Im Morgengrauen eines Julitages 1750 bricht eine bunt gemischte Gesellschaft auf zu einer Lustfahrt. Die Geisteskoryphäen der Stadt haben den gefeierten jungen Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock eingeladen, mit ihnen den Tag auf dem Boot zu verbringen. Ihr Spiel: ein amouröser Partnertausch – ein Skandal im sittenstrengen Zürich. Die Damen wie die Herren hängen an den Lippen des Dichters, der mit seinen aufsehenerregenden Poemen die Gefühlswelt für die deutsche Literatur entdeckt hat. Doch dann übermannt ihn selbst das Gefühl. Er verfällt der kaum siebzehnjährigen Schönheit Anna Schinz. Der Tag wird turbulent und droht alle Schranken zu durchbrechen. Keiner der Beteiligten wird ihn je vergessen können. Mit Klopstocks Ode »Der Zürchersee« ist er in die Literaturgeschichte eingegangen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2015Wie Klopstock einmal seinen Nektar verlor
Lustfahrt mit Gelehrten: Lucien Deprijck gestaltet um die Ode vom Zürchersee einen historischen Roman
"Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht": so setzt Klopstocks wohl berühmtestes Gedicht ein. Es beschreibt, anders als der Titel "Der Zürchersee" es vermuten lässt, aber weniger den See und die umliegende Umgebung, sondern schwingt sich zu einer emphatischen Feier der Freundschaft auf. Bruchstückhaft werden auch Anlass und Erlebnishintergrund des Gedichtes sichtbar, nämlich eine Bootsfahrt auf dem See am 30. Juli 1750, die durch mehrere briefliche Beschreibungen dokumentiert ist. Diese nimmt Lucien Deprijck zum Ausgangspunkt seiner erzählerischen Ausgestaltung jenes Tages.
Er schlüpft dafür in verschiedene Figuren, aus deren Perspektive er den Tag abwechselnd erzählt. Da ist zum Beispiel Hans Caspar Hirzel, der Klopstock in Deutschland kennengelernt und nach Zürich eingeladen hat. Er ist der Organisator der Bootsfahrt und besorgt, dass es seinem prominenten Gast auch gefällt. Da ist Johann Jakob Bodmer, der berühmte Gelehrte, der sich der Vergnügungsfahrt entzieht und in einem einfühlsamen Kapitel die Enttäuschung über seinen deutschen Gast reflektiert. Und da ist natürlich Friedrich Gottlieb Klopstock, der gefeierte Dichter des Versepos "Der Messias", der so gar nicht dem seraphischen Bild entspricht, das seine Gedichte vermitteln, und durch sein ungezwungenes Benehmen die strenge Etikette der Züricher Gesellschaft aufsprengt.
Immer wieder wird die Außergewöhnlichkeit dieser uns so banal anmutenden Lustfahrt betont, welche die Teilnehmenden nicht nur ihren Alltagsgeschäften, sondern auch der zeitgenössischen Sittenstrenge entführt. Für einen Tag werden Paarkonstellationen entworfen, die keine Rücksichten auf bestehende Ehen oder anstehende Brautwerbungen nehmen. Und Klopstock, dem kritische Geister Vergnügungssucht unterstellten, fühlt sich besonders zu der erst siebzehnjährigen Anna Maria Schinz hingezogen, die er umwirbt und regelrecht bedrängt, ohne ihren Eigensinn brechen zu können.
Vielleicht ist sie die interessanteste, weil unwahrscheinlichste Figur des ganzen Romans. Schön ist sie und scheu, aber auch freidenkerisch und aufbegehrend. Muss es nicht notwendigerweise ein Ende der Welt geben, oder gibt es mehrere Welten nebeneinander? Ist die Idee der Vorbestimmtheit alles Seins in sich nicht unlogisch? Irritiert reagiert Klopstock auf ihre heterodoxen Ansichten und versucht, sie in ihre Frauenrolle zurückzudrängen. Hier gelingen Deprijck auch kleinere ironische Dialoge, die an ihren besten Stellen an Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt" erinnern: "Aha, sagte sie. Was, aha, fragte er. Aufopferungsvoll. Und klug. Er seufzte. Seinetwegen." Klopstocks galante Verführungskünste stoßen bei einer Frau, die sich beim Anblick einer Sternschnuppe nur die Erlösung für Abbadonna, eine Figur aus dem "Messias", wünscht, jedenfalls an ihre Grenzen.
Weniger geglückt ist die Gestaltung Klopstocks, über dessen Antriebskräfte man nicht recht viel erfährt. Dass er enerviert ist, ständig auf sein Hauptwerk angesprochen zu werden, ist nachvollziehbar. Seine sexuellen Nöte allerdings will der Leser in dieser Form gar nicht unbedingt wissen. Wenn er bei einem gezielten Alleingang "seinen Nektar" loswird, ist dies, zumindest sprachlich, peinlich. Sichtbar wird hier nicht zuletzt ein Grundproblem jedes historischen Erzählens, eine angemessene, weder zu modern noch zu gestelzt wirkende Form der Sprache zu wählen, die überzeugt. Besonders schwierig, ein Blick in die Dichtungen und die Briefliteratur der Zeit genügt, ist dies für die Epoche vor der Goethe-Zeit. Die Begeisterung der Zeitgenossen für Klopstocks "Messias" - sie ist für heutige Leser kaum mehr nachzuvollziehen. Vor diesem Hintergrund muss man Deprijck einen meist sensiblen, wenngleich manchmal etwas harmlosen Stil bescheinigen.
So wie der Roman mit dem Tagesanbruch beginnt, endet er mit dem Bild der Nacht. Die Gesellschaft geht auseinander und wird in dieser Form nicht wieder zusammentreffen. Und das bedeutendste Ergebnis, Klopstocks Ode "Der Zürchersee", spart Deprijck nicht ungeschickt aus.
