Ein junges Mädchen aus der Provinz findet Arbeit im Labor von Herrn Deshimaru. Dieser hat sich darauf spezialisiert, von den guten und schlechten Erinnerungen seiner Kunden ein Präparat herzustellen: die Knochen eines Vogels, eine kaum sichtbare Narbe auf der Wange eines Mädchens, winzige Pilze, die in der Ruine eines abgebrannten Hauses gefunden wurden, die Töne einer Partitur ... Das Labor ist in einem ehemaligen Mädchenwohnheim untergebracht, bis auf Herrn Deshimaru halten sich nur noch zwei ältere Damen in dem verlassenen Gebäude auf. Von diesen erfährt das Mädchen, daß alle bisherigen Assistentinnen von Herrn Deshimaru nach und nach spurlos verschwunden sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2003Archiv der abgelegten Erinnerung
Lebensmüde am Beckenrand: Yôko Ogawas morbide Erzählung
Dem Leser dieser Erzählung geht es wie dem Beobachter einer Fliege im Schaukasten mit fleischfressenden Pflanzen in einem botanischen Garten. Wir sehen die Fliege, deren Schicksal vorgezeichnet ist, um die Blüte schwirren, sie einkreisen, außen an ihr herumwandern und sich der verschlingenden Öffnung ein paarmal scheinbar absichtslos nähern, bis sie schließlich, schwups, im Abgrund verschwindet. Dann sehen wir sie durch die halbtransparente Pflanzenhaut hindurch in der giftigen Flüssigkeit am Boden des Kelchs noch ein wenig zappeln. Allerdings hat Yôko Ogawa die Perspektive der Fliege gewählt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht einer merkwürdig ahnungslosen und passiven jungen Frau. Die Ich-Erzählerin, eine vollkommen isolierte Person, hat die reichlich trostlose Fließbandarbeit in einer Limonadenfabrik an den Nagel gehängt, nachdem sie bei einem Betriebsunfall die Kuppe ihres linken Ringfingers verloren hatte. In einer nahe gelegenen Stadt findet sie eine Anstellung in einem Labor, wo sie allerlei Büroarbeiten ausführt. Die Arbeitsbedingungen sind nicht schlecht, denn sie bekommt nicht nur mehr Freizeit und Lohn, sondern kann recht frei schalten und walten, zumal ihr Arbeitgeber sie kaum kontrolliert, denn er ist der einzige, der in dem riesigen, etwas abgewrackten Gebäude neben ihr noch tätig ist: Sie nimmt die Aufträge an, er arbeitet den Tag über im Keller des Hauses, das vor vielen Jahren ein Mädchenwohnheim gewesen war.
Das Labor hat sich auf die Präparierung von Erinnerungsgegenständen spezialisiert. Sie werden von den Kunden hergebracht und können nach Ausführung des Auftrags im Gebäude deponiert werden. Die Besichtigung ist jederzeit möglich, doch kaum ein Kunde legt Wert darauf, sein Präparat - seien es Vogelknochen, Pilze, Manschettenknöpfe oder ein Becherglas mit Sperma - noch einmal zu sehen. Ob man das seltsame Labor daher wirklich als "Rettungsstation für Gegenstände" bezeichnen sollte, wie es die junge Frau einer Kundin gegenüber erläutert, oder nicht eher als Depot für Dinge, die man loswerden und vergessen möchte, bleibe dahingestellt. "Der Sinn eines Präparats", so erklärt der Herr dieser merkwürdigen und morbiden Betonfestung namens Deshimaru denn auch, "besteht ja gerade darin, daß es eingeschlossen, isoliert und archiviert ist. Einen Gegenstand präparieren lassen, um sich immer wieder wehmütig an ihn zu erinnern, wäre ein Widerspruch. Das macht niemand."
Außer dem Alltag in diesem verschlossen und verkommen wirkenden Bau scheint es für die Ich-Erzählerin kein Leben zu geben. Und in seinem Innern spielt sich ebenfalls kaum etwas ab. Jedoch übt der Chef, der ebensowenig beschrieben wird wie die Ich-Erzählerin, eine vage, von Angst durchsetzte Faszination auf die junge Frau aus. Gemeinsam sitzen sie in einem unterirdischen großen Baderaum am Rand des leeren Bassins. Gern wüßten wir, worüber sie sich austauschen, aber wir erfahren nur, daß sie sich vom Chef entkleiden läßt: "Es war klar, daß Herr Deshimaru mich begehrte und ich nicht abgeneigt war."
