Eine Geschichte aus der deutschen Gegenwart
Wittenhagen in Brandenburg: Hedwig Leydenfrost lebt zusammen mit ihrem Bruder Leonhardt, einem pensionierten Bibliothekar, im Dorf ihrer Kindheit. Die Familie will im kommenden Sommer Hedwigs neunzigsten Geburtstag feiern und das Fest mit einer Spendenaktion für Flüchtlinge verbinden. Es ist das Jahr, in dem die Kanzlerin sagt: »Wir schaffen das.« Die Monate vergehen, es wird Winter und bitterkalt in der märkischen Provinz. Auf Eis und Schnee folgt die Schlehen- und Apfelblüte. Die Jahreszeiten wechseln sich ab, das große Fest für Hedwig Leydenfrost rückt immer näher. Der letzte Frühling, der letzte Sommer vielleicht nach einem langen Leben ...
Erstmals seit über dreißig Jahren, nach seinen hochgelobten autobiographischen und kulturgeschichtlichen Büchern über Brandenburg und Preußen, erzählt Günter de Bruyn wieder eine Geschichte aus der deutschen Gegenwart. Es ist eine bewegende Geschichte über das Leiden an der Politik, über den Wert unserer Erinnerung und eine fremd gewordene Zeit.
Wittenhagen in Brandenburg: Hedwig Leydenfrost lebt zusammen mit ihrem Bruder Leonhardt, einem pensionierten Bibliothekar, im Dorf ihrer Kindheit. Die Familie will im kommenden Sommer Hedwigs neunzigsten Geburtstag feiern und das Fest mit einer Spendenaktion für Flüchtlinge verbinden. Es ist das Jahr, in dem die Kanzlerin sagt: »Wir schaffen das.« Die Monate vergehen, es wird Winter und bitterkalt in der märkischen Provinz. Auf Eis und Schnee folgt die Schlehen- und Apfelblüte. Die Jahreszeiten wechseln sich ab, das große Fest für Hedwig Leydenfrost rückt immer näher. Der letzte Frühling, der letzte Sommer vielleicht nach einem langen Leben ...
Erstmals seit über dreißig Jahren, nach seinen hochgelobten autobiographischen und kulturgeschichtlichen Büchern über Brandenburg und Preußen, erzählt Günter de Bruyn wieder eine Geschichte aus der deutschen Gegenwart. Es ist eine bewegende Geschichte über das Leiden an der Politik, über den Wert unserer Erinnerung und eine fremd gewordene Zeit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2018Märkische Erschütterungen
Nach über dreißig Jahren hat Günter de Bruyn wieder ein Werk der Fiktion geschrieben. Der Untertitel „ländliches Idyll“ täuscht.
Es geht um Deutschland nach dem Herbst 2015. „Der neunzigste Geburtstag“ ist eine bittere Abrechnung mit dem Moraltheater der Gegenwart
VON GUSTAV SEIBT
In seinem Roman „Buridans Esel“, der 1968 in Halle beim Mitteldeutschen Verlag erschien, ließ Günter de Bruyn ganz kurz eine Dorfwirtin auftreten, deren Speisekarte sich auf die „Auswahl zwischen Bratkartoffeln mit Rührei und Bratkartoffeln mit Setzei“ beschränkte. „Die Wirtin hieß Leidenfrost und sah danach aus.“ Der sprechende Name kehrt nun, genau fünfzig Jahre später, in de Bruyns jüngstem Erzählwerk wieder, mit kleiner Variation. „Der neunzigste Geburtstag“, der hier am 5. August 2016 gefeiert werden soll, ist der von Hedwig Leydenfrost.
