Djamschid Khan ist hinter dicken Gefängnismauern dünn geworden. Leicht wie Papier, sodass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und ihn fortträgt, über die Mauern des Gefängnisses hinweg und hinaus in die weite Welt. Immer wieder weht er davon, und immer wieder beginnt er ein neues Leben. Bei der Armee, als Geist, als Prophet, als Geliebter, als fliegende Attraktion – zahllose Wirbel ziehen den Mann mit sich fort, bis er selbst nicht mehr weiß, wer er einmal war und wohin er gehört. Einzig sein Neffe ist auf der Suche nach ihm und nach etwas, das seinem Onkel seine Wurzeln zurückgibt. Eine schwerelose, berührende, auch tragische Geschichte vom sich Verlaufen, vom neu Beginnen und der Frage, wohin wir eigentlich unterwegs sind.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Martin Ebel folgt Ali Bachtyar in Siebenmeilenstiefeln auf seinem Flug durch die kurdische Geschichte des Nordiraks. Bachtyars neues Buch, "Mein Onkel, den der Wind mitnahm", mag strukturell ein Schelmenroman sein, erklärt Ebel, aber sein Held ist umgeben von "tiefer Melancholie": Bachtyar erzählt in seinem "bitteren Märchen" von einem Mann, der von den Schergen Saddam Husseins so grausam gefoltert wurde, dass ein Lufthauch den Abgemagerten wegwehen könnte. Er muss also festgebunden werden auf der Erde. Dass dennoch alle Parteien, Machthaber und Armeen versuchen, den "fliegenden Kurden" für ihre Kämpfe zu missbrauchen, erlebt der Rezensent in einer tiefernsten Prosa, die für ihn durchaus etwas Pessimistisches hat, aber stets, wie er betont, das Politische und das Poetische in einer "einzigartigen Erzählsprache" verbindet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2022Die Dinge, wie Gott sie sieht
Ein Held, der durch Folter so abmagert, dass er fliegen lernt: Wie politische Tyrannei ein Leben vor sich hertreibt, erzählt Bachtyar Ali – als Märchen
Unter den 27 Geflüchteten, die im November im Ärmelkanal ertrunken sind, waren etliche Kurden. Und unter denen, die auch im neuen Jahr weiter an der Grenze zwischen Belarus und Polen in der Kälte ausharren, stammt sogar der größte Teil aus dem Nordirak. Dort lebt die kurdische Bevölkerung zwar schon seit 1992, als die USA eine Flugverbotszone verhängten, in weitgehender Autonomie. Die ökonomischen und politischen Verhältnisse aber sind desolat. Zwei Parteien, hinter denen zwei Clans stehen, haben das Land unter sich aufgeteilt, zwei Drittel aller Haushalte leben vom Staat, der aber unregelmäßig zahlt; die allgegenwärtige Korruption verhindert den Aufstieg der Tüchtigen. Kein Wunder, dass junge Menschen von dort sich um jeden Preis nach Westeuropa durchzuschlagen versuchen.
Wenn sie nur fliegen könnten wie der Held in Bachtyar Alis Roman „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“! Der ist nicht ohne Grund ein Märchen, ein bitteres dazu, und die besondere Befähigung seines Helden hat eine schreckliche Ursache: Djamschid wurde von Schergen des Baath-Regimes so grausam gefoltert, dass er radikal abmagerte – bis ihn jeder Windhauch davonwehen konnte. Sein Körper, von den Schmerzen zermürbt, hatte sich gewissermaßen verabschiedet. Das war 1979, eine der wenigen präzisen Zeitangaben in Bachtyar Alis Roman, der ansonsten mit Sprüngen – zwei Jahre später, zehn Jahre später – arbeitet und mit konkreten Details aus der Geschichte sparsam umgeht.
