Schön, wenn einmal so ein Herz über einem aufgeht, gar nicht erst in seinem ersten Viertel, gleich wie der ganze Mond in seiner vollkommensten Nacht ...«, schrieb Rilke später über seine erste Begegnung mit Claire Goll.
Claires und Rilkes Korrespondenz beginnt 1918 und zeigt trotz ihrer Verhaltenheit, daß den 43jährigen und die 28jährige bald eine innige Freundschaft und mehr verbindet. Sie tauschen sich über ihre Werke aus, spenden einander Trost und schreiben sich mit leidenschaftlicher Sehnsucht. Der vorliegende Band enthält außerdem sieben französischsprachige Gedichte, die Rilke als kleines handgebundenes Buch an Claire gesandt hatte, sowie das lange unveröffentlicht gebliebene und verschollen geglaubte Manuskript Gefühle. Verse von Claire Studer, das sich im Archiv des Insel Verlages, Leipzig, wiederfand.
Claires und Rilkes Korrespondenz beginnt 1918 und zeigt trotz ihrer Verhaltenheit, daß den 43jährigen und die 28jährige bald eine innige Freundschaft und mehr verbindet. Sie tauschen sich über ihre Werke aus, spenden einander Trost und schreiben sich mit leidenschaftlicher Sehnsucht. Der vorliegende Band enthält außerdem sieben französischsprachige Gedichte, die Rilke als kleines handgebundenes Buch an Claire gesandt hatte, sowie das lange unveröffentlicht gebliebene und verschollen geglaubte Manuskript Gefühle. Verse von Claire Studer, das sich im Archiv des Insel Verlages, Leipzig, wiederfand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2000Der Vertraute des weiblichen Kniefalls
Rainer Maria Rilkes Briefwechsel mit Claire Goll und Magda von Hattingberg · Von Christoph König
Bewundern, Klagen, Rühmen, Gedenken gehören zu den Gesten, mit denen Rilke den Alltag dichterisch überhöht. "Ich glaube, daß man nie gerechter ist, als wenn man mit aller Hingabe bewundert." Rilke erweitert rühmend seine sprachlichen Möglichkeiten und schützt, in der sakralen Emphase, das Neue seiner Dichtung. Weil Rilke ihren mühsamen Alltag anerkannte, fühlten sich seine Leser befreit. Überschwenglich schrieben sie ihm, doch Rilkes Art zu rühmen verdankt sich einer Kontrolle, die er, seine Leser erziehend, auch in ihren Reaktionen erwartete. Schreiben ihm Frauen, so wird die Hitze, die in den gewechselten Briefen aufsteigt, nach seinen Gedanken formuliert. Gern gibt er den Frauen auch neue Namen: Claire Studer, die seit 1917 mit Yvan Goll lebt und ihn 1921 heiratet, nennt Rilke "Liliane", Magda von Hattingberg ist seine "Benvenuta". Weil Rilke nach den Bedingungen einer Liebe sucht, die dem Geliebten die Freiheit beläßt, handeln die Briefe bald vom Schmerz der Frauen, die sich zurückhalten müssen. "Aber Du willst nun einmal nicht von meiner Liebe Gebrauch machen!" schreibt ihm Liliane.
Rilkes Frauen gehen in eine Falle. Seine Gedichte haben ihre Gefühle geweckt. Magda von Hattingberg wendet sich Ende Januar 1914 an ihn: "Ich habe bis jetzt nie gewünscht, auch nur für eine Weile ein anderer Mensch zu sein, bis vor ganz kurzem als die Geschichten vom lieben Gott in meine Hände kamen." Claire Studer will sich schon als Mädchen von Rilke erkannt gesehen haben. Im Nekrolog von 1927 mit dem Titel "Rilke et les femmes" erinnert sie sich: "Wir traten, wenn wir von der Schule kamen, in alle offenen Kirchen ein, um uns verliebt Jesus Christus zu Füßen zu werfen. Und siehe da, der Zufall enthüllte uns (in Rilke) einen Vertrauten, der unser Bedürfnis des Fußfalls verstand, diese wollüstige Beugung des Knies und somit zum Vermittler wurde zwischen Himmel und Erde."
