»Wer ist fremder, ihr oder ich?«
Ilse Aichingers 1948 erstmals erschienener Roman über rassisch verfolgte Kinder während der Hitlerzeit irritiert noch immer: In verfremdenden Bildern erzählt er von der Angst, von der Bedrohung und der widerständigen Hoffnung der »Kinder mit den falschen Großeltern«. Diese Kinder, die nach den 'Nürnberger Gesetzen' als jüdisch oder - wie die Hauptfigur Ellen - als halbjüdisch gelten, leiden unter Isolation, Demütigung und Verhöhnung. Aber nachdem ihre Hoffnung auf Auswanderung zunichte geworden ist, erwächst ihnen eine ganz andere, die »größere Hoffnung«. Dazu gehört die Gewissheit, »daß irgendwann der Abschied endet und das Wiedersehen beginnt«, und dazu gehört auch, dass Liebe und Leiden eins werden: »Peitscht uns, tötet uns, trampelt uns nieder, einholen könnt ihr uns erst dort, wo ihr lieben oder geliebt werden wollt.« Diese Hoffnung haben die Opfer ihren Mördern voraus.
Ilse Aichingers 1948 erstmals erschienener Roman über rassisch verfolgte Kinder während der Hitlerzeit irritiert noch immer: In verfremdenden Bildern erzählt er von der Angst, von der Bedrohung und der widerständigen Hoffnung der »Kinder mit den falschen Großeltern«. Diese Kinder, die nach den 'Nürnberger Gesetzen' als jüdisch oder - wie die Hauptfigur Ellen - als halbjüdisch gelten, leiden unter Isolation, Demütigung und Verhöhnung. Aber nachdem ihre Hoffnung auf Auswanderung zunichte geworden ist, erwächst ihnen eine ganz andere, die »größere Hoffnung«. Dazu gehört die Gewissheit, »daß irgendwann der Abschied endet und das Wiedersehen beginnt«, und dazu gehört auch, dass Liebe und Leiden eins werden: »Peitscht uns, tötet uns, trampelt uns nieder, einholen könnt ihr uns erst dort, wo ihr lieben oder geliebt werden wollt.« Diese Hoffnung haben die Opfer ihren Mördern voraus.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.09.2007Licht in einem dunklen Haus
Ilse Aichinger: „Die größere Hoffnung”
Im Sport ist ein Konter ein schnell ausgeführter Gegenschlag. Er befreit aus einer prekären Situation; der Angreifer wird urplötzlich zum Angegriffenen. Sein Erfolg beruht auf eleganter Präzision. „Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muss, die bestehende Sprache kontern muss . . .”
Ilse Aichinger ist die vollendetste Konterspielerin deutscher Literatur. Die Äußerung über ihr Schreibverständnis stammt von 1972. Sie liefert einen wichtigen Hinweis, wie alle Texte der heute 85-jährigen Wienerin gelesen werden können, der einzige Roman „Die größere Hoffnung” aus dem Jahre ’48 ebenso wie die bisher letzten Arbeiten, die kurzen „Subtexte”: nämlich als anarchisch-widerständiges Nachdenken über die Sprache selbst, ihre Regeln und Stereotypen. Und ihre ideologische Gewalt. Es sind bei Aichinger immer wieder die Kinder, die gegen die Sprache opponieren, sie unterwandern. In der „Größeren Hoffnung” wollen die „Kinder mit den falschen Großeltern” das „Deutsche”, die Sprache ihrer Mörder, „verlernen”. Ein zu ehrgeiziges Unterfangen, wie sie von ihrem alten Englischlehrer erfahren, doch wenn er ihnen auch nicht helfen kann, es zu verlernen, so kann er ihnen helfen „es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht”.