Wegen Djamschids Papiergewicht – „seitlich betrachtet war er nicht mehr als eine Linie“ – stellt ihm das Familienoberhaupt zwei Begleiter, Diener, Aufpasser zur Seite, die ihn mit Seilen am Boden halten. Es sind zwei Cousins, die „nutzlosesten Familienmitglieder“; einer von ihnen, Salar, ist der Ich-Erzähler des Romans. Djamschid lernt die Vorzüge des Fliegens kennen, den Abstand zum Elend am Boden, den „Panoramablick“ von oben: „Ich sehe die Dinge, wie Gott sie sieht.“ Profit daraus ziehen aber bald andere. Das irakische Militär zwingt ihn im Krieg mit Iran zu Aufklärungsflügen über der Front, er sieht tote Soldaten auf beiden Seiten und trägt durch seine Informationen dazu bei, dass es noch mehr werden. Bald abgeschossen, nutzen ihn die Iraner ihrerseits zur geistigen Aufrüstung ihrer Truppen: Sie lassen Djamschid über ihnen schweben als Erscheinung des Imam Hussain, der ihnen den Sieg verheißt.
Immer wieder kehrt der „fliegende Kurde“ zurück in sein Heimatdorf in den Bergen, versucht, Fuß auf der Erde und im Leben zu fassen, und wird doch wieder davongetragen. Ein Heiratsversuch endet unglücklich; ausgeplündert, zum Pantoffelhelden und Hahnrei gemacht, landet er bei PKK-Partisanen, die gegen die türkische Armee kämpfen. Dann instrumentalisiert ihn ein korrupter Mullah – Djamschid hat schließlich bei einem Aufstieg „Gott gesehen“. Später macht er Karriere und ein Vermögen als Schlepper, der aus der Luft große Gruppen von Flüchtlingen über die türkisch-griechische Grenze dirigiert. Nach zehnjähriger Odyssee durch die Lüfte landet er in den Fängen eines irakischen Oligarchen, der ihn zu Privatbelustigungen in ein Clownskostüm steckt. Letzte Station ist ein türkischer Vergnügungspark, aus dem ihn Salar befreit und in die Heimat zurückbringt.
Bachtyar Ali, 1966 im irakischen Kurdistan geboren, erzählt diese Geschichte vom ständigen Aufstieg und Fall, dem buchstäblichen wie metaphorischen, in flottem Tempo, seine Prosa hat Siebenmeilenstiefel, er hält sich weder mit Landschaften noch mit psychologischen Tiefenbohrungen auf. „Mein Onkel, der den Wind mitnahm“ ist von der episodischen Struktur her ein Schelmenroman, nur dass dieser Schelm ein passiver Held ist, ohne Witz, ohne Lebenstüchtigkeit, ohne Gewieftheit, dafür umgeben von tiefer Melancholie. Bei jedem Absturz verliert der „fliegende Kurde“ sein Gedächtnis und seine Identität, aus dem Kommunisten wird ein Fundamentalist, aus dem Frauenversteher ein Bordellbesucher, aus dem Menschenfreund ein Verbrecher: Er gründet eine „verdeckte Nachrichtenagentur“ und nutzt die Ergebnisse seiner Investigationen (und seine Einblicke von oben in private Verhältnisse), um hohe Summen zu erpressen. Djamschid ist immer in Bewegung, die Folter hat ihn seiner Identität beraubt, die politischen Verhältnisse zerstören alle Versuche, eine menschenwürdige Existenz zu führen.
Bachtyar Ali, der das Rad der Fortuna – wie es in der abendländischen Literatur heißen könnte – mit durchaus erzählerischer Lust, aber mit tiefem Lebenspessimismus dreht, weitet die Symbolik über den Fall Djamschids aus. Die Geflüchteten, die dieser aus der Luft über die Grenzen dirigiert, sind für ihn eine „neue Nation“, und er selbst ist ihr Prophet. Das Paradies, das an einer Stelle des Buches skizziert wird, erfüllt einfache Bedürfnisse: eine Stadt mit gepflegten Gassen, „wo niemals der Strom ausfiele und das Wasser nie abgedreht würde“. Und an jeder Ecke ein Süßigkeitenladen wartet.
Manch einer wird von Bachtyar Ali schon gehört haben; denn der Autor, der seit Mitte der 1990er-Jahre im deutschen Exil lebt, ist in seiner Heimat ein vielgelesener Mann. Bei uns kann man ihn seit einigen Jahren durch das Engagement des Zürcher Unionsverlags und in diesem Buch in kundiger Übersetzung aus dem kurdischen Sorani von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim kennenlernen: einen Schriftsteller, der das Politische mit dem Poetischen zu einer einzigartigen Erzählsprache verbindet.
MARTIN EBEL
Den Profit machen andere: als
Schlepper, Aufklärungsflieger,
Clown setzt man ihn ein
Bachtyar Ali:
Mein Onkel, den der Wind mitnahm. Roman.
Aus dem Kurdischen
von Ute Cantera-Lang
und Rawezh Salim.
Unionsverlag, Zürich 2021. 160 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Held, der durch Folter so abmagert, dass er fliegen lernt: Wie politische Tyrannei ein Leben vor sich hertreibt, erzählt Bachtyar Ali – als Märchen
Unter den 27 Geflüchteten, die im November im Ärmelkanal ertrunken sind, waren etliche Kurden. Und unter denen, die auch im neuen Jahr weiter an der Grenze zwischen Belarus und Polen in der Kälte ausharren, stammt sogar der größte Teil aus dem Nordirak. Dort lebt die kurdische Bevölkerung zwar schon seit 1992, als die USA eine Flugverbotszone verhängten, in weitgehender Autonomie. Die ökonomischen und politischen Verhältnisse aber sind desolat. Zwei Parteien, hinter denen zwei Clans stehen, haben das Land unter sich aufgeteilt, zwei Drittel aller Haushalte leben vom Staat, der aber unregelmäßig zahlt; die allgegenwärtige Korruption verhindert den Aufstieg der Tüchtigen. Kein Wunder, dass junge Menschen von dort sich um jeden Preis nach Westeuropa durchzuschlagen versuchen.
Wenn sie nur fliegen könnten wie der Held in Bachtyar Alis Roman „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“! Der ist nicht ohne Grund ein Märchen, ein bitteres dazu, und die besondere Befähigung seines Helden hat eine schreckliche Ursache: Djamschid wurde von Schergen des Baath-Regimes so grausam gefoltert, dass er radikal abmagerte – bis ihn jeder Windhauch davonwehen konnte. Sein Körper, von den Schmerzen zermürbt, hatte sich gewissermaßen verabschiedet. Das war 1979, eine der wenigen präzisen Zeitangaben in Bachtyar Alis Roman, der ansonsten mit Sprüngen – zwei Jahre später, zehn Jahre später – arbeitet und mit konkreten Details aus der Geschichte sparsam umgeht.
Wegen Djamschids Papiergewicht – „seitlich betrachtet war er nicht mehr als eine Linie“ – stellt ihm das Familienoberhaupt zwei Begleiter, Diener, Aufpasser zur Seite, die ihn mit Seilen am Boden halten. Es sind zwei Cousins, die „nutzlosesten Familienmitglieder“; einer von ihnen, Salar, ist der Ich-Erzähler des Romans. Djamschid lernt die Vorzüge des Fliegens kennen, den Abstand zum Elend am Boden, den „Panoramablick“ von oben: „Ich sehe die Dinge, wie Gott sie sieht.“ Profit daraus ziehen aber bald andere. Das irakische Militär zwingt ihn im Krieg mit Iran zu Aufklärungsflügen über der Front, er sieht tote Soldaten auf beiden Seiten und trägt durch seine Informationen dazu bei, dass es noch mehr werden. Bald abgeschossen, nutzen ihn die Iraner ihrerseits zur geistigen Aufrüstung ihrer Truppen: Sie lassen Djamschid über ihnen schweben als Erscheinung des Imam Hussain, der ihnen den Sieg verheißt.
Immer wieder kehrt der „fliegende Kurde“ zurück in sein Heimatdorf in den Bergen, versucht, Fuß auf der Erde und im Leben zu fassen, und wird doch wieder davongetragen. Ein Heiratsversuch endet unglücklich; ausgeplündert, zum Pantoffelhelden und Hahnrei gemacht, landet er bei PKK-Partisanen, die gegen die türkische Armee kämpfen. Dann instrumentalisiert ihn ein korrupter Mullah – Djamschid hat schließlich bei einem Aufstieg „Gott gesehen“. Später macht er Karriere und ein Vermögen als Schlepper, der aus der Luft große Gruppen von Flüchtlingen über die türkisch-griechische Grenze dirigiert. Nach zehnjähriger Odyssee durch die Lüfte landet er in den Fängen eines irakischen Oligarchen, der ihn zu Privatbelustigungen in ein Clownskostüm steckt. Letzte Station ist ein türkischer Vergnügungspark, aus dem ihn Salar befreit und in die Heimat zurückbringt.
Bachtyar Ali, 1966 im irakischen Kurdistan geboren, erzählt diese Geschichte vom ständigen Aufstieg und Fall, dem buchstäblichen wie metaphorischen, in flottem Tempo, seine Prosa hat Siebenmeilenstiefel, er hält sich weder mit Landschaften noch mit psychologischen Tiefenbohrungen auf. „Mein Onkel, der den Wind mitnahm“ ist von der episodischen Struktur her ein Schelmenroman, nur dass dieser Schelm ein passiver Held ist, ohne Witz, ohne Lebenstüchtigkeit, ohne Gewieftheit, dafür umgeben von tiefer Melancholie. Bei jedem Absturz verliert der „fliegende Kurde“ sein Gedächtnis und seine Identität, aus dem Kommunisten wird ein Fundamentalist, aus dem Frauenversteher ein Bordellbesucher, aus dem Menschenfreund ein Verbrecher: Er gründet eine „verdeckte Nachrichtenagentur“ und nutzt die Ergebnisse seiner Investigationen (und seine Einblicke von oben in private Verhältnisse), um hohe Summen zu erpressen. Djamschid ist immer in Bewegung, die Folter hat ihn seiner Identität beraubt, die politischen Verhältnisse zerstören alle Versuche, eine menschenwürdige Existenz zu führen.
Bachtyar Ali, der das Rad der Fortuna – wie es in der abendländischen Literatur heißen könnte – mit durchaus erzählerischer Lust, aber mit tiefem Lebenspessimismus dreht, weitet die Symbolik über den Fall Djamschids aus. Die Geflüchteten, die dieser aus der Luft über die Grenzen dirigiert, sind für ihn eine „neue Nation“, und er selbst ist ihr Prophet. Das Paradies, das an einer Stelle des Buches skizziert wird, erfüllt einfache Bedürfnisse: eine Stadt mit gepflegten Gassen, „wo niemals der Strom ausfiele und das Wasser nie abgedreht würde“. Und an jeder Ecke ein Süßigkeitenladen wartet.
Manch einer wird von Bachtyar Ali schon gehört haben; denn der Autor, der seit Mitte der 1990er-Jahre im deutschen Exil lebt, ist in seiner Heimat ein vielgelesener Mann. Bei uns kann man ihn seit einigen Jahren durch das Engagement des Zürcher Unionsverlags und in diesem Buch in kundiger Übersetzung aus dem kurdischen Sorani von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim kennenlernen: einen Schriftsteller, der das Politische mit dem Poetischen zu einer einzigartigen Erzählsprache verbindet.
MARTIN EBEL
Den Profit machen andere: als
Schlepper, Aufklärungsflieger,
Clown setzt man ihn ein
Bachtyar Ali:
Mein Onkel, den der Wind mitnahm. Roman.
Aus dem Kurdischen
von Ute Cantera-Lang
und Rawezh Salim.
Unionsverlag, Zürich 2021. 160 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Bachtyar Ali jongliert in seinem erstaunlich reichhaltigen Roman mit zahlreichen Themen. Es geht um Freiheit und ihren Preis, um die Wucht der Geschichte und eine oft verwirrende Gegenwart, um Metamorphosen und die Frage der Identität. In einer ebenso klaren wie poetischen Prosa erzählt Ali mal burlesk, mal bitter, mal schwerelos und mal gewichtig.« Irene Binal Neue Zürcher Zeitung