Wenn sie die Initiative ergreifen und sich an Rilke wenden, kommen sie nicht mit leeren Händen. Sie haben sich von ihrer Herkunft befreit und etwas aus sich gemacht. Magda von Hattingberg, die Konzertpianistin und Schülerin Ferruccio Busonis, bezwingt ein privates Unglück und möchte Rilke mit ihrer Freude heilen. "Freude" wird zu einem programmatischen Begriff wie "Abgrund". Sie schreibt ihm erstmals Ende Januar 1914. Claire schickt 1918 ihren im Aktionsverlag eben erschienenen Gedichtband "Mitwelt". Was die Frauen mitbringen, wird Teil des Liebesspiels. Als Rilke Magda in Berlin besucht, läßt man ein Klavier ins Zimmer stellen. Und Claire, ausgebildete Tänzerin, tanzt öfter für Rilke. In den feministischen Gedichten, die sie 1919 unter dem Titel "Gefühle" zusammenstellt und Rilke schickt, wittert er vor allem das Körperliche: "Ich habe heute Deine Gedichte gelesen, die aus Begeisterung hervorgehen, alle, aus einer Begeisterung Deines ganzen Körpers und Daseins, wirklich aus dem Körpergefühl; in einem, aus jeder Stelle des Leibs miterbauten Bewußtsein kommen sie zu sich, und von den schönsten darf man sagen, daß sie dort eine freie, durchsichtige Wohnung haben." Der Überschwang verfängt sich in dem "Bewußtsein", das allein Rilke als Geschenk annimmt, so daß die Frauen, die ihren Befreier lieben, das Gefälle zum Therapeuten erst akzeptieren müssen, um ihre Freiheit wiederzuerlangen.
Im April 1920 bricht die Korrespondenz zwischen Claire Goll und Rilke ab. Drei Jahre später setzt sie unter neuen Bedingungen wieder ein. Rilke ist nun, wie in der Mädchenzeit, ihr "Gott", dessen Rat ihr helfen soll, sich nach dem Tod des Vaters wiederaufzurichten. Rilkes Antwort ist ein Muster an Psychologie, die das Gespräch unter der sakralen Redeoberfläche prägt. Den moribunden Lebensmythos der Moderne gießt er ins Psychologische um. "Eingeführt in's Ganze, eingeweiht, begehst Du das ernste Fest Deiner Selbständigwerdung." Claires Ziel müsse sein, sich selbst zu finden. Er halte sich zurück, denn die Arbeit bleibe allein dem Patienten überlassen, doch rate er ihr, nicht zu verdrängen und der Wahrheit, daß der Tod Teil des Lebens ist, ins Auge zu sehen.
Rilke schärft den Gedanken, auf den jene stoßen, die ihn lieben, in seinen Affären. Die Affären gehören zu seiner Arbeit. Für die Briefe an Magda von Hattingberg nimmt er nicht das Briefpapier, sondern seine Arbeitsblätter. Er sucht in einer andauernden Selbstanalyse, wie er es bei Lou Andreas-Salomé gelernt hat, nach dem Grund für seine Schaffenskrise nach der ersten Duineser Elegie (1912/13). In der Elegie selbst ist von der Liebe die Rede, die vom "Auftrag" der Sterne ablenkt; derselbe Gedanke prägt seine Lektüre von Marcel Prousts "Du côté de chez Swann" 1914. Benvenuta gesteht er: An die Stelle der Liebe, die bei Proust der Ort ist, wo die Kindheitsangst sich erneuert, trete bei ihm die Arbeit, in der die Angst wiederkehrt, nicht lieben zu können, weil Arbeit und Liebe sich ausschlössen. Auch auf Schloß Berg am Irchel von 1920 auf 1921 scheitert er mit seiner Absicht, in neuer äußerer Sicherheit und mit neuer Liebe die Elegien zu vollenden. Als Analyse des Scheiterns entsteht 1921, ein Jahrzehnt mindestens an Reflexionen bündelnd, "Das Testament".
