Am Anfang steht die traumatisierte Elterngeneration und ihr dogmatisches Schweigen. Die Mutter, die das erste Kind während der Geburt verliert, der alternde, in Erinnerungen an den Böhmerwald schwelgende Vater, der schwermütige Onkel Hans, die knacksende, im russischen Feldlazarett aufgenommene zerbrechliche Platte mit der hellen Jungenstimme des kurz darauf gefallenen Onkel Hugo.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Eischaum und dann Weiterpaddeln
Margit Schreiner beglückt eine Jugend in den sechziger und siebziger Jahren mit einer vollendeten Eskimorolle
Wer Wildwasserfahrten überleben möchte, sollte die Eskimorolle in jedem Fall kennen. Wer nach der Unterwasser-Drehung wieder auftaucht, der darf unversehrt weiterpaddeln. Margit Schreiners Erzählsammlung „Die Eskimorolle” ist vor neun Jahren zum ersten Mal erschienen und trug den sehr kräftigen Titel „Die Unterdrückung der Frau, die Virilität der Männer, der Katholizismus und der Dreck”. Jetzt wurde der Band wieder aufgelegt unter einem angemessen sanfteren Titel..
Die „Eskimorolle” besteht aus siebenundzwanzig einzelnen Teilen - Porträts, Episoden, Ausschnitten: Einzelteile aus einem Leben. Alles fängt an mit der Geburt im Jahr 1953 in Linz. Von hier aus geht es chronologisch mitten hinein in die Kindheit in der Nachkriegszeit. Da sind die Eltern, die so viel Vergangenheit und Bürde und Verschwiegenheit mit sich tragen. Der Vater erinnert sich an seine Jugend im Böhmerwald und den verschollenen ältesten Bruder, die Mutter löst meistens Kreuzworträtsel und erinnert sich an ihren Bruder, der im Krieg in Russland starb. Und die verschiedenen Onkel sind gar keine richtigen Onkel, sondern fast alle Jugendfreunde des Vaters. Der eine ist schweigsam und schwermütig, obwohl er in einem schönen Haus wohnt. Bei dem anderen ist der einzige Lichtblick das Essen der Tante Anni, Ribiseltorte mit überbackenem Eischaum oder die Schwarzwälder Kirschtorte mit viel Kirschen und viel Schlagobers, und dann noch der Onkel Fritz, der hatte auch irgend so eine dunkle Vergangenheit. Und die Nazi-Lehrerin, die blonde Schülerinnen bevorzugt und die deutsche Rechtschreibung nur mangelhaft beherrscht. In dieser abgeriegelten Atmosphäre nimmt sich jeder Heranwachsende seine Zeit, um Aufbruch zu buchstabieren. Bei Margit Schreiner können wir das Erwachsenwerden in der Studenten-WG oder in den Ritualen des Kommunistischen Studentenverbandes miterleben.
Im so genannten „Zweiten Teil” des Buchs blendet die Autorin dann über in die Gegenwart und in etwas fiktionalere Landschaften. Orte mit mehr Möglichkeitssinn vielleicht. Also verlassen wir auf kurze Zeit Linz und begeben uns nach Paris oder in die italienische Landschaft bei Rom, wo die Autorin selbst zeitweise lebt. So lose aneinandergefügt, schließen sich die einzelnen Teile des Bandes wie zu einem Kaleidoskop zusammen.„Als ob jemand ein riesiges Kaleidoskop aufgestellt hätte”, heißt es in einer Erzählung, „das, dreht man es nur immer wieder aufs neue, durch unendliche Kompositionsmöglichkeiten von bunten Steinen unendlich viele bunte Bilder hervorbrächte.” Etwas von dieser angenehmen Buntheit finden wir in der gesamten Erzählsammlung, eine spielerische Anordnung von Bildern und Motiven.
Yvonne Gebauer
Margit Schreiner
Die Eskimorolle
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2005. 185 Seiten, 19,90 Euro.