Als Aichingers Roman 1948 erschien – in Amsterdam – war seine Rezeption spärlich. Es brauchte Jahrzehnte, bis man die literarische Qualität des Buches erkannte, das als eines der ersten in der Nachkriegszeit von der Vernichtung der Juden Zeugnis ablegte. Sein Inhalt, seine Sprache, sein Aufbau machen es dem Leser nicht leicht, er muss die Sätze Aichingers geduldig lesen, ihnen aufmerksam lauschen. Der Text erzählt nicht linear, er ist ein Geflecht aus Traum, Märchen, Mythos und Historie. Monologe wechseln ab mit Dialogen, auktoriales Erzählen mit personalem – es lässt uns das so traurig hoffnungsfrohe Geschehen durch die Augen von Ellen, der jungen Heldin des Romans, sehen. Das Wunderbare an der „Größeren Hoffnung” ist allerdings, dass sie trotz ihrer tödlichen Last federnd wirkt, beinahe schwerelos – dem zeitgleich ausgerufenen Programm einer Literatur des Kahlschlags ganz und gar entgegengesetzt. Ellen und ihre Freunde sind stets auf dem Sprung. Auf die Frage, was für sie Kind und Spiel bedeuten, antwortete Ilse Aichinger einmal: „Die Höhepunkte der Existenz. Deshalb halte ich den Verlust der Kindheit für einen viel größeren Verlust als das normale Altern. Wahrscheinlich tauchen deshalb so viele Kinder bei mir auf: weil es ohne sie unerträglich wäre.” FLORIAN WELLE
Ilse Aichinger Foto: Vaterra/SV-Bilderdienst
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Ilse Aichinger: „Die größere Hoffnung”
Im Sport ist ein Konter ein schnell ausgeführter Gegenschlag. Er befreit aus einer prekären Situation; der Angreifer wird urplötzlich zum Angegriffenen. Sein Erfolg beruht auf eleganter Präzision. „Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muss, die bestehende Sprache kontern muss . . .”
Ilse Aichinger ist die vollendetste Konterspielerin deutscher Literatur. Die Äußerung über ihr Schreibverständnis stammt von 1972. Sie liefert einen wichtigen Hinweis, wie alle Texte der heute 85-jährigen Wienerin gelesen werden können, der einzige Roman „Die größere Hoffnung” aus dem Jahre ’48 ebenso wie die bisher letzten Arbeiten, die kurzen „Subtexte”: nämlich als anarchisch-widerständiges Nachdenken über die Sprache selbst, ihre Regeln und Stereotypen. Und ihre ideologische Gewalt. Es sind bei Aichinger immer wieder die Kinder, die gegen die Sprache opponieren, sie unterwandern. In der „Größeren Hoffnung” wollen die „Kinder mit den falschen Großeltern” das „Deutsche”, die Sprache ihrer Mörder, „verlernen”. Ein zu ehrgeiziges Unterfangen, wie sie von ihrem alten Englischlehrer erfahren, doch wenn er ihnen auch nicht helfen kann, es zu verlernen, so kann er ihnen helfen „es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht”.
Als Aichingers Roman 1948 erschien – in Amsterdam – war seine Rezeption spärlich. Es brauchte Jahrzehnte, bis man die literarische Qualität des Buches erkannte, das als eines der ersten in der Nachkriegszeit von der Vernichtung der Juden Zeugnis ablegte. Sein Inhalt, seine Sprache, sein Aufbau machen es dem Leser nicht leicht, er muss die Sätze Aichingers geduldig lesen, ihnen aufmerksam lauschen. Der Text erzählt nicht linear, er ist ein Geflecht aus Traum, Märchen, Mythos und Historie. Monologe wechseln ab mit Dialogen, auktoriales Erzählen mit personalem – es lässt uns das so traurig hoffnungsfrohe Geschehen durch die Augen von Ellen, der jungen Heldin des Romans, sehen. Das Wunderbare an der „Größeren Hoffnung” ist allerdings, dass sie trotz ihrer tödlichen Last federnd wirkt, beinahe schwerelos – dem zeitgleich ausgerufenen Programm einer Literatur des Kahlschlags ganz und gar entgegengesetzt. Ellen und ihre Freunde sind stets auf dem Sprung. Auf die Frage, was für sie Kind und Spiel bedeuten, antwortete Ilse Aichinger einmal: „Die Höhepunkte der Existenz. Deshalb halte ich den Verlust der Kindheit für einen viel größeren Verlust als das normale Altern. Wahrscheinlich tauchen deshalb so viele Kinder bei mir auf: weil es ohne sie unerträglich wäre.” FLORIAN WELLE
Ilse Aichinger Foto: Vaterra/SV-Bilderdienst
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