Die gebürtige Gutsbesitzerstochter aus Brandenburg hat eine bedeutende Karriere als Vorkämpferin der westdeutschen Apo und als Mitbegründerin der Grünen Partei hinter sich. Nach der Wiedervereinigung ist sie nach Wittenhagen, ins Dorf ihrer Kindheit zurückgekehrt, wo sie zusammen mit ihrem Bruder Leonhardt in der 1945 enteigneten, nun zurückgekauften elterlichen Gutsvilla ein rüstiges Alter verbringt. Leonhardt war nicht in den Westen gegangen, sondern hatte die vierzig Jahre der DDR als nachgeordneter Bibliothekar im Staatsdienst verbracht, ohne Aufstiegsmöglichkeiten, weil der stille belesene Mann sich hartnäckig weigerte, der sozialistischen Staatspartei beizutreten. Ein Lebenslauf wie der von Günter de Bruyn.
Hedwig und Leonhardt verkörpern zwei deutsche Formen des Widerstandsgeists im 20. Jahrhundert, einen westlichen und einen östlichen, die aufbegehrende, moralisierende Studentenbewegung hier, das verweigerte Mittun aus innerer Opposition da. Zu dem Geschwisterpaar gehören allerlei weitere west-östliche Verwandte, Kinder und Enkel, Onkel und Neffen, sodass ein reiches Bild der bürgerlichen Welt entsteht, bis zu einem dauerchattenden, computerversessenen Enkel, der sich erst im Lauf der Geschichte zu einem Bücherleser und sportlichen Fahrradfahrer läutert. Nun kann er auf Modewörter wie „geil, super, total oder fetzig“ verzichten.
Auch Hedwig war einmal eine andere. Als begeistertes Jungmädel hat sie lange verleugnete schöne Erinnerungen an nächtliche Sonnwendfeiern in der Nazi-zeit mit Sprechchören und Liedern („Flamme empor!“), samt Glücksgefühlen bei Berührungen mit einem schneidigen Fähnleinführer. Nach dem Krieg blieb die bald „Hedy“ Genannte aber unverheiratet, dafür adoptierte sie in den Neunzigerjahren ein bosnisches Flüchtlingskind namens Fatima, das sich längst zu einer von Nikolaus Lenau, Eduard Mörike und Theodor Storm affizierten Liebhaberin der Literatur entwickelt hat. Auch Fatima, das Musterbild kultureller Integration, lebt im Wittenhagener Haus, was für die Ökonomie des Romans wichtig ist. Denn dieser spielt nicht zufällig im Jahr der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 bis 2016.
Wenn man von Günter de Bruyns „jüngstem Erzählwerk“ spricht – er nennt es ein „ländliches Idyll“, es kann aber als Roman durchgehen –, überbrückt man einen Abgrund von Zeit. Denn sein bisher letzter Roman erschien im fernen 1984, fünf Jahre vor dem Mauerfall. Er war der letzte von vieren (einen Erstling hat de Bruyn verworfen), die seit 1968 die bürgerliche Welt, vor allem der kulturellen Funktionseliten im sozialistischen Staat mit ihren Anpassungs- und Widerstandproblemen schilderten. „Neue Herrlichkeit“, dieser letzte, hatte 1984 schon einmal das hohe Alter thematisiert, im Bild einer an Demenz erkrankten Frau, deren Lebensumstände in einem Pflegeheim den sozialistischen Anspruch auf Mitmenschlichkeit drastisch widerlegten.
Nach 1989 wurde der Erzähler de Bruyn zum Historiker, zunächst in zwei Memoirenbänden, die seine Jugend in Nationalsozialismus und Krieg und sein Leben als Bibliothekar und Literat in der DDR darstellten; dann als Epiker der Berlin-Märkischen Literaturgeschichte um 1800, die er in Überblicksbänden und zahllosen Monografien als Teppich verwobener Lebensschicksale darstellte: großer Lesestoff, begeistert aufgenommen, wie eine Wiedergeburt Fontanes.