Rilke rechtet darin mit den Mächten, die in ihm sind und Vokabeln seiner Sprache wurden: mit der Liebe, der Arbeit, der Einsamkeit, der irdischen Religiosität. Von der priesterlichen Einsamkeit des Künstlers geht er aus, doch weil er die Einsamkeit ästhetisch begründet, kann Fremdes eindringen und das Eigene samt seiner besonderen "Schwere" irritieren. Die Einsamkeit des Künstlers, sein Medium, wird nicht gestört, solange die Gegenliebe ausbleibt und die Dinge stumm oder passiv bleiben. Rilke mag daher nur rühmen, was keine Macht über ihn hat. Oder anders gesagt: Er darf es riskieren, die ganze Welt in sich aufzunehmen, wenn er im Rühmen darüber verfügen kann. Doch gerade die persönliche Liebe kennt solchen Verzicht nicht. Zwischen poetischer Arbeit und Liebe läßt sich - auf dieser Stufe der Reflexion - kaum mehr vermitteln.
Also will Rilke diese Liebe in den Raum der Kunst einbringen, die dann ganz diese Liebe sei: "daß ich diesen Zwiespalt nicht länger einen zwischen Arbeit und Liebe aufgesprungenen nenne, er klafft in meiner Liebe selbst, da ja, wie ich nun ein für alle Mal erfuhr meine Arbeit Liebe ist. Welche Vereinfachung! Und nun ist dies, in der Tat, soweit ich sehe, der einzige Konflikt meines Lebens. Alles andere sind Aufgaben." Als er Baladine Kossowska liebt (sie schreiben sich zwischen 1919 und 1926), fühlt er sich imstande, dieser Theorie gemäß zu leben, weil er seine Arbeit selbst als Liebe in der Tiefe begreift. Nicht mystisch, als ob es eine universelle Liebe gäbe. Sondern weil seine Arbeit über die Kunst hinausgehe und das Leben miteinbeziehe. Das kennt man aus den Briefen: "Liliane -, ob ich gleich kein weißes Blatt vor mich legen kann, ohne daß Dein Feuerschein drüberfällt. Hab ich denn so Helles in Dir angefacht? Solchen Herz-Brand? Liebes Kind, und fühlst nun zu mir zurück." Auch die Religiosität des einsamen Künstlers entsteht durch diesen Lebensbezug: Seine Liebe erweckt die Welt als Ganzes zur Liebe, ohne daß sie Ansprüche an ihn erhöbe. So unterscheidet Rilke nur scheinbar zwischen kleiner und großer Liebe, die beide zur künstlerischen Einsamkeit zurücklenken. Rilke erneuert die Bedeutung der Wörter "Liebe" und "Arbeit", ihr Zusammenhang ist ihm schließlich unabweisbar.
Im "Testament" wie in den Briefen verlieren die Worte allmählich - zugunsten poetischer Klarheit - ihren alltäglichen Sinn. Das Argumentieren selbst ist die Technik, den Überschwang zu meistern und in allen Dingen eine "Liebe ohne Gegenliebe" zu formen. Idiomatisch ist diese Redensart, doch sie läßt sich leicht mißverstehen. Weil sie diskret ist und auf das Konkrete verzichtet, kann ihren präzisen neuen Sinn nur bestimmen, wer auf Rilkes Syntax der Argumente achtet. Doch das ist mühsam. Lieber deutet man sich die Vokabeln privatim aus. Nichts ist so kulturell wie das unmittelbar Private. Ein Einverständnis entsteht, das über eine bestimmte Epoche nicht hinausreicht. Rilke spricht in seiner Sprache auch die Sprache seiner Leser, die nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, die meist psychisch-neurotischen Dinge beim Namen zu nennen.