So klar ist allerdings nicht vieles in dieser Erzählung, die man keinesfalls einen Roman nennen sollte. Die wenigen Personen bleiben merkwürdig abstrakt, und so versucht man sich beim Lesen statt dessen an Detailbeschreibungen zu orientieren. Doch allzuoft stolpert man über erzählerische Ungenauigkeiten und verhakt sich in fahrigen Schilderungen und schiefen, wenn nicht falschen Details.
Einige Signale in diesem 1994 im Original erschienenen Werk der japanischen Autorin sind jedoch unübersehbar. So versucht sie, die unheilschwangere Atmosphäre mit Anleihen bei Richard Harris' Roman "Das Schweigen der Lämmer" anzureichern. Das wiederholt erwähnte Schmetterlingsmuster im leeren Badebecken beispielsweise ist ein solches Indiz. Dann die allzu perfekt sitzenden Lederschuhe, die die Ich-Erzählerin vom Präparator bekommt und die sich an ihren Füßen festzusaugen scheinen. Daß alle vor ihr in der Betonfestung tätigen jungen Frauen spurlos verschwunden sind, scheint sie nicht wirklich zu ängstigen. Und daß der Präparator ihr auch nicht den Verbleib des Mädchens erklären kann, dessen Gesichtsnarbe er - wie wohl? - zu konservieren hatte, hat keinen Ausbruchsversuch zur Folge. Im Gegenteil, sie legt es geradezu auf denselben Ausgang an. Die Fliege zögert nicht einmal an der Kante des Kelchs.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT.
Yôko Ogawa: "Der Ringfinger". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2002. 110 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebensmüde am Beckenrand: Yôko Ogawas morbide Erzählung
Dem Leser dieser Erzählung geht es wie dem Beobachter einer Fliege im Schaukasten mit fleischfressenden Pflanzen in einem botanischen Garten. Wir sehen die Fliege, deren Schicksal vorgezeichnet ist, um die Blüte schwirren, sie einkreisen, außen an ihr herumwandern und sich der verschlingenden Öffnung ein paarmal scheinbar absichtslos nähern, bis sie schließlich, schwups, im Abgrund verschwindet. Dann sehen wir sie durch die halbtransparente Pflanzenhaut hindurch in der giftigen Flüssigkeit am Boden des Kelchs noch ein wenig zappeln. Allerdings hat Yôko Ogawa die Perspektive der Fliege gewählt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht einer merkwürdig ahnungslosen und passiven jungen Frau. Die Ich-Erzählerin, eine vollkommen isolierte Person, hat die reichlich trostlose Fließbandarbeit in einer Limonadenfabrik an den Nagel gehängt, nachdem sie bei einem Betriebsunfall die Kuppe ihres linken Ringfingers verloren hatte. In einer nahe gelegenen Stadt findet sie eine Anstellung in einem Labor, wo sie allerlei Büroarbeiten ausführt. Die Arbeitsbedingungen sind nicht schlecht, denn sie bekommt nicht nur mehr Freizeit und Lohn, sondern kann recht frei schalten und walten, zumal ihr Arbeitgeber sie kaum kontrolliert, denn er ist der einzige, der in dem riesigen, etwas abgewrackten Gebäude neben ihr noch tätig ist: Sie nimmt die Aufträge an, er arbeitet den Tag über im Keller des Hauses, das vor vielen Jahren ein Mädchenwohnheim gewesen war.