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Margit Schreiner beglückt eine Jugend in den sechziger und siebziger Jahren mit einer vollendeten Eskimorolle
Wer Wildwasserfahrten überleben möchte, sollte die Eskimorolle in jedem Fall kennen. Wer nach der Unterwasser-Drehung wieder auftaucht, der darf unversehrt weiterpaddeln. Margit Schreiners Erzählsammlung „Die Eskimorolle” ist vor neun Jahren zum ersten Mal erschienen und trug den sehr kräftigen Titel „Die Unterdrückung der Frau, die Virilität der Männer, der Katholizismus und der Dreck”. Jetzt wurde der Band wieder aufgelegt unter einem angemessen sanfteren Titel..
Die „Eskimorolle” besteht aus siebenundzwanzig einzelnen Teilen - Porträts, Episoden, Ausschnitten: Einzelteile aus einem Leben. Alles fängt an mit der Geburt im Jahr 1953 in Linz. Von hier aus geht es chronologisch mitten hinein in die Kindheit in der Nachkriegszeit. Da sind die Eltern, die so viel Vergangenheit und Bürde und Verschwiegenheit mit sich tragen. Der Vater erinnert sich an seine Jugend im Böhmerwald und den verschollenen ältesten Bruder, die Mutter löst meistens Kreuzworträtsel und erinnert sich an ihren Bruder, der im Krieg in Russland starb. Und die verschiedenen Onkel sind gar keine richtigen Onkel, sondern fast alle Jugendfreunde des Vaters. Der eine ist schweigsam und schwermütig, obwohl er in einem schönen Haus wohnt. Bei dem anderen ist der einzige Lichtblick das Essen der Tante Anni, Ribiseltorte mit überbackenem Eischaum oder die Schwarzwälder Kirschtorte mit viel Kirschen und viel Schlagobers, und dann noch der Onkel Fritz, der hatte auch irgend so eine dunkle Vergangenheit. Und die Nazi-Lehrerin, die blonde Schülerinnen bevorzugt und die deutsche Rechtschreibung nur mangelhaft beherrscht. In dieser abgeriegelten Atmosphäre nimmt sich jeder Heranwachsende seine Zeit, um Aufbruch zu buchstabieren. Bei Margit Schreiner können wir das Erwachsenwerden in der Studenten-WG oder in den Ritualen des Kommunistischen Studentenverbandes miterleben.
Im so genannten „Zweiten Teil” des Buchs blendet die Autorin dann über in die Gegenwart und in etwas fiktionalere Landschaften. Orte mit mehr Möglichkeitssinn vielleicht. Also verlassen wir auf kurze Zeit Linz und begeben uns nach Paris oder in die italienische Landschaft bei Rom, wo die Autorin selbst zeitweise lebt. So lose aneinandergefügt, schließen sich die einzelnen Teile des Bandes wie zu einem Kaleidoskop zusammen.„Als ob jemand ein riesiges Kaleidoskop aufgestellt hätte”, heißt es in einer Erzählung, „das, dreht man es nur immer wieder aufs neue, durch unendliche Kompositionsmöglichkeiten von bunten Steinen unendlich viele bunte Bilder hervorbrächte.” Etwas von dieser angenehmen Buntheit finden wir in der gesamten Erzählsammlung, eine spielerische Anordnung von Bildern und Motiven.
Yvonne Gebauer
Margit Schreiner
Die Eskimorolle
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2005. 185 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Yvonne Gebauer hat deutliche Sympathien für Margit Schreiners - vor sieben Jahren schon einmal unter anderem Titel erschienene - "Eskimorolle". Eine Mischung aus autobiografischen Skizzen, Szenen, Porträts, insgesamt sind es 27 Einzelstücke, erfahren wir. 1953 in Linz nimmt diese kaleidoskopische Textsammlung ihren Anfang. Da wird die leicht unheimliche Familienidylle beschworen - im Hintergrund schweben Gespenster aus dem Weltkrieg -, danach der kommunistisch und WG-kommunardisch grundierte Aufbruch ins Erwachsensein. Später, im zweiten Teil, kommen Paris und Italien als Erlebnishintergründe hinzu. Einen spielerischen Zug lobt Gebauer der Verfasserin nach, eine "angenehme Buntheit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es war ein Glücksfall von Margit Schreiner bei Schöffling eine neue Heimat zu finden. (...) Ihre Leichtigkeit lässt fast übersehen, wie durchkomponiert ihre Texte sind.« Evelyne Polt-Heinzl, Die Presse