Glitzernde Pools, kunstvolle Skulpturen und imposante Tore: Sehnsüchtig blickt Chilves auf die luxuriösen Wohnanlagen von São Paulo. Sein eigenes Leben könnte nicht weiter davon entfernt sein: Er findet Unterschlupf auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben. Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, entsteht eine unerwartete Gemeinschaft. Patrícia Melo reißt uns mit in eine schmutzig schillernde Metropole und fragt, was uns als Mensch ausmacht.
»Melos literarische Verarbeitung der Realität ist meisterhaft und entspricht dem Wesen von São Paulo - hart, dynamisch, schmutzig, verwirrend. Und trotz des bedrückenden Themas ist Die Stadt der Anderen eine hinreißende Lektüre, nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung von Barbara Mesquita.« Buchkultur
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Ganz glücklich wird Rezensent Dirk Fuhrig nicht mit Patricia Melos neuem Buch, das während Jair Bolsonaros Amtszeit in Brasilien spielt, genauer gesagt in den Armenvierteln São Paulos. Eine Villa der Reichen kommt zwar auch vor, erfahren wir, deren Bewohner jedoch kaum, vielmehr will das Buch den Ausgestoßenen der Gesellschaft, wie etwa Prostituierten und Tagelöhnern, eine Stimme geben. Das steht in der Tradition des Sozialromans, wie sie etwa von Victor Hugo vertreten wurde, erläutert Fuhrig, wobei der zentrale soziale Gegensatz für den Rezensent zu eindimensional daherkommt. Schließlich gibt es auch eine brasilianische Mittelschicht, kritisiert Fuhrig, die kommt bei Melo aber nicht vor, dafür aber ein Elendsdichter, der eine fehlgeleitete literarische Ambition in das Buch hinein trägt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2024Die Elenden von São Paulo
Gravitationszentrum der Revolte: Patrícia Melos Roman "Die Stadt der Anderen" führt uns zu den Obdachlosen im heutigen Brasilien
Seit der Rezeption des literarischen Naturalismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gibt es in Brasilien eine Tradition des Romans, die sich der Darstellung ethnisch oder sozial marginalisierter Gruppen der Gesellschaft annimmt. Nicht immer waren solche sozialkritisch motivierten Werke auch literarisch bedeutsam, sie hat aber durchaus einige einflussreiche Werke hervorgebracht, von Jorge Amados "Herren des Strandes" (1937), einen Roman über verwaiste Straßenkinder, bis zu Paulo Lins' "Die Stadt Gottes" (1997) über die Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro.
An diese Tradition knüpft also Patrícia Melo an, wenn sie sich in ihrem neuen Roman "Die Stadt der Anderen" den Obdachlosen São Paulos zuwendet, einer Bevölkerungsgruppe, die in den Großstädten Brasiliens seit vielen Jahren nicht mehr zu übersehen ist und die zugleich die Widersprüche, Fehlentwicklungen und gewaltvollen Spannungen der Gesellschaft verkörpert. Seit jeher bedient die seit einigen Jahren in der Schweiz lebende Autorin das Genre des literarisch anspruchsvollen Krimis oder Thrillers, und ihre Werke (seit ihrem frühen Erfolg "O Matador", 1995, ins Deutsche übersetzt von Barbara Mesquita) beleuchten immer wieder unterschiedliche Facetten der urbanen Gewalt Brasiliens. Für ihren neuen Roman hat sie nun zu den Obdachlosen in der Zwölfmillionenstadt São Paulo recherchiert und nennt in einer Danksagung die Journalistin Emily Sasson Cohen, auf deren Interviews mit Angehörigen dieses Milieus sie sich unter anderem gestützt habe.