Das Labor hat sich auf die Präparierung von Erinnerungsgegenständen spezialisiert. Sie werden von den Kunden hergebracht und können nach Ausführung des Auftrags im Gebäude deponiert werden. Die Besichtigung ist jederzeit möglich, doch kaum ein Kunde legt Wert darauf, sein Präparat - seien es Vogelknochen, Pilze, Manschettenknöpfe oder ein Becherglas mit Sperma - noch einmal zu sehen. Ob man das seltsame Labor daher wirklich als "Rettungsstation für Gegenstände" bezeichnen sollte, wie es die junge Frau einer Kundin gegenüber erläutert, oder nicht eher als Depot für Dinge, die man loswerden und vergessen möchte, bleibe dahingestellt. "Der Sinn eines Präparats", so erklärt der Herr dieser merkwürdigen und morbiden Betonfestung namens Deshimaru denn auch, "besteht ja gerade darin, daß es eingeschlossen, isoliert und archiviert ist. Einen Gegenstand präparieren lassen, um sich immer wieder wehmütig an ihn zu erinnern, wäre ein Widerspruch. Das macht niemand."
Außer dem Alltag in diesem verschlossen und verkommen wirkenden Bau scheint es für die Ich-Erzählerin kein Leben zu geben. Und in seinem Innern spielt sich ebenfalls kaum etwas ab. Jedoch übt der Chef, der ebensowenig beschrieben wird wie die Ich-Erzählerin, eine vage, von Angst durchsetzte Faszination auf die junge Frau aus. Gemeinsam sitzen sie in einem unterirdischen großen Baderaum am Rand des leeren Bassins. Gern wüßten wir, worüber sie sich austauschen, aber wir erfahren nur, daß sie sich vom Chef entkleiden läßt: "Es war klar, daß Herr Deshimaru mich begehrte und ich nicht abgeneigt war."
So klar ist allerdings nicht vieles in dieser Erzählung, die man keinesfalls einen Roman nennen sollte. Die wenigen Personen bleiben merkwürdig abstrakt, und so versucht man sich beim Lesen statt dessen an Detailbeschreibungen zu orientieren. Doch allzuoft stolpert man über erzählerische Ungenauigkeiten und verhakt sich in fahrigen Schilderungen und schiefen, wenn nicht falschen Details.
Einige Signale in diesem 1994 im Original erschienenen Werk der japanischen Autorin sind jedoch unübersehbar. So versucht sie, die unheilschwangere Atmosphäre mit Anleihen bei Richard Harris' Roman "Das Schweigen der Lämmer" anzureichern. Das wiederholt erwähnte Schmetterlingsmuster im leeren Badebecken beispielsweise ist ein solches Indiz. Dann die allzu perfekt sitzenden Lederschuhe, die die Ich-Erzählerin vom Präparator bekommt und die sich an ihren Füßen festzusaugen scheinen. Daß alle vor ihr in der Betonfestung tätigen jungen Frauen spurlos verschwunden sind, scheint sie nicht wirklich zu ängstigen. Und daß der Präparator ihr auch nicht den Verbleib des Mädchens erklären kann, dessen Gesichtsnarbe er - wie wohl? - zu konservieren hatte, hat keinen Ausbruchsversuch zur Folge. Im Gegenteil, sie legt es geradezu auf denselben Ausgang an. Die Fliege zögert nicht einmal an der Kante des Kelchs.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT.
Yôko Ogawa: "Der Ringfinger". Roman. Aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2002. 110 S., geb., 15,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Zwei ältere, jetzt ins Deutsche übersetzte Romane der Japanerin Yoko Ogawa stellt Peter Urban-Halle uns vor. Beide Bücher, schreibt er, das 1996 im Original erschienene "Hotel Iris" und "Der Ringfinger" von 1994, sind "in Konstruktion und Ton überzeugende Geschichten". Dass sie nicht frei sind von Schocks, wie der Rezensent erklärt, hat damit zu tun, dass "sie sich auf die beiden existentiellen Extreme konzentrieren: Erotik und Tod". Wenn es wie im "Ringfinger" um einen Präparator von Mädchen-Fingerkuppen geht etwa. Verblüfft hat Urban-Halle die Kunstlosigkeit, mit der hier erzählt wird, weil die Wirkung nur um so dramatischer ist, "je nackter die Sätze und innerlich regungsloser die Figuren" sind. Ohne psychologische Erklärungen und "abgeschirmt gegen das heutige Übermaß lauter und bunter Sinneseindrücke", reduziere die Autorin ihre Geschichten auf die Beziehung zweier Menschen: "immer einer jungen Frau, die sich in die Abhängigkeit eines älteren, erfahrenen Mannes begibt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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