In seinen Gedichten setzt sich eine Rationalität durch, die mehr enthält als nur die in eine sakrale Aura gehüllten Werte seiner Zeit. Sie ist eine kathartische Leistung, die Rilke sich innerhalb seiner höheren Schwärmerei abgerungen hat. Die Gedanken in den Briefen gehen über das hinaus, was er als Dichter schafft. Solange die Leser in den Gedanken leben, bleiben sie hinter den Gedichten zurück. Oft meinen die Geliebten irrtümlich, in den Gedichten sei von ihnen die Rede, verkennend, daß zum Überschwang und zur idiomatischen Redeweise das Handwerk hinzutritt. Von "Métier, Sicherheit, Erfahrung, Haltung, mit einem Wort: Können" spricht Rilke 1922 in einem seiner "Briefe an eine junge Frau". Gemeint ist seine intuitive Fähigkeit, die Einfälle, die er zu einzelnen Gegenständen hat und um die er sich nicht sorgen muß, innerhalb und gegen die eigene Redeweise zu entfalten. "Das Entscheidende der Kunst, was die Leute lange ,Eingebung' nannten, ist freilich nicht uns in die Macht gegeben (. . .) es hat mich nie beunruhigt, ich habe nie das mindeste Mittel angewandt, es heraufzureizen."
Wenn Rilkes Frauen ihn rühmen, fassen sie ihre Lektüre zusammen. Sie können gerecht und anmaßend zugleich sein. Gerecht, wenn sie das Besondere und die Poesie seiner Gedichte anerkennen - anmaßend, wenn sie für ihre Gaben ein Recht fordern, ohne es ästhetisch einzulösen. Sie mißbrauchen dann, um ihr Interesse zu verbergen, den Sprechstil, zu dem Rilke sie gebracht hat. So unternimmt Claire Goll, die später den von ihr bewunderten Paul Celan verleumden sollte, weil er ihre Übersetzung der Gedichte Yvan Golls abgelehnt hatte, den vulgären Versuch, mittels Rilke ihre eigene Bedeutung zu steigern. "Darf ich Dir alle Gedichte schenken? Deinen leuchtenden Namen ihnen allen voransetzen?" Die Schlußformel in ihrem Brief: "Ach Seligkeit, daß Du bist!" erhält so einen andern Sinn. Rilke weist diese Aneignung präzise mit einem Hinweis auf ihre Gedichte zurück, deren Geste sich in der Widmung wiederholen würde: "Auch sagen mir die, die, aufrufhaft, etwas wirken wollen, weniger zu."
"Ich sehne mich sehr nach Deinen blauen Briefen". Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Claire Goll. Herausgegeben von Barbara Glaubert-Hesse. Wallstein Verlag, Göttingen 2000. 213 S., geb., 38,- DM.
Rainer Maria Rilke: "Briefwechsel mit Magda von Hattingberg". Herausgegeben von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig. 240 S., geb., 44,- DM.
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Rainer Maria Rilkes Briefwechsel mit Claire Goll und Magda von Hattingberg · Von Christoph König
Bewundern, Klagen, Rühmen, Gedenken gehören zu den Gesten, mit denen Rilke den Alltag dichterisch überhöht. "Ich glaube, daß man nie gerechter ist, als wenn man mit aller Hingabe bewundert." Rilke erweitert rühmend seine sprachlichen Möglichkeiten und schützt, in der sakralen Emphase, das Neue seiner Dichtung. Weil Rilke ihren mühsamen Alltag anerkannte, fühlten sich seine Leser befreit. Überschwenglich schrieben sie ihm, doch Rilkes Art zu rühmen verdankt sich einer Kontrolle, die er, seine Leser erziehend, auch in ihren Reaktionen erwartete. Schreiben ihm Frauen, so wird die Hitze, die in den gewechselten Briefen aufsteigt, nach seinen Gedanken formuliert. Gern gibt er den Frauen auch neue Namen: Claire Studer, die seit 1917 mit Yvan Goll lebt und ihn 1921 heiratet, nennt Rilke "Liliane", Magda von Hattingberg ist seine "Benvenuta". Weil Rilke nach den Bedingungen einer Liebe sucht, die dem Geliebten die Freiheit beläßt, handeln die Briefe bald vom Schmerz der Frauen, die sich zurückhalten müssen. "Aber Du willst nun einmal nicht von meiner Liebe Gebrauch machen!" schreibt ihm Liliane.