Der Roman präsentiert einen Reigen lose miteinander verknüpfter Figuren, die auf der Straße gelandet sind oder in prekären Verhältnissen ums Überleben kämpfen: Arbeitslose, Bettler, Kriminelle, Prostituierte, Drogensüchtige. Da ist Seno Chacoy, der wie viele andere die trostlosen Zustände in Venezuela verließ und nach Brasilien migriert ist, um nun festzustellen, dass dieses noch vor Kurzem hoffnungsvoll erscheinende Land nunmehr "tief gesunken" ist. Da sind der von familiärem Verlust traumatisierte Chilves und seine Partnerin Jéssica, die unter unwürdigen Bedingungen ein Kind zur Welt bringt. Da ist der Totengräber Douglas, der angesichts der vielen an Covid gestorbenen Menschen den Glauben an Gott verliert und sich einer auf einem Grabstein schlafenden Frau namens Zelia annimmt, deren Sohn von der Polizei getötet worden ist. Als er sie zusammen mit seiner Frau Regiana in ein psychosoziales Behandlungszentrum bringt, klärt uns die Erzählstimme über die Situation im Bolsonaro-Brasilien auf: "Das Zentrum war einer der wenigen Orte, die nach der Zerschlagung der gesamten psychiatrischen Behandlungsstrukturen in den letzten Jahren übrig geblieben waren, während von der Regierung unterstützte religiöse Einrichtungen die alten Methoden der Irrenanstalten wieder aufleben ließen."
Und da ist der obdachlose Schriftsteller Iraquitan, dessen "anarchistische" Prosa schließlich durch einen Verlag entdeckt und gehypt wird, was als Satire einer skrupellosen Medienwelt angelegt ist, aber letztlich sehr erwartbare Stereotypen bedient. Iraquitan selbst ist wohl die unglaubwürdigste Figur des Romans; Melo dient sie auch zur Bannung der Gefahr eines literarischen Elends-Voyeurismus.
Der "Megaverlag" wird unmittelbar eingeführt als "Überschallflugzeug ohne Fahrwerk oder Treibstoff", und über den windigen, phrasendreschenden Verleger und dessen skrupellose Vermarktung des Buchprojekts heißt es: "'Du hast den Titel schon gefunden, Marcinha', bat er die Assistentin, mit der er eine Affäre hatte und deren Körper wie der einer Venus aus dem Schaum ihrer leuchtenden Haarmähne erblühte." Die vorgeblich satirische Sicht auf die routinierte Verwertung sozialen Elends verpufft durch eine Sprache, die selbst allzu oft aus Klischees besteht.
Einen Mittelpunkt der in verschiedene Erzählstränge aufgefächerten Handlung bildet ein besetztes Haus, das Makan-Gebäude, das von Räumung bedroht wird, aber so etwas wie eine kollektive Hoffnung, das Gravitationszentrum eines Willens zur Revolte darstellt, etwa für die (später auf horrende Weise ermordete) Trans-Person Glenda: "Etwas aber gab es, das sie an diesem Ort besonders mochte: die Einsatzbereitschaft der Leute. Außerdem hatte sie durch den Alltag hier gelernt, dass Selbstverwaltung ein wichtiger Teil des Kampfes für Wohnraum war." Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem des Romans: Erzählt wird sowohl aus objektiver Perspektive als auch aus der Perspektive der Figuren selbst - allerdings verwischen die Grenzen dazwischen immer wieder, da ständig die sozialkritische Agenda der Autorin durchschlägt, indem stets explizit und in aktivistischem Duktus die endemischen Probleme der brasilianischen Gesellschaft angeklagt werden. So etwa eine gewalttätige Polizei, Rassismus, korrupte Verwaltung und Justiz, kriminelle Immobilienspekulation.