THOMAS MEISSNER
Lucien Deprijck: "Ein letzter Tag Unendlichkeit".
Geschichte einer Lustfahrt. Roman.
Unionsverlag, Zürich 2015. 237 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lustfahrt mit Gelehrten: Lucien Deprijck gestaltet um die Ode vom Zürchersee einen historischen Roman
"Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht": so setzt Klopstocks wohl berühmtestes Gedicht ein. Es beschreibt, anders als der Titel "Der Zürchersee" es vermuten lässt, aber weniger den See und die umliegende Umgebung, sondern schwingt sich zu einer emphatischen Feier der Freundschaft auf. Bruchstückhaft werden auch Anlass und Erlebnishintergrund des Gedichtes sichtbar, nämlich eine Bootsfahrt auf dem See am 30. Juli 1750, die durch mehrere briefliche Beschreibungen dokumentiert ist. Diese nimmt Lucien Deprijck zum Ausgangspunkt seiner erzählerischen Ausgestaltung jenes Tages.
Er schlüpft dafür in verschiedene Figuren, aus deren Perspektive er den Tag abwechselnd erzählt. Da ist zum Beispiel Hans Caspar Hirzel, der Klopstock in Deutschland kennengelernt und nach Zürich eingeladen hat. Er ist der Organisator der Bootsfahrt und besorgt, dass es seinem prominenten Gast auch gefällt. Da ist Johann Jakob Bodmer, der berühmte Gelehrte, der sich der Vergnügungsfahrt entzieht und in einem einfühlsamen Kapitel die Enttäuschung über seinen deutschen Gast reflektiert. Und da ist natürlich Friedrich Gottlieb Klopstock, der gefeierte Dichter des Versepos "Der Messias", der so gar nicht dem seraphischen Bild entspricht, das seine Gedichte vermitteln, und durch sein ungezwungenes Benehmen die strenge Etikette der Züricher Gesellschaft aufsprengt.
Immer wieder wird die Außergewöhnlichkeit dieser uns so banal anmutenden Lustfahrt betont, welche die Teilnehmenden nicht nur ihren Alltagsgeschäften, sondern auch der zeitgenössischen Sittenstrenge entführt. Für einen Tag werden Paarkonstellationen entworfen, die keine Rücksichten auf bestehende Ehen oder anstehende Brautwerbungen nehmen. Und Klopstock, dem kritische Geister Vergnügungssucht unterstellten, fühlt sich besonders zu der erst siebzehnjährigen Anna Maria Schinz hingezogen, die er umwirbt und regelrecht bedrängt, ohne ihren Eigensinn brechen zu können.
Vielleicht ist sie die interessanteste, weil unwahrscheinlichste Figur des ganzen Romans. Schön ist sie und scheu, aber auch freidenkerisch und aufbegehrend. Muss es nicht notwendigerweise ein Ende der Welt geben, oder gibt es mehrere Welten nebeneinander? Ist die Idee der Vorbestimmtheit alles Seins in sich nicht unlogisch? Irritiert reagiert Klopstock auf ihre heterodoxen Ansichten und versucht, sie in ihre Frauenrolle zurückzudrängen. Hier gelingen Deprijck auch kleinere ironische Dialoge, die an ihren besten Stellen an Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt" erinnern: "Aha, sagte sie. Was, aha, fragte er. Aufopferungsvoll. Und klug. Er seufzte. Seinetwegen." Klopstocks galante Verführungskünste stoßen bei einer Frau, die sich beim Anblick einer Sternschnuppe nur die Erlösung für Abbadonna, eine Figur aus dem "Messias", wünscht, jedenfalls an ihre Grenzen.
Weniger geglückt ist die Gestaltung Klopstocks, über dessen Antriebskräfte man nicht recht viel erfährt. Dass er enerviert ist, ständig auf sein Hauptwerk angesprochen zu werden, ist nachvollziehbar. Seine sexuellen Nöte allerdings will der Leser in dieser Form gar nicht unbedingt wissen. Wenn er bei einem gezielten Alleingang "seinen Nektar" loswird, ist dies, zumindest sprachlich, peinlich. Sichtbar wird hier nicht zuletzt ein Grundproblem jedes historischen Erzählens, eine angemessene, weder zu modern noch zu gestelzt wirkende Form der Sprache zu wählen, die überzeugt. Besonders schwierig, ein Blick in die Dichtungen und die Briefliteratur der Zeit genügt, ist dies für die Epoche vor der Goethe-Zeit. Die Begeisterung der Zeitgenossen für Klopstocks "Messias" - sie ist für heutige Leser kaum mehr nachzuvollziehen. Vor diesem Hintergrund muss man Deprijck einen meist sensiblen, wenngleich manchmal etwas harmlosen Stil bescheinigen.
So wie der Roman mit dem Tagesanbruch beginnt, endet er mit dem Bild der Nacht. Die Gesellschaft geht auseinander und wird in dieser Form nicht wieder zusammentreffen. Und das bedeutendste Ergebnis, Klopstocks Ode "Der Zürchersee", spart Deprijck nicht ungeschickt aus.
THOMAS MEISSNER
Lucien Deprijck: "Ein letzter Tag Unendlichkeit".
Geschichte einer Lustfahrt. Roman.
Unionsverlag, Zürich 2015. 237 S., geb., 19,95 [Euro].
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»Lucien Deprijck nimmt uns mit auf eine spannende Zeitreise ins Jahr 1750, er nimmt uns mit auf den Zürichsee und erstaunt beginnen wir zu merken, dass das alles ganz nah ist - eine Geschichte, die uns anspricht, die uns berührt.« Johannes Schröer Domradio