Dass es jetzt wieder ein Werk der Fiktion gibt, nach einem Abstand von 34 Jahren, muss die Liebhaber de Bruyns aufrütteln. Denn bisher konnte man sich sagen: Fiktion, Erzählungen, Ironie und Spiel, das war etwas für den sozialistischen Staat mit seiner gelenkten Öffentlichkeit. Nur im Gefäß des Romans, so in „Buridans Esel“, ließen sich widerständige Beobachtungen unterbringen wie die, dass manche SED-Kleinfunktionäre eine Vergangenheit als nationalsozialistische Blockwarte gehabt hatten – willfähriges, weil erpressbares Personal. Nur im Roman ließ sich über die Fallstricke sozialistischer Erbepflege schreiben, wie in den „Märkischen Forschungen“ von 1978.
Das war, so konnte man glauben, seit 1989/90 nicht mehr nötig. Der Bürger und Katholik de Bruyn, der in der DDR einem Kriegsdienstverweigerer beistand und anders als die meisten seiner Kollegen auch kein besserer Sozialist war, konnte im vereinten Deutschland Klartext sprechen, in vielen klugen Reden und Essays, welche die ersten Jahre der Wiedervereinigung begleiteten.
Jetzt kommt also wieder eine Erzählung, zwei Jahre nach de Bruyns eigenem neunzigsten Geburtstag, und ja, es ist unverkennbar: Der selbst an verstecktem Ort in Brandenburg lebende Autor hat sich etwas von der Seele geschrieben. Die Handlung des neuen Buchs geht so: Hedwig Leydenfrosts großer Geburtstag soll, zu Ehren des lebenslangen moralischen Engagements der Jubilarin nicht mit Geschenken gefeiert werden, sondern dem Projekt, am Ort Wittenhagen ein Heim für unbegleitete Flüchtlinge zu errichten.
Hier kommen nun allerlei neue Funktionäre ins Spiel, Parteipolitiker, nicht zuletzt ein Bürokrat, der aus seiner Stasi-Vergangenheit kein Hehl macht, sich nun aber – einmal Elite, immer Elite – längst im neuen Staat nützlich macht. Der umgerubelte Blockwart von 1968 lässt grüßen. Auch eine westdeutsche, auf den Osten und sein „Nachhinken“ spezialisierte Journalistin namens Grit Schmalfuß mischt sich ein. Sie macht sich beglückt die neue, von der Kanzlerin ausgerufene Willkommenskultur samt der Obama-haften Parole „Wir schaffen das!“ zu eigen. So werden Personal und Szenerie der jüngsten Aktualität immer vollständiger. Die Willkommenskultur erscheint als Moraltheater und Selbstgenuss, der Journalismus als Pädagogik, die Flüchtlingspolitik als Anlass, mit Steuergeldern Geschäfte zu machen.
De Bruyn ist ein viel zu erfahrener Erzähler, um solche kaustischen Blicke als Meinung des Autors vorzubringen. In Leonhardt, dem eigensinnig-stillen Bruder der Jubilarin, hat er einen gebildeten Wortführer, womöglich einen Stellvertreter gefunden, der alles denkt und sagt, was aus traditionell bürgerlicher Sicht gegen die neuesten Zeitumstände spricht. Seine Tochter nennt ihn einen „Rechten“. Dabei kommt viel mehr zur Sprache als die angeblich „eingeladenen“ Flüchtlinge samt ihrer „unkontrollierten Aufnahme“ nach dem „gesetzwidrigen Öffnen der Grenzen“ – die genauen Formulierungen sind bedeutsam, weil sie nicht nur heiß umstrittene Versionen („Narrative“) des jüngsten Geschehens zeigen, sondern sogar faktische Abläufe suggerieren.
Nicht nur darum also geht es, sondern auch um das von seinen Traditionen und damit auch vom „Bekenntnis zum Eigenen“ abgefallene Christentum oder um politische Korrektheit in Sprache und Sozialverhalten. Unverblümt sagt eine Landfrau: „Wenn ich meinen Nachbarn krankenhausreif schlage, kräht kein Hahn danach, wenn ich aber einen Kanaken so nenne, lochen sie mir gleich ein.“ Das nervige „Bürgerinnen und Bürger“ wird karikiert, samt Exkurs zum grammatischen Geschlecht, die „Ehe für alle“ bezweifelt: Achtung der Minderheit sei auch ohne theoretische Verrenkungen möglich, meint Leonhardt, „es sei denn, sie macht, wie leider zu häufig, um ihre Neigung zu viel Geschrei“. Selbst die modischen Fusselbärte haben eine politische Dimension, denn sie imitieren die so viel männlicheren Ausländer.
Diese Ausländer – Misstrauen gegen Fremde sei ein durch Erfahrung entstandener allgemeinmenschlicher Zug, weiß Leonhardt – erscheinen nicht nur in Gestalt der sanften Fatima, einer gewordenen, nicht geborenen Deutschen (diese Unterscheidung sei aber schon lange verboten), sondern auch als Türken, die in Wittenhagen gekaufte Rinder unverzüglich am Ort selbst grausam schächten. Die Albträume Leonhardts handeln von einem „moslemisch gewordenen Europa“, das eine Wiederkehr der militärischen Männlichkeit seiner Jugendzeit bringt, mit in Reih und Glied auf Gebetsteppichen hockenden bärtigen Männern.
Die jungen Flüchtlinge – in Wahrheit seien sie längst nicht mehr minderjährig, glaubt Leonhardt – verweigern am Ende den Umzug nach Wittenhagen, denn „sie wollen nicht in die Wüste“. Aus dem Charity-Unternehmen wird flugs ein Freizeitressort mit Wellness-Center und Climatic Spa, bei Erhalt der gewonnenen Fördergelder. Hedwig Leydenfrost entschläft an ihrem neunzigsten Geburtstag, ohne auf der Feier zu erscheinen.
Eine wohlgerundete Gegenrechnung also. Allerdings ist das, was in dieser genregerecht von der Weltgeschichte gestörten Idylle wie eine verbotene Meinung daherkommt, nicht nur längst zum Gegenstand von Leitartikeln und ungezählten wilden Facebook-Postings geworden. Es bezieht sich selbst vorwiegend auf den Stoff aus den Medien, die es zugleich in Zweifel zieht. Die wenige unmittelbare Anschauung vom Weltlauf bleibt dünn, das meiste bleibt Meinung. Gelungen wie je bei de Bruyn sind das Nahe und Persönliche, die Bedrückungen des Alters, die Landschaft mit ihren Spuren jüngster Geschichte. Aber das, wogegen der kleine Roman sich wendet, bleibt karikaturhaft, eine Fratze ohne Erfahrung. Das Buch ist auf eine traurige Weise polemisch und ungerecht.
Der DDR-Bürger und Katholik
de Bruyn konnte erst nach
1989/90 Klartext reden
Was hier als „verbotene Meinung“
daherkommt, ist längst Teil
der Öffentlichkeit geworden
In Wittenhagen, dem fiktiven Schauplatz seines Buches, soll ein Heim für unbegleitete Flüchtlinge errichtet werden: Günter de Bruyn in Beeskow. Foto: Isolde Ohlbaum
Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 269 Seiten, 22 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nach über dreißig Jahren hat Günter de Bruyn wieder ein Werk der Fiktion geschrieben. Der Untertitel „ländliches Idyll“ täuscht.
Es geht um Deutschland nach dem Herbst 2015. „Der neunzigste Geburtstag“ ist eine bittere Abrechnung mit dem Moraltheater der Gegenwart
VON GUSTAV SEIBT
In seinem Roman „Buridans Esel“, der 1968 in Halle beim Mitteldeutschen Verlag erschien, ließ Günter de Bruyn ganz kurz eine Dorfwirtin auftreten, deren Speisekarte sich auf die „Auswahl zwischen Bratkartoffeln mit Rührei und Bratkartoffeln mit Setzei“ beschränkte. „Die Wirtin hieß Leidenfrost und sah danach aus.“ Der sprechende Name kehrt nun, genau fünfzig Jahre später, in de Bruyns jüngstem Erzählwerk wieder, mit kleiner Variation. „Der neunzigste Geburtstag“, der hier am 5. August 2016 gefeiert werden soll, ist der von Hedwig Leydenfrost.
Die gebürtige Gutsbesitzerstochter aus Brandenburg hat eine bedeutende Karriere als Vorkämpferin der westdeutschen Apo und als Mitbegründerin der Grünen Partei hinter sich. Nach der Wiedervereinigung ist sie nach Wittenhagen, ins Dorf ihrer Kindheit zurückgekehrt, wo sie zusammen mit ihrem Bruder Leonhardt in der 1945 enteigneten, nun zurückgekauften elterlichen Gutsvilla ein rüstiges Alter verbringt. Leonhardt war nicht in den Westen gegangen, sondern hatte die vierzig Jahre der DDR als nachgeordneter Bibliothekar im Staatsdienst verbracht, ohne Aufstiegsmöglichkeiten, weil der stille belesene Mann sich hartnäckig weigerte, der sozialistischen Staatspartei beizutreten. Ein Lebenslauf wie der von Günter de Bruyn.
Hedwig und Leonhardt verkörpern zwei deutsche Formen des Widerstandsgeists im 20. Jahrhundert, einen westlichen und einen östlichen, die aufbegehrende, moralisierende Studentenbewegung hier, das verweigerte Mittun aus innerer Opposition da. Zu dem Geschwisterpaar gehören allerlei weitere west-östliche Verwandte, Kinder und Enkel, Onkel und Neffen, sodass ein reiches Bild der bürgerlichen Welt entsteht, bis zu einem dauerchattenden, computerversessenen Enkel, der sich erst im Lauf der Geschichte zu einem Bücherleser und sportlichen Fahrradfahrer läutert. Nun kann er auf Modewörter wie „geil, super, total oder fetzig“ verzichten.
Auch Hedwig war einmal eine andere. Als begeistertes Jungmädel hat sie lange verleugnete schöne Erinnerungen an nächtliche Sonnwendfeiern in der Nazi-zeit mit Sprechchören und Liedern („Flamme empor!“), samt Glücksgefühlen bei Berührungen mit einem schneidigen Fähnleinführer. Nach dem Krieg blieb die bald „Hedy“ Genannte aber unverheiratet, dafür adoptierte sie in den Neunzigerjahren ein bosnisches Flüchtlingskind namens Fatima, das sich längst zu einer von Nikolaus Lenau, Eduard Mörike und Theodor Storm affizierten Liebhaberin der Literatur entwickelt hat. Auch Fatima, das Musterbild kultureller Integration, lebt im Wittenhagener Haus, was für die Ökonomie des Romans wichtig ist. Denn dieser spielt nicht zufällig im Jahr der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 bis 2016.
Wenn man von Günter de Bruyns „jüngstem Erzählwerk“ spricht – er nennt es ein „ländliches Idyll“, es kann aber als Roman durchgehen –, überbrückt man einen Abgrund von Zeit. Denn sein bisher letzter Roman erschien im fernen 1984, fünf Jahre vor dem Mauerfall. Er war der letzte von vieren (einen Erstling hat de Bruyn verworfen), die seit 1968 die bürgerliche Welt, vor allem der kulturellen Funktionseliten im sozialistischen Staat mit ihren Anpassungs- und Widerstandproblemen schilderten. „Neue Herrlichkeit“, dieser letzte, hatte 1984 schon einmal das hohe Alter thematisiert, im Bild einer an Demenz erkrankten Frau, deren Lebensumstände in einem Pflegeheim den sozialistischen Anspruch auf Mitmenschlichkeit drastisch widerlegten.
