gefühliges Kapital zu schlagen. Nelly Senff aber sagt zu ihren Kindern nur: "Ihr sollt aussteigen." Es ist dieser lakonische und zuweilen unerbittliche Ton, mit dem selbst schwierige Passagen gemeistert werden, die scheinbare Enttarnung Hans Pischkes beispielsweise oder die Drangsalierung der Senffschen Lagerkinder durch westliche Mitschüler. Daß auch diese Franck-Geschichte nicht ohne einen scharfen Geruchssinn auskommt, ist gewissermaßen milieubedingt. Denn in Marienfelde weiß nicht jeder, wozu ein Deodorant gut ist; hier riecht es, weil in wenig gepflegter Umgebung viele Menschen auf einem Haufen leben.

Es ist bei Unterpriviligierten schnell von der Würde die Rede, die sie sich bewahren. Julia Franck läßt sie ihnen in einer Weise, die vollständig frei ist von den Klischees, die gerade die gute Absicht produziert. Sie hat ein Gespür für die Demütigungen von Wohltaten, die der Westen nicht anders als materiell verstehen kann, weil er keine Ahnung hat von seelischen Entbehrungen: "Ich fass' es nicht, da kommt ihr hierher, ja, ohne alles, ja, ohne Winterschuhe und ohne Waschmaschine, ja, nicht mal die Wäsche für 'ne Waschmaschine reicht, ja, ohne Dach überm Kopf und ohne jede Mark, ja, und haltet die Hände auf und nehmt und lehnt ab, stellt Ansprüche, ja." Diese Worte eines Arbeitsvermittlers sind so wahr, weil sie dem Alltag abgelauscht sind, der auch als deutsch-deutscher so grau ist wie der Spätherbst in Marienfelde. Julia Franck durchschaut den Egoismus und die Kleinherzigkeit, die hinter jeder mit falschem Lächeln vorgebrachten Zuwendung stecken.

Deshalb ist das Flüchtlingspersonal so mißtrauisch und nüchtern, wie man es eben wird, wenn man ein altes Leben hinter sich läßt und merkt, daß das neue auch nicht besser anfängt, ohne daran jemand anderem die Schuld zu geben als der eigenen Entscheidung. Der Schauspieler Pischke hat seinen Hegel gelesen und weiß, daß man ein System nur von innen verändern kann. Das Bedauern, nicht drüben geblieben zu sein, ermöglicht zumindest den Gedanken an eine innere Emigration, von der immer im Einzelfall zu fragen wäre, wie unerträglich sie gewesen wäre oder in Wirklichkeit war. Für Nelly Senff, die nach dem wahrscheinlichen Tod des Vaters ihrer Kinder das Land so verläßt, wie man auch die Bundesrepublik in Richtung Schweiz oder Großbritannien verlassen könnte - aus rein privaten Gründen nämlich -, sind Sicherheit und Wohlstand, ja selbst Freiheit relative Größen, auf deren Anpreisung sie nicht hereinfällt. Darin liegt das eigentümlich Subversive dieser stark autobiographischen, ambivalenten Geschichte. Der Arbeitsvermittler ruft dem undankbaren Flüchtling borniert und doch wahrhaftig hinterher: "Wer nicht will, der hat schon." So einen Roman hatten wir noch nicht.

Julia Franck: "Lagerfeuer". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 300 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2003

Unsichere Fluchtbewegung
DDR-knisternd: Julia Francks Roman „Lagerfeuer”
„,Nein‘ rief mir der Mann mit der Polizeiuniform über das Dach hinweg zu, ,nicht Sie, nur die Kinder‘”. Seit Stunden warten Nelly Senff, Katja und Aleksey in der Hauptstadt der DDR an der Bornholmer Brücke, alle drei im Auto von West-Mann Gerd, der, wie er plötzlich sagt, Nelly gern nackt in seinen Armen halten würde. Vermutlich hat er sich deswegen bereit erklärt, als Bräutigam zu gelten, zu dem Nelly ausreisen möchte. Doch auch während die Kinder an der DDR-Grenze verhört werden, macht er nur dumme Sprüche: „Du glaubst wirklich, die haben nichts Besseres zu tun, als kleine Kinder festzuhalten?”
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Attraktion von Julia Francks Roman „Lagerfeuer” geht von der Authentizitätsvermutung aus, die ihn begleitet. Julia Franck, sozusagen die Katja des Buchs, kam als Achtjährige über die DDR-Grenze und lebte acht Monate im BRD-Auffanglager Marienfelde. Ein solches Lager ist zu drei Vierteln der Schauplatz des neuen Romans. Doch schon die komplexe Erzählperspektive – die Vorgänge werden abwechselnd von vier Ich-Erzählern berichtet – deutet an, dass „Lagerfeuer” nicht lediglich das schon vorab viel beredete persönliche Buch von Julia Franck sein soll. Eher hat man, verglichen mit früheren Texten wie „Bauchlandung” oder „Liebediener”, die sehr nahe am Alltag Berliner Dreißigjähriger blieben, den Eindruck, die Autorin erzähle den ihr nahen Stoff von sich weg. Die vier sehr unterschiedlichen Perspektiven bekräftigen die Absicht eines historisch-politischen Überblicks.
Der Chemikerin Nelly Senff ist der russische Freund und Vater ihrer Kinder gestorben, sie sieht im Osten keinen Lebensanreiz mehr. Die polnische Mit-Lagerinsassin Krystyna Jablonowska ist mit ihrem Vater und dem Bruder eingereist, der im Westen an Krebs operiert wird. Der amerikanische CIA-Beamte John Bird ist unglücklich verheiratet und verliebt sich in Nelly Senff. Hans Pischke, Schauspieler, inhaftiert, wohl weil er den Kopf der berühmten Lenin-Statue mit roter Farbe bestrich, ist vom Westen freigekauft worden.
Ein unterhaltsames Panorama in schmucklos klarer Sprache, das in seiner Struktur stark an die frühen Geschichts-Romane von Alfred Andersch, Böll, Martin Walser oder Wolfgang Koeppen erinnert, die mit der skeptischen Unparteilichkeit der Intellektuellen der fünfziger Jahre jede eindeutige Stellungnahme zum Erzählten vermieden. Gerade im melancholischen Dazwischen der Atmosphäre, im Eindruck der Unzugehörigkeit zu beiden deutschen Staaten, schließt sich Julia Franck an diese Vorgänger an, die in den letzten Jahren häufig als Beweis für eine populäre deutsche Erzähltradition angeführt wurden.
Verschärfte Verhöre
Allerdings hing das Gelingen solcher Panorama-Romane schon bei den Großvätern stark von der Überzeugungskraft der jeweiligen Perspektiven ab. Die ist hier nur bei Nelly Senff durchgängig gegeben. Vor allem die Polin wirkt demgegenüber wie eine zur Vervollständigung eingefügte Charge, die den Status einer Hauptfigur erhält, ohne dass sich dem Leser je vermittelt, warum. John Bird und Hans Pischke wiederum hinterlassen wechselnde Eindrücke. Beginnt CIA-Mann Bird in Ehekrise und Verhörsituation ziemlich einprägsam, um dann in einem konstruiert wirkenden Karrierewahn zu versinken, so entwickelt sich der Schauspieler Hans Pischke, als er plötzlich unter Verdacht gerät, ein Stasi-Agent zu sein, in seiner Vagheit, Unzuverlässigkeit und Schwäche zum neben Nelly Senff eindrücklichsten Charakter des Buchs.
Es hat eine ungewöhnliche Stärke: Die schwierigsten Szenen sind die am besten geschriebenen. Etwa die Liebesdialoge des schüchternen Hans mit der direkten Nelly. Vor allem aber bringt die erste Verhörsituation kurz nach Romananfang das Wahnwitzige des so normalen Schrecklichkeitsstaats DDR sehr gut auf Begriff und Bild.
Während die Kinder noch vernommen werden, wird auch Nelly aus dem Wagen geholt und ebenso bürokratisch wie brutal untersucht. Großartig getroffen ist die Irritation der Beamten, die merken, dass die Verhörte eine jüdische Mutter hat, die eine überzeugte Kommunistin ist. „Wusstest du das?”, fragt ein Ermittler den anderen, „war die berühmt?” Giftig, aber passend kommentiert Senff: „Sobald ein Deutscher von einem lebendigen Juden hört, glaubt er, der müsse berühmt sein.” Doch gerade als sich der Leser mit den beiden vermeintlich halbwegs harmlosen Trotteln anzufreunden beginnt, verschärft Julia Franck das Tempo. Nelly Senff muss sich ausziehen, wird im Dunkeln nackt stehen gelassen, dann kramt ein Arzt, der geheime Dokumente zu suchen scheint, demütigend in ihren Geschlechtsteilen herum.
Weniger heikel zu beschreiben, aber ebenfalls psychologisch überzeugend gestaltet ist die zweite Verhörszene. In ihr sind John Bird und seine CIA die Akteure. Auch er und seine Kollegen „verstehen” Nelly Senff nicht. Sie würden gern eine Verfolgung durch die DDR aus ihrem Mund kitzeln, doch Nelly beharrt darauf, dass das nicht stimmt. Seit dem Tod des Vaters ihrer Kinder fühlt sie sich leer. Sie sucht für sich nach einem Neuanfang.
Ein freigekaufter Zweifler
Ein ziemlich knapper, ausschließlich privater Grund, der bei genauerer Überlegung auch den Leser irritiert. Vor allem im Blick auf die Gründe des Systemwechsels bei den anderen beiden ostmüden Ich-Erzählern. Die polnische Familie sucht die bessere medizinische Behandlung. Der freigekaufte Zweifler Hans Pischke fragt plötzlich kurz vor Schluss, ob nicht alle hier im Lager „Verräter” seien, weil sie weggingen, anstatt „vor Ort und Stelle” zu „kämpfen”. Nur eine ehemalige Geliebte Pischkes taucht im Lager auf und erzählt die klassische Gruselgeschichte von Verfolgung, Bespitzelung und Flucht durchs Wasser. Von ihr aber stellt sich später heraus, dass sie offenbar Stasi-Agentin war. So entsteht, weil das Hauptinteresse Francks dem Lagerleben in der BRD gilt, der eigenartige, wohl unbeabsichtigte Eindruck, dass es in der DDR – bis auf die drastischen Verhöre an der Grenze – nicht allzu schlimm gewesen sein kann. Umgekehrt werden die ideologisch willkommenen Flüchtlinge im Westen von der CIA, schmierigen Flüchtlingshilfsorganisateuren und einem schäbig-gewalttätigen Lageralltag begrüßt, der ihnen immer wieder die Frage stellt, ob es wirklich gut gewesen ist, zu gehen, um hier anzukommen.
Doch sollte man „Lagerfeuer”, trotz der erkennbaren Ambition der Autorin, nicht zu sehr als historisch-politischen Roman lesen. Es ist auch nicht das Buch, das an Julia Francks erste Schreibversuche im Lager erinnert. Die Katja des Romans ist, mehr noch als der kleine Bruder Aleksej, eine blasse Randfigur. Sehr viel stärker bleibt der rätselhafte, im Lager fast zu Tode geprügelten Pischke (er hat etwas von Alfred Anderschs O’Malley in „Die Rote” oder Koeppens Siegfried Judejahn) in Erinnerung. Hinter dem zeitgeschichtlichen Gerüst des Romans leuchtet aber vor allem das Bild der ebenso mutigen wie verletzlichen, ebenso attraktiven wie zähen, ebenso hoffnungslosen wie liebenden Mutter hervor. Ihr vor allem hat Julia Franck mit diesem Roman ein Denkmal gesetzt.
HANS-PETER KUNISCH
JULIA FRANCK: Lagerfeuer. Roman. DuMont Verlag, Köln 2003. 302 Seiten, 19,90 Euro.
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