Gesellschaftsportrait mit Teufel
„Linden Hills“ wurde bereits 1985 veröffentlicht, aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Zum Glück - denn Gloria Naylor hat mit ihrem Roman ein sehr dichtes, zeitloses Gesellschaftsportrait geschaffen, bei dem ich mir eine wiederholte Lektüre gut vorstellen
kann.
Die Struktur des Romans ist ungewöhnlich, einen stringenten Handlungsverlauf sucht man vergeblich.…mehrGesellschaftsportrait mit Teufel
„Linden Hills“ wurde bereits 1985 veröffentlicht, aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Zum Glück - denn Gloria Naylor hat mit ihrem Roman ein sehr dichtes, zeitloses Gesellschaftsportrait geschaffen, bei dem ich mir eine wiederholte Lektüre gut vorstellen kann.
Die Struktur des Romans ist ungewöhnlich, einen stringenten Handlungsverlauf sucht man vergeblich. Trotz allem wird der Roman durch eine Art Rahmenerzählung und zwei Hauptfiguren zusammengehalten.
Linden Hills ist eine Wohngegend exklusiv für Menschen schwarzer Hautfarbe, die es zu etwas gebracht haben, die einer aufsteigenden Klasse angehören.
Die Erfolgsgeschichte Linden Hills beginnt 1820 mit dem Kauf eines Stück Lands durch Luther Nedeed. Die Weißen machen sich zunächst lustig über ihn, reiben sich die Hände, weil sie viel Geld für das unbrauchbare Land, das direkt an den Friedhof grenzt, erhalten haben. Luther baut ein Haus, bietet seine Dienste als Bestatter an und verdient gut mit seiner Geschäftsidee. Die Zeit vergeht - in jeder Generation gibt es einen männlichen Nachkommen, der den Namen Luther Nedeed erhält. Jeder prägt Linden Hills auf seine Weise, bleibt aber dem Beruf des Bestatters ebenso treu wie der Sitte, eine möglichst hellhäutige (zu 1/8 schwarze) Frau zu ehelichen und genau einen Sohn zu zeugen. Meilensteine in der Entwicklung von Linden Hills sind der Bau von Hütten, die an ausgesuchte Schwarze vermietet werden und ein ausgeklügelter Pachtvertrag, der sicher stellt, dass über die kommenden 1001 Jahre alle Häuser in Linden Hills von Schwarzen bewohnt werden, die zudem Luthers moralischen Kriterien entsprechen müssen.
Wichtig zu erwähnen ist noch, dass Naylor zahlreiche Bezüge zu Dantes Inferno herstellt: einige Hinweise sind in ihrer Bedeutung verdreht, andere sind offensichtlich wie z.B. die acht Ringstraßen, die es in Linden Hills gibt, und die mit den Höllenkreisen korrespondieren. Dabei sind die Häuser in Linden Hills luxuriöser je weiter man nach unten gelangt in Richtung der achten Ringstraße und damit in die Nähe von Luther Nedeeds Haus. Für das grundlegende Verständnis des Romans ist die Kenntnis von Dantes Inferno nicht notwendig, allerdings eröffnen sich eine Fülle weiterer Deutungsebenen, wenn der Text bekannt ist.
Willie Mason und Lester Tilson, zwei junge Männer, die beide Gedichte schreiben und lieben, sind die zwei Hauptcharaktere, die uns in den 1980er Jahren durch Linden Hills führen. Lester wohnt mit seiner Mutter und Schwester ganz oben in Linden Hills, während Willie außerhalb im angrenzenden, ärmeren Stadtteil wohnt. Beide benötigen dringend Geld für den Kauf von Weihnachtsgeschenken. Deshalb bieten sie in den Tagen vor Weihnachten, ihre Dienste in den Häusern der Reichen an. Sie erhalten unterschiedliche Gelegenheitsjobs und erleben viel Denkwürdiges in diesen Tagen. In einem Haus wird z.B. eine pompöse Trauerfeier inszeniert oder ein junger Mann geht eine Scheinhochzeit zugunsten seiner Karriere und seines gesellschaftlichen Ansehens ein. Naylor zeigt Menschen, die ihren innersten Bedürfnissen zuwiderhandeln, es aber in ihrer Verblendung nicht merken. Die Themen Rassismus, Klassismus, Sexismus sind immer im Hintergrund präsent, spielen eine Rolle - aber Naylor geht einen Schritt weiter: Ich lese ihren Roman als Plädoyer sich nicht in solchen Oberflächlichkeiten zu verlieren, sondern sich daran zu erinnern, was Menschsein bedeutet und seine Menschlichkeit sich selbst und anderen gegenüber nicht zu verlieren.
Naylor bricht mehr als einmal mit der Erwartungshaltung ihrer Leser:innen. Da es viele Brüche gibt, ist konzentriertes Lesen erforderlich, um die Zusammenhänge der einzelnen Geschichten zu begreifen. Es bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Die Autorin liefert keine einfachen Antworten, sondern zeigt Situationen und hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Einige Andeutungen verlieren sich und werden nicht wieder aufgegriffen. Die Geschichte rund um Luther Nedeed ist eigenwillig, hat etwas Gruseliges und bringt eine weitere, symbolische Ebene in die Geschichte, die ein reines Gesellschaftsdrama so nicht hätte. Wenn der Teufel persönlich auftritt, darf natürlich eine Lichtgestalt nicht fehlen. In Linden Hills wird diese durch einen Priester repräsentiert, der seine ganz eigenen Probleme hat.
Mir gefallen Naylors Sprache, ihre detaillierten, ambivalenten Figurenzeichnungen, ihre Klarsicht und ihre Fähigkeit, eine ungewöhnliche Geschichte zu schreiben, in der so viel zeitlose Gesellschaftskritik steckt. Die Spannung, die die Geschichte durch die finstere Gestalt des Luther Nedeed erhält, fand ich persönlich schaurig großartig. Ich bin glücklich, diese Autorin entdeckt zu haben. Für mich ist Linden Hills ein Stück dichte, anspruchsvolle Weltliteratur.