Der Roman, dessen Titel im Original "Weniger als eins" (Menos que um) lautet und der mit einem Zitat aus Victor Hugos "Die Elenden" (1862) beginnt, ist ersichtlich darum bemüht, die Sehnsucht nach Glück und menschenwürdigem Dasein derjenigen zu zeigen und literaturfähig zu machen, die am äußersten Rand der Gesellschaft und der allgemeinen Wahrnehmung stehen - und Melo gelingen dabei starke, eindrückliche Szenen. Sie ist zweifellos eine versierte Erzählerin, die gekonnt die verschiedenen Erzählstränge verwebt und die für diesen ruppigen Metropolenroman auch unterschiedliche sprachliche Register benutzt, von vulgärer Umgangssprache zu rhapsodischen Passagen und elliptischen Aufzählungen. Was aber eigentlich als ein mehrstimmiger Text über eine (un-)sichtbare "Realität" angelegt ist, wird letztlich einer allzu routinierten Erzählmaschinerie und einer zwar berechtigten, aber zu erwartbaren und vorgefertigten Gesellschaftskritik untergeordnet. JOBST WELGE
Patrícia Melo: "Die Stadt der Anderen". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Unionsverlag, Zürich 2024. 400 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gravitationszentrum der Revolte: Patrícia Melos Roman "Die Stadt der Anderen" führt uns zu den Obdachlosen im heutigen Brasilien
Seit der Rezeption des literarischen Naturalismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gibt es in Brasilien eine Tradition des Romans, die sich der Darstellung ethnisch oder sozial marginalisierter Gruppen der Gesellschaft annimmt. Nicht immer waren solche sozialkritisch motivierten Werke auch literarisch bedeutsam, sie hat aber durchaus einige einflussreiche Werke hervorgebracht, von Jorge Amados "Herren des Strandes" (1937), einen Roman über verwaiste Straßenkinder, bis zu Paulo Lins' "Die Stadt Gottes" (1997) über die Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro.
An diese Tradition knüpft also Patrícia Melo an, wenn sie sich in ihrem neuen Roman "Die Stadt der Anderen" den Obdachlosen São Paulos zuwendet, einer Bevölkerungsgruppe, die in den Großstädten Brasiliens seit vielen Jahren nicht mehr zu übersehen ist und die zugleich die Widersprüche, Fehlentwicklungen und gewaltvollen Spannungen der Gesellschaft verkörpert. Seit jeher bedient die seit einigen Jahren in der Schweiz lebende Autorin das Genre des literarisch anspruchsvollen Krimis oder Thrillers, und ihre Werke (seit ihrem frühen Erfolg "O Matador", 1995, ins Deutsche übersetzt von Barbara Mesquita) beleuchten immer wieder unterschiedliche Facetten der urbanen Gewalt Brasiliens. Für ihren neuen Roman hat sie nun zu den Obdachlosen in der Zwölfmillionenstadt São Paulo recherchiert und nennt in einer Danksagung die Journalistin Emily Sasson Cohen, auf deren Interviews mit Angehörigen dieses Milieus sie sich unter anderem gestützt habe.
Der Roman präsentiert einen Reigen lose miteinander verknüpfter Figuren, die auf der Straße gelandet sind oder in prekären Verhältnissen ums Überleben kämpfen: Arbeitslose, Bettler, Kriminelle, Prostituierte, Drogensüchtige. Da ist Seno Chacoy, der wie viele andere die trostlosen Zustände in Venezuela verließ und nach Brasilien migriert ist, um nun festzustellen, dass dieses noch vor Kurzem hoffnungsvoll erscheinende Land nunmehr "tief gesunken" ist. Da sind der von familiärem Verlust traumatisierte Chilves und seine Partnerin Jéssica, die unter unwürdigen Bedingungen ein Kind zur Welt bringt. Da ist der Totengräber Douglas, der angesichts der vielen an Covid gestorbenen Menschen den Glauben an Gott verliert und sich einer auf einem Grabstein schlafenden Frau namens Zelia annimmt, deren Sohn von der Polizei getötet worden ist. Als er sie zusammen mit seiner Frau Regiana in ein psychosoziales Behandlungszentrum bringt, klärt uns die Erzählstimme über die Situation im Bolsonaro-Brasilien auf: "Das Zentrum war einer der wenigen Orte, die nach der Zerschlagung der gesamten psychiatrischen Behandlungsstrukturen in den letzten Jahren übrig geblieben waren, während von der Regierung unterstützte religiöse Einrichtungen die alten Methoden der Irrenanstalten wieder aufleben ließen."