Rilkes Frauen gehen in eine Falle. Seine Gedichte haben ihre Gefühle geweckt. Magda von Hattingberg wendet sich Ende Januar 1914 an ihn: "Ich habe bis jetzt nie gewünscht, auch nur für eine Weile ein anderer Mensch zu sein, bis vor ganz kurzem als die Geschichten vom lieben Gott in meine Hände kamen." Claire Studer will sich schon als Mädchen von Rilke erkannt gesehen haben. Im Nekrolog von 1927 mit dem Titel "Rilke et les femmes" erinnert sie sich: "Wir traten, wenn wir von der Schule kamen, in alle offenen Kirchen ein, um uns verliebt Jesus Christus zu Füßen zu werfen. Und siehe da, der Zufall enthüllte uns (in Rilke) einen Vertrauten, der unser Bedürfnis des Fußfalls verstand, diese wollüstige Beugung des Knies und somit zum Vermittler wurde zwischen Himmel und Erde."
Wenn sie die Initiative ergreifen und sich an Rilke wenden, kommen sie nicht mit leeren Händen. Sie haben sich von ihrer Herkunft befreit und etwas aus sich gemacht. Magda von Hattingberg, die Konzertpianistin und Schülerin Ferruccio Busonis, bezwingt ein privates Unglück und möchte Rilke mit ihrer Freude heilen. "Freude" wird zu einem programmatischen Begriff wie "Abgrund". Sie schreibt ihm erstmals Ende Januar 1914. Claire schickt 1918 ihren im Aktionsverlag eben erschienenen Gedichtband "Mitwelt". Was die Frauen mitbringen, wird Teil des Liebesspiels. Als Rilke Magda in Berlin besucht, läßt man ein Klavier ins Zimmer stellen. Und Claire, ausgebildete Tänzerin, tanzt öfter für Rilke. In den feministischen Gedichten, die sie 1919 unter dem Titel "Gefühle" zusammenstellt und Rilke schickt, wittert er vor allem das Körperliche: "Ich habe heute Deine Gedichte gelesen, die aus Begeisterung hervorgehen, alle, aus einer Begeisterung Deines ganzen Körpers und Daseins, wirklich aus dem Körpergefühl; in einem, aus jeder Stelle des Leibs miterbauten Bewußtsein kommen sie zu sich, und von den schönsten darf man sagen, daß sie dort eine freie, durchsichtige Wohnung haben." Der Überschwang verfängt sich in dem "Bewußtsein", das allein Rilke als Geschenk annimmt, so daß die Frauen, die ihren Befreier lieben, das Gefälle zum Therapeuten erst akzeptieren müssen, um ihre Freiheit wiederzuerlangen.
Im April 1920 bricht die Korrespondenz zwischen Claire Goll und Rilke ab. Drei Jahre später setzt sie unter neuen Bedingungen wieder ein. Rilke ist nun, wie in der Mädchenzeit, ihr "Gott", dessen Rat ihr helfen soll, sich nach dem Tod des Vaters wiederaufzurichten. Rilkes Antwort ist ein Muster an Psychologie, die das Gespräch unter der sakralen Redeoberfläche prägt. Den moribunden Lebensmythos der Moderne gießt er ins Psychologische um. "Eingeführt in's Ganze, eingeweiht, begehst Du das ernste Fest Deiner Selbständigwerdung." Claires Ziel müsse sein, sich selbst zu finden. Er halte sich zurück, denn die Arbeit bleibe allein dem Patienten überlassen, doch rate er ihr, nicht zu verdrängen und der Wahrheit, daß der Tod Teil des Lebens ist, ins Auge zu sehen.
