Produktdetails
- Marcel Proust, À la recherche du temps perdu 1
- Verlag: Delcourt
- Nachdr.
- Seitenzahl: 71
- Erscheinungstermin: 26. November 2001
- Französisch
- Abmessung: 314mm x 232mm x 13mm
- Gewicht: 684g
- ISBN-13: 9782840552185
- ISBN-10: 2840552183
- Artikelnr.: 08044908
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002Die heiligen Gefäße des Marcel Proust
Manche Perle kommt erst dem Übersetzer so richtig zum Bewusstsein: Michael Kleebergs Neuübersetzung von „Combray”
Marcel Prousts Hauptwerk „A la recherche du temps perdu” („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”) war schon für die Zeitgenossen eine literarische Offenbarung des anbrechenden zwanzigsten Jahrhunderts, obwohl sein Erscheinen sich über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckte und die letzten Teile erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht wurden. Da war es allerhöchste Zeit, dass die „Recherche” 1954 endlich als kompaktes Ganzes in der „Bibliothèque de la Pléiade”, einer Art von Pantheon nicht nur der französischen Literatur, als hundertster Band erschien. André Maurois steuerte ein Vorwort bei und erklärte feierlich, dass in dieser ersten Jahrhunderthälfte weit und breit kein denkwürdigeres Romanwerk als eben die „Recherche” zu entdecken sei: Proust sei der Romanautor „im Reinzustand”, weil sein Schreiben den Übergang vom poetischen Schein zur Wirklichkeit der Prosa vollziehe – dank der Metapher. Sie spiele in diesem Werk die Rolle, welche in religiösen Riten heiligen Gefäßen zukomme.
„Unwillkürliche Erinnerungen” sind der Forschungsgegenstand dieser Suche; die vergangene Wirklichkeit taucht aus der Tiefe auf, die kein Vergessen kennt, und ihre Motive reihen sich nach einer geheimen, rein individuellen und seelischen Ordnung, um sich in gewaltigen Mäandern von Sätzen niederzuschlagen, einem „schönen Stil”, dem man in langsamer Lektüre folgen muss, wenn man die Wunderwelt der erinnerten Wirklichkeit wiederum in der eigenen Imagination erblühen sehen möchte. Manche stilistische Besonderheit kommt dabei erst dem Übersetzer so richtig zum Bewusstsein.
Die Bühne der Erinnerung
Proust hat insbesondere zwei Eