Die aktuelle Produktion nichtfiktionaler Texte kann man nicht nur "von außen" beobachten. Man muss stattdessen die Werkstätten betreten, in denen mit populärwissenschaftlichen, sachlichen, dokumentarischen Schreibweisen experimentiert wird. Die Werkstattgespräche im vorliegenden Band widmen sich allen Formen des Faktographischen, die mit vorgefundenem Material arbeiten und dabei Wissenszusammenhänge rekonstruieren, konstruieren und vermitteln. Dafür wurden Autoren und Autorinnen als Gesprächspartner ausgesucht, von denen sich lernen lässt, wenn man sich eine eigene Werkstatt aufgebaut hat oder aufbauen will. Insofern ist der vorliegende Band auch als Lese- und Lehrbuch für jene zu verstehen, die Sachbücher schreiben oder faktographisch und dokumentarisch arbeiten möchten. Gesprächspartner sind: Christoph Dieckmann, Wolfgang Engler, Ulrich Enzensberger, Ernst Peter Fischer, Kathrin Röggla, Michael Rutschky, Jürgen Teipel, Burkhard Spinnen, Andres Veiel und Gesine Schmidt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2009„Anstrengend ist es, in die Sprache zu gehen, statt ins Wirtshaus”
Auf der Suche nach einer Poetik des Sachbuchs: Ein Band mit Werkstattgesprächen
Was ist Literatur? Viele kluge Köpfe haben sich über diese Frage Gedanken gemacht; inzwischen wird sie vorzugsweise in Antritts- und Ringvorlesungen gestellt. Gerade der Literaturwissenschaftler, heißt es, müsse sich seines Gegenstandes immer wieder versichern. Verlöre er ihn aus dem Auge, würde ihm, so Georg Willems, seine Forschung notwendig ins „Beliebige, Dilettantische, entgleiten. Die Frage nach dem Wesen der Literatur regiert seine Methode, darum ist sie ihm stets gegenwärtig.” Eric D. Hirsch drehte die Frage danach, was Literatur sei, 1978 um und schrieb einen Aufsatz mit dem Titel „Was ist nicht Literatur?” Dabei kam der amerikanische Anglistikprofessor zu dem insgesamt doch recht unbefriedigenden Ergebnis, dass alles, was nicht in universitären Literaturseminaren unterrichtet wird, auch nicht zur Literatur zu zählen sei.
Außerhalb der Wissenschaft, auf dem Buchmarkt macht man es sich ähnlich einfach. Als Sachbuch gilt, was nicht fiktional ist. So unterteilt die New York Times ihre Bestsellerliste-Rubriken in „fiction” und „non-fiction”. Beim Spiegel ist von „Belletristik” und „Sachbuch” die Rede. Dabei umfassen die Begriffe „non-fiction” und „Sachbuch” ein nahezu unüberschaubares Feld unterschiedlichster Genres. Ob Glücksratgeber, Rückenschule oder Kochbuch, ob theoretische Abhandlung, Reisebericht, Sozialreportage oder philosophischer Essay – als Sachbuch gilt so ziemlich alles, was nicht den Aufdruck „Roman” oder „Lyrik” trägt.
Dabei arbeiten auch viele sogenannte Sachbücher mit literarischen Mitteln und fiktionalen Elementen. Nicht selten gelten Sachbücher sogar als „literarischer” als so mancher Thriller, manche Herzschmerzschmonzette. Kaum jemand würde bestreiten, dass Wolfgang Büschers Reisebücher einem höheren ästhetischen Anspruch folgen als die Bissromane von Stephenie Meyer, ganz sicher gehört Kathrin Rögglas „really ground zero” in ein germanistisches Proseminar, nicht aber Dora Heldts „Tante Inge haut ab”, zweifellos wird Werner Herzogs „Vom Gehen im Eis” eher vor der Ewigkeit bestehen als Simon Becketts „Flammenbrut”.
Und doch genießt das Sachbuch weit weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit als die schöne Literatur. Das von 2005 bis 2008 an der Universität Hildesheim und der Berliner Humboldt-Uni angesiedelte Forschungsprojekt „Das populäre deutschsprachige Sachbuch” war ein Versuch, diese Lücke zu füllen. Hervorgegangen ist aus dem Projekt unter anderem der Band „Poetik des Faktischen. Vom erzählenden Sachbuch zur Doku-Fiction”. Er versammelt Gespräche, die Annett Gröschner und Stephan Porombka mit zehn Autoren geführt haben, die, wie etwa Ulrich Enzensberger oder Burkhard Spinnen, beispielhaft für das, wie die Herausgeber es nennen, „Bastard-Medium” Sachbuch stehen.
Und der Gebildete schläft ein
Da in diesen Büchern ihrer Meinung nach „gleichermaßen sachliche und literarische Schreibweisen amalgamiert sind”, waren Gröschner und Porombka besonders daran interessiert, ob die Autoren so etwas wie eine „Poetik des Faktischen” beim Schreiben im Hinterkopf haben, daran, wie intensiv sie sich mit Sprachstil und Erzählform auseinandersetzen.
So zitiert der Soziologe Wolfgang Engler, auf sein Buch „Bürger ohne Arbeit” hin befragt, den Dichter Robert Schindel: „anstrengend ist es, in die Sprache zu gehen, statt ins Wirtshaus”. Tatsächlich sei er, so Engler, ins Wort, in den Begriff gegangen, habe Nuancierungen verfolgt und sei sie „geschichtlich durchgegangen”, um schließlich, und das sei das Schwerste gewesen, „zum Beherrscher des Materials zu werden”. Auch der Wissenschaftsautor Ernst Peter Fischer berichtet von der Auseinandersetzung mit der Sprache. Bevor er sein erstes Buch geschrieben habe, habe „ich mir eine Fachzeitung genommen, sie aufgeschlagen, und mir eine Meldung vorgenommen, die ich dann mehrfach variiert habe. Die erste sah zuletzt so aus, dass ich verstehe, was da steht. Die zweite Variante war eine Meldung für die Bild-Zeitung: Sensationelle Flippasen in der Membran entdeckt! Die nächste war eine langweilige Glosse für die FAZ, bei der der Gebildete nach der Hälfte einschläft.”
Nichtsdestotrotz bezeichnen die Herausgeber das Sachbuch als „journalistische Königsdisziplin”, da der Autor, indem es etwa Interview-, Porträt- und Reportageelemente miteinander verbinde, erfinderisch sein und formal höchste Anforderungen erfüllen müsse. Mehr noch, das erzählende Sachbuch sei im „durchaus emphatischen Sinne des Wortes” literarisch zu nennen. Es soll dies, wie es scheint, als Aufwertung verstanden werden, vor allem aber als berechtigte Aufforderung, genauer hinzuschauen, wenn es um die Machart eines Sachbuchs geht. Denn schließlich, so Gröschner und Porombka ganz zu Recht, prägten Sachbücher unser Verständnis der Gegenwart mindestens ebenso stark wie Romane.
Es wird wohl noch einige Projekte und Symposien brauchen, bis man mehr über die literarischen Techniken weiß, derer sich Sachbuchautoren bedienen. In „Poetik des Faktischen” erfährt man viel über die individuellen Entstehungsbedingungen, darüber, wie Ideen sich entwickeln, Recherchen vonstatten gehen, wie jener Kampf mit dem Material entschieden wird, von dem Ernst Peter Fischer spricht. Fischer übrigens verrät auch, wie lange man an so einem Sachbuch schreibt: „Sie brauchen nur zu rechnen: Wenn Sie fleißig sind und jeden Tag fünf Seiten schreiben, dann ist in einhundert Tagen ein Buch fertig. So können Sie dann drei Bücher im Jahr schreiben.” An die Arbeit also! TOBIAS LEHMKUHL
ANNETT GRÖSCHNER, STEPHAN POROMBKA (Hrsg.): Poetik des Faktischen. Vom erzählenden Sachbuch zur Doku-Fiction. Klartext Verlag, Essen 2009. 222 Seiten, 21,95 Euro.
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Auf der Suche nach einer Poetik des Sachbuchs: Ein Band mit Werkstattgesprächen
Was ist Literatur? Viele kluge Köpfe haben sich über diese Frage Gedanken gemacht; inzwischen wird sie vorzugsweise in Antritts- und Ringvorlesungen gestellt. Gerade der Literaturwissenschaftler, heißt es, müsse sich seines Gegenstandes immer wieder versichern. Verlöre er ihn aus dem Auge, würde ihm, so Georg Willems, seine Forschung notwendig ins „Beliebige, Dilettantische, entgleiten. Die Frage nach dem Wesen der Literatur regiert seine Methode, darum ist sie ihm stets gegenwärtig.” Eric D. Hirsch drehte die Frage danach, was Literatur sei, 1978 um und schrieb einen Aufsatz mit dem Titel „Was ist nicht Literatur?” Dabei kam der amerikanische Anglistikprofessor zu dem insgesamt doch recht unbefriedigenden Ergebnis, dass alles, was nicht in universitären Literaturseminaren unterrichtet wird, auch nicht zur Literatur zu zählen sei.
Außerhalb der Wissenschaft, auf dem Buchmarkt macht man es sich ähnlich einfach. Als Sachbuch gilt, was nicht fiktional ist. So unterteilt die New York Times ihre Bestsellerliste-Rubriken in „fiction” und „non-fiction”. Beim Spiegel ist von „Belletristik” und „Sachbuch” die Rede. Dabei umfassen die Begriffe „non-fiction” und „Sachbuch” ein nahezu unüberschaubares Feld unterschiedlichster Genres. Ob Glücksratgeber, Rückenschule oder Kochbuch, ob theoretische Abhandlung, Reisebericht, Sozialreportage oder philosophischer Essay – als Sachbuch gilt so ziemlich alles, was nicht den Aufdruck „Roman” oder „Lyrik” trägt.
Dabei arbeiten auch viele sogenannte Sachbücher mit literarischen Mitteln und fiktionalen Elementen. Nicht selten gelten Sachbücher sogar als „literarischer” als so mancher Thriller, manche Herzschmerzschmonzette. Kaum jemand würde bestreiten, dass Wolfgang Büschers Reisebücher einem höheren ästhetischen Anspruch folgen als die Bissromane von Stephenie Meyer, ganz sicher gehört Kathrin Rögglas „really ground zero” in ein germanistisches Proseminar, nicht aber Dora Heldts „Tante Inge haut ab”, zweifellos wird Werner Herzogs „Vom Gehen im Eis” eher vor der Ewigkeit bestehen als Simon Becketts „Flammenbrut”.
Und doch genießt das Sachbuch weit weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit als die schöne Literatur. Das von 2005 bis 2008 an der Universität Hildesheim und der Berliner Humboldt-Uni angesiedelte Forschungsprojekt „Das populäre deutschsprachige Sachbuch” war ein Versuch, diese Lücke zu füllen. Hervorgegangen ist aus dem Projekt unter anderem der Band „Poetik des Faktischen. Vom erzählenden Sachbuch zur Doku-Fiction”. Er versammelt Gespräche, die Annett Gröschner und Stephan Porombka mit zehn Autoren geführt haben, die, wie etwa Ulrich Enzensberger oder Burkhard Spinnen, beispielhaft für das, wie die Herausgeber es nennen, „Bastard-Medium” Sachbuch stehen.
Und der Gebildete schläft ein
Da in diesen Büchern ihrer Meinung nach „gleichermaßen sachliche und literarische Schreibweisen amalgamiert sind”, waren Gröschner und Porombka besonders daran interessiert, ob die Autoren so etwas wie eine „Poetik des Faktischen” beim Schreiben im Hinterkopf haben, daran, wie intensiv sie sich mit Sprachstil und Erzählform auseinandersetzen.
So zitiert der Soziologe Wolfgang Engler, auf sein Buch „Bürger ohne Arbeit” hin befragt, den Dichter Robert Schindel: „anstrengend ist es, in die Sprache zu gehen, statt ins Wirtshaus”. Tatsächlich sei er, so Engler, ins Wort, in den Begriff gegangen, habe Nuancierungen verfolgt und sei sie „geschichtlich durchgegangen”, um schließlich, und das sei das Schwerste gewesen, „zum Beherrscher des Materials zu werden”. Auch der Wissenschaftsautor Ernst Peter Fischer berichtet von der Auseinandersetzung mit der Sprache. Bevor er sein erstes Buch geschrieben habe, habe „ich mir eine Fachzeitung genommen, sie aufgeschlagen, und mir eine Meldung vorgenommen, die ich dann mehrfach variiert habe. Die erste sah zuletzt so aus, dass ich verstehe, was da steht. Die zweite Variante war eine Meldung für die Bild-Zeitung: Sensationelle Flippasen in der Membran entdeckt! Die nächste war eine langweilige Glosse für die FAZ, bei der der Gebildete nach der Hälfte einschläft.”
Nichtsdestotrotz bezeichnen die Herausgeber das Sachbuch als „journalistische Königsdisziplin”, da der Autor, indem es etwa Interview-, Porträt- und Reportageelemente miteinander verbinde, erfinderisch sein und formal höchste Anforderungen erfüllen müsse. Mehr noch, das erzählende Sachbuch sei im „durchaus emphatischen Sinne des Wortes” literarisch zu nennen. Es soll dies, wie es scheint, als Aufwertung verstanden werden, vor allem aber als berechtigte Aufforderung, genauer hinzuschauen, wenn es um die Machart eines Sachbuchs geht. Denn schließlich, so Gröschner und Porombka ganz zu Recht, prägten Sachbücher unser Verständnis der Gegenwart mindestens ebenso stark wie Romane.
Es wird wohl noch einige Projekte und Symposien brauchen, bis man mehr über die literarischen Techniken weiß, derer sich Sachbuchautoren bedienen. In „Poetik des Faktischen” erfährt man viel über die individuellen Entstehungsbedingungen, darüber, wie Ideen sich entwickeln, Recherchen vonstatten gehen, wie jener Kampf mit dem Material entschieden wird, von dem Ernst Peter Fischer spricht. Fischer übrigens verrät auch, wie lange man an so einem Sachbuch schreibt: „Sie brauchen nur zu rechnen: Wenn Sie fleißig sind und jeden Tag fünf Seiten schreiben, dann ist in einhundert Tagen ein Buch fertig. So können Sie dann drei Bücher im Jahr schreiben.” An die Arbeit also! TOBIAS LEHMKUHL
ANNETT GRÖSCHNER, STEPHAN POROMBKA (Hrsg.): Poetik des Faktischen. Vom erzählenden Sachbuch zur Doku-Fiction. Klartext Verlag, Essen 2009. 222 Seiten, 21,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass ein Sachbuch mitunter einen höheren literarischen Anspruch hat als so manches belletristische Werk, ist für Tobias Lehmkuhl unbestreitbar. Deshalb hat er auch mit gespanntem Interesse das Buch von Annett Gröschner und Stephan Porombka zur Hand genommen hat, in dem die beiden Gespräche mit Sachbuchautoren führen und einer "Poetik des Faktischem" auf die Spur zu kommen suchen. Und so ist aus dem Buch viel von den jeweiligen Produktionsbedingungen der Sachbuchautoren zu erfahren, über ihre Recherche- und Formulierungsarbeiten, stellt der Rezensent befriedigt fest. Er hat das Buch durchaus als Versuch der "Aufwertung" des Sachbuches allgemein gelesen und sieht darin zudem einen Appell, auch beim Sachbuch abgesehen vom Inhaltlichen aufs Formale zu achten. Denn nicht nur die Belletristik, auch das Sachbuch bestimmt unseren Blick auf die Welt maßgeblich mit, pflichtet Lehmkuhl den Herausgebern bei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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