Rilke schärft den Gedanken, auf den jene stoßen, die ihn lieben, in seinen Affären. Die Affären gehören zu seiner Arbeit. Für die Briefe an Magda von Hattingberg nimmt er nicht das Briefpapier, sondern seine Arbeitsblätter. Er sucht in einer andauernden Selbstanalyse, wie er es bei Lou Andreas-Salomé gelernt hat, nach dem Grund für seine Schaffenskrise nach der ersten Duineser Elegie (1912/13). In der Elegie selbst ist von der Liebe die Rede, die vom "Auftrag" der Sterne ablenkt; derselbe Gedanke prägt seine Lektüre von Marcel Prousts "Du côté de chez Swann" 1914. Benvenuta gesteht er: An die Stelle der Liebe, die bei Proust der Ort ist, wo die Kindheitsangst sich erneuert, trete bei ihm die Arbeit, in der die Angst wiederkehrt, nicht lieben zu können, weil Arbeit und Liebe sich ausschlössen. Auch auf Schloß Berg am Irchel von 1920 auf 1921 scheitert er mit seiner Absicht, in neuer äußerer Sicherheit und mit neuer Liebe die Elegien zu vollenden. Als Analyse des Scheiterns entsteht 1921, ein Jahrzehnt mindestens an Reflexionen bündelnd, "Das Testament".
Rilke rechtet darin mit den Mächten, die in ihm sind und Vokabeln seiner Sprache wurden: mit der Liebe, der Arbeit, der Einsamkeit, der irdischen Religiosität. Von der priesterlichen Einsamkeit des Künstlers geht er aus, doch weil er die Einsamkeit ästhetisch begründet, kann Fremdes eindringen und das Eigene samt seiner besonderen "Schwere" irritieren. Die Einsamkeit des Künstlers, sein Medium, wird nicht gestört, solange die Gegenliebe ausbleibt und die Dinge stumm oder passiv bleiben. Rilke mag daher nur rühmen, was keine Macht über ihn hat. Oder anders gesagt: Er darf es riskieren, die ganze Welt in sich aufzunehmen, wenn er im Rühmen darüber verfügen kann. Doch gerade die persönliche Liebe kennt solchen Verzicht nicht. Zwischen poetischer Arbeit und Liebe läßt sich - auf dieser Stufe der Reflexion - kaum mehr vermitteln.
Also will Rilke diese Liebe in den Raum der Kunst einbringen, die dann ganz diese Liebe sei: "daß ich diesen Zwiespalt nicht länger einen zwischen Arbeit und Liebe aufgesprungenen nenne, er klafft in meiner Liebe selbst, da ja, wie ich nun ein für alle Mal erfuhr meine Arbeit Liebe ist. Welche Vereinfachung! Und nun ist dies, in der Tat, soweit ich sehe, der einzige Konflikt meines Lebens. Alles andere sind Aufgaben." Als er Baladine Kossowska liebt (sie schreiben sich zwischen 1919 und 1926), fühlt er sich imstande, dieser Theorie gemäß zu leben, weil er seine Arbeit selbst als Liebe in der Tiefe begreift. Nicht mystisch, als ob es eine universelle Liebe gäbe. Sondern weil seine Arbeit über die Kunst hinausgehe und das Leben miteinbeziehe. Das kennt man aus den Briefen: "Liliane -, ob ich gleich kein weißes Blatt vor mich legen kann, ohne daß Dein Feuerschein drüberfällt. Hab ich denn so Helles in Dir angefacht? Solchen Herz-Brand? Liebes Kind, und fühlst nun zu mir zurück." Auch die Religiosität des einsamen Künstlers entsteht durch diesen Lebensbezug: Seine Liebe erweckt die Welt als Ganzes zur Liebe, ohne daß sie Ansprüche an ihn erhöbe. So unterscheidet Rilke nur scheinbar zwischen kleiner und großer Liebe, die beide zur künstlerischen Einsamkeit zurücklenken. Rilke erneuert die Bedeutung der Wörter "Liebe" und "Arbeit", ihr Zusammenhang ist ihm schließlich unabweisbar.
Im "Testament" wie in den Briefen verlieren die Worte allmählich - zugunsten poetischer Klarheit - ihren alltäglichen Sinn. Das Argumentieren selbst ist die Technik, den Überschwang zu meistern und in allen Dingen eine "Liebe ohne Gegenliebe" zu formen. Idiomatisch ist diese Redensart, doch sie läßt sich leicht mißverstehen. Weil sie diskret ist und auf das Konkrete verzichtet, kann ihren präzisen neuen Sinn nur bestimmen, wer auf Rilkes Syntax der Argumente achtet. Doch das ist mühsam. Lieber deutet man sich die Vokabeln privatim aus. Nichts ist so kulturell wie das unmittelbar Private. Ein Einverständnis entsteht, das über eine bestimmte Epoche nicht hinausreicht. Rilke spricht in seiner Sprache auch die Sprache seiner Leser, die nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, die meist psychisch-neurotischen Dinge beim Namen zu nennen.
In seinen Gedichten setzt sich eine Rationalität durch, die mehr enthält als nur die in eine sakrale Aura gehüllten Werte seiner Zeit. Sie ist eine kathartische Leistung, die Rilke sich innerhalb seiner höheren Schwärmerei abgerungen hat. Die Gedanken in den Briefen gehen über das hinaus, was er als Dichter schafft. Solange die Leser in den Gedanken leben, bleiben sie hinter den Gedichten zurück. Oft meinen die Geliebten irrtümlich, in den Gedichten sei von ihnen die Rede, verkennend, daß zum Überschwang und zur idiomatischen Redeweise das Handwerk hinzutritt. Von "Métier, Sicherheit, Erfahrung, Haltung, mit einem Wort: Können" spricht Rilke 1922 in einem seiner "Briefe an eine junge Frau". Gemeint ist seine intuitive Fähigkeit, die Einfälle, die er zu einzelnen Gegenständen hat und um die er sich nicht sorgen muß, innerhalb und gegen die eigene Redeweise zu entfalten. "Das Entscheidende der Kunst, was die Leute lange ,Eingebung' nannten, ist freilich nicht uns in die Macht gegeben (. . .) es hat mich nie beunruhigt, ich habe nie das mindeste Mittel angewandt, es heraufzureizen."
Wenn Rilkes Frauen ihn rühmen, fassen sie ihre Lektüre zusammen. Sie können gerecht und anmaßend zugleich sein. Gerecht, wenn sie das Besondere und die Poesie seiner Gedichte anerkennen - anmaßend, wenn sie für ihre Gaben ein Recht fordern, ohne es ästhetisch einzulösen. Sie mißbrauchen dann, um ihr Interesse zu verbergen, den Sprechstil, zu dem Rilke sie gebracht hat. So unternimmt Claire Goll, die später den von ihr bewunderten Paul Celan verleumden sollte, weil er ihre Übersetzung der Gedichte Yvan Golls abgelehnt hatte, den vulgären Versuch, mittels Rilke ihre eigene Bedeutung zu steigern. "Darf ich Dir alle Gedichte schenken? Deinen leuchtenden Namen ihnen allen voransetzen?" Die Schlußformel in ihrem Brief: "Ach Seligkeit, daß Du bist!" erhält so einen andern Sinn. Rilke weist diese Aneignung präzise mit einem Hinweis auf ihre Gedichte zurück, deren Geste sich in der Widmung wiederholen würde: "Auch sagen mir die, die, aufrufhaft, etwas wirken wollen, weniger zu."
"Ich sehne mich sehr nach Deinen blauen Briefen". Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Claire Goll. Herausgegeben von Barbara Glaubert-Hesse. Wallstein Verlag, Göttingen 2000. 213 S., geb., 38,- DM.
Rainer Maria Rilke: "Briefwechsel mit Magda von Hattingberg". Herausgegeben von Ingeborg Schnack und Renate Scharffenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig. 240 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main