Nach 1989 wurde der Erzähler de Bruyn zum Historiker, zunächst in zwei Memoirenbänden, die seine Jugend in Nationalsozialismus und Krieg und sein Leben als Bibliothekar und Literat in der DDR darstellten; dann als Epiker der Berlin-Märkischen Literaturgeschichte um 1800, die er in Überblicksbänden und zahllosen Monografien als Teppich verwobener Lebensschicksale darstellte: großer Lesestoff, begeistert aufgenommen, wie eine Wiedergeburt Fontanes.
Dass es jetzt wieder ein Werk der Fiktion gibt, nach einem Abstand von 34 Jahren, muss die Liebhaber de Bruyns aufrütteln. Denn bisher konnte man sich sagen: Fiktion, Erzählungen, Ironie und Spiel, das war etwas für den sozialistischen Staat mit seiner gelenkten Öffentlichkeit. Nur im Gefäß des Romans, so in „Buridans Esel“, ließen sich widerständige Beobachtungen unterbringen wie die, dass manche SED-Kleinfunktionäre eine Vergangenheit als nationalsozialistische Blockwarte gehabt hatten – willfähriges, weil erpressbares Personal. Nur im Roman ließ sich über die Fallstricke sozialistischer Erbepflege schreiben, wie in den „Märkischen Forschungen“ von 1978.
Das war, so konnte man glauben, seit 1989/90 nicht mehr nötig. Der Bürger und Katholik de Bruyn, der in der DDR einem Kriegsdienstverweigerer beistand und anders als die meisten seiner Kollegen auch kein besserer Sozialist war, konnte im vereinten Deutschland Klartext sprechen, in vielen klugen Reden und Essays, welche die ersten Jahre der Wiedervereinigung begleiteten.
Jetzt kommt also wieder eine Erzählung, zwei Jahre nach de Bruyns eigenem neunzigsten Geburtstag, und ja, es ist unverkennbar: Der selbst an verstecktem Ort in Brandenburg lebende Autor hat sich etwas von der Seele geschrieben. Die Handlung des neuen Buchs geht so: Hedwig Leydenfrosts großer Geburtstag soll, zu Ehren des lebenslangen moralischen Engagements der Jubilarin nicht mit Geschenken gefeiert werden, sondern dem Projekt, am Ort Wittenhagen ein Heim für unbegleitete Flüchtlinge zu errichten.
Hier kommen nun allerlei neue Funktionäre ins Spiel, Parteipolitiker, nicht zuletzt ein Bürokrat, der aus seiner Stasi-Vergangenheit kein Hehl macht, sich nun aber – einmal Elite, immer Elite – längst im neuen Staat nützlich macht. Der umgerubelte Blockwart von 1968 lässt grüßen. Auch eine westdeutsche, auf den Osten und sein „Nachhinken“ spezialisierte Journalistin namens Grit Schmalfuß mischt sich ein. Sie macht sich beglückt die neue, von der Kanzlerin ausgerufene Willkommenskultur samt der Obama-haften Parole „Wir schaffen das!“ zu eigen. So werden Personal und Szenerie der jüngsten Aktualität immer vollständiger. Die Willkommenskultur erscheint als Moraltheater und Selbstgenuss, der Journalismus als Pädagogik, die Flüchtlingspolitik als Anlass, mit Steuergeldern Geschäfte zu machen.
De Bruyn ist ein viel zu erfahrener Erzähler, um solche kaustischen Blicke als Meinung des Autors vorzubringen. In Leonhardt, dem eigensinnig-stillen Bruder der Jubilarin, hat er einen gebildeten Wortführer, womöglich einen Stellvertreter gefunden, der alles denkt und sagt, was aus traditionell bürgerlicher Sicht gegen die neuesten Zeitumstände spricht. Seine Tochter nennt ihn einen „Rechten“. Dabei kommt viel mehr zur Sprache als die angeblich „eingeladenen“ Flüchtlinge samt ihrer „unkontrollierten Aufnahme“ nach dem „gesetzwidrigen Öffnen der Grenzen“ – die genauen Formulierungen sind bedeutsam, weil sie nicht nur heiß umstrittene Versionen („Narrative“) des jüngsten Geschehens zeigen, sondern sogar faktische Abläufe suggerieren.
Nicht nur darum also geht es, sondern auch um das von seinen Traditionen und damit auch vom „Bekenntnis zum Eigenen“ abgefallene Christentum oder um politische Korrektheit in Sprache und Sozialverhalten. Unverblümt sagt eine Landfrau: „Wenn ich meinen Nachbarn krankenhausreif schlage, kräht kein Hahn danach, wenn ich aber einen Kanaken so nenne, lochen sie mir gleich ein.“ Das nervige „Bürgerinnen und Bürger“ wird karikiert, samt Exkurs zum grammatischen Geschlecht, die „Ehe für alle“ bezweifelt: Achtung der Minderheit sei auch ohne theoretische Verrenkungen möglich, meint Leonhardt, „es sei denn, sie macht, wie leider zu häufig, um ihre Neigung zu viel Geschrei“. Selbst die modischen Fusselbärte haben eine politische Dimension, denn sie imitieren die so viel männlicheren Ausländer.
Diese Ausländer – Misstrauen gegen Fremde sei ein durch Erfahrung entstandener allgemeinmenschlicher Zug, weiß Leonhardt – erscheinen nicht nur in Gestalt der sanften Fatima, einer gewordenen, nicht geborenen Deutschen (diese Unterscheidung sei aber schon lange verboten), sondern auch als Türken, die in Wittenhagen gekaufte Rinder unverzüglich am Ort selbst grausam schächten. Die Albträume Leonhardts handeln von einem „moslemisch gewordenen Europa“, das eine Wiederkehr der militärischen Männlichkeit seiner Jugendzeit bringt, mit in Reih und Glied auf Gebetsteppichen hockenden bärtigen Männern.
Die jungen Flüchtlinge – in Wahrheit seien sie längst nicht mehr minderjährig, glaubt Leonhardt – verweigern am Ende den Umzug nach Wittenhagen, denn „sie wollen nicht in die Wüste“. Aus dem Charity-Unternehmen wird flugs ein Freizeitressort mit Wellness-Center und Climatic Spa, bei Erhalt der gewonnenen Fördergelder. Hedwig Leydenfrost entschläft an ihrem neunzigsten Geburtstag, ohne auf der Feier zu erscheinen.
Eine wohlgerundete Gegenrechnung also. Allerdings ist das, was in dieser genregerecht von der Weltgeschichte gestörten Idylle wie eine verbotene Meinung daherkommt, nicht nur längst zum Gegenstand von Leitartikeln und ungezählten wilden Facebook-Postings geworden. Es bezieht sich selbst vorwiegend auf den Stoff aus den Medien, die es zugleich in Zweifel zieht. Die wenige unmittelbare Anschauung vom Weltlauf bleibt dünn, das meiste bleibt Meinung. Gelungen wie je bei de Bruyn sind das Nahe und Persönliche, die Bedrückungen des Alters, die Landschaft mit ihren Spuren jüngster Geschichte. Aber das, wogegen der kleine Roman sich wendet, bleibt karikaturhaft, eine Fratze ohne Erfahrung. Das Buch ist auf eine traurige Weise polemisch und ungerecht.
Der DDR-Bürger und Katholik
de Bruyn konnte erst nach
1989/90 Klartext reden
Was hier als „verbotene Meinung“
daherkommt, ist längst Teil
der Öffentlichkeit geworden
In Wittenhagen, dem fiktiven Schauplatz seines Buches, soll ein Heim für unbegleitete Flüchtlinge errichtet werden: Günter de Bruyn in Beeskow. Foto: Isolde Ohlbaum
Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 269 Seiten, 22 Euro.
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In seinem ersten Roman seit über 30 Jahren erzählt Günter de Bruyn warmherzig und mit stiller Ironie von den Problemen unserer Gegenwart Dietmar Jacobsen Literaturkritik 20181206