Und da ist der obdachlose Schriftsteller Iraquitan, dessen "anarchistische" Prosa schließlich durch einen Verlag entdeckt und gehypt wird, was als Satire einer skrupellosen Medienwelt angelegt ist, aber letztlich sehr erwartbare Stereotypen bedient. Iraquitan selbst ist wohl die unglaubwürdigste Figur des Romans; Melo dient sie auch zur Bannung der Gefahr eines literarischen Elends-Voyeurismus.
Der "Megaverlag" wird unmittelbar eingeführt als "Überschallflugzeug ohne Fahrwerk oder Treibstoff", und über den windigen, phrasendreschenden Verleger und dessen skrupellose Vermarktung des Buchprojekts heißt es: "'Du hast den Titel schon gefunden, Marcinha', bat er die Assistentin, mit der er eine Affäre hatte und deren Körper wie der einer Venus aus dem Schaum ihrer leuchtenden Haarmähne erblühte." Die vorgeblich satirische Sicht auf die routinierte Verwertung sozialen Elends verpufft durch eine Sprache, die selbst allzu oft aus Klischees besteht.
Einen Mittelpunkt der in verschiedene Erzählstränge aufgefächerten Handlung bildet ein besetztes Haus, das Makan-Gebäude, das von Räumung bedroht wird, aber so etwas wie eine kollektive Hoffnung, das Gravitationszentrum eines Willens zur Revolte darstellt, etwa für die (später auf horrende Weise ermordete) Trans-Person Glenda: "Etwas aber gab es, das sie an diesem Ort besonders mochte: die Einsatzbereitschaft der Leute. Außerdem hatte sie durch den Alltag hier gelernt, dass Selbstverwaltung ein wichtiger Teil des Kampfes für Wohnraum war." Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem des Romans: Erzählt wird sowohl aus objektiver Perspektive als auch aus der Perspektive der Figuren selbst - allerdings verwischen die Grenzen dazwischen immer wieder, da ständig die sozialkritische Agenda der Autorin durchschlägt, indem stets explizit und in aktivistischem Duktus die endemischen Probleme der brasilianischen Gesellschaft angeklagt werden. So etwa eine gewalttätige Polizei, Rassismus, korrupte Verwaltung und Justiz, kriminelle Immobilienspekulation.
Der Roman, dessen Titel im Original "Weniger als eins" (Menos que um) lautet und der mit einem Zitat aus Victor Hugos "Die Elenden" (1862) beginnt, ist ersichtlich darum bemüht, die Sehnsucht nach Glück und menschenwürdigem Dasein derjenigen zu zeigen und literaturfähig zu machen, die am äußersten Rand der Gesellschaft und der allgemeinen Wahrnehmung stehen - und Melo gelingen dabei starke, eindrückliche Szenen. Sie ist zweifellos eine versierte Erzählerin, die gekonnt die verschiedenen Erzählstränge verwebt und die für diesen ruppigen Metropolenroman auch unterschiedliche sprachliche Register benutzt, von vulgärer Umgangssprache zu rhapsodischen Passagen und elliptischen Aufzählungen. Was aber eigentlich als ein mehrstimmiger Text über eine (un-)sichtbare "Realität" angelegt ist, wird letztlich einer allzu routinierten Erzählmaschinerie und einer zwar berechtigten, aber zu erwartbaren und vorgefertigten Gesellschaftskritik untergeordnet. JOBST WELGE
Patrícia Melo: "Die Stadt der Anderen". Roman.
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Unionsverlag, Zürich 2024. 400 S., geb., 26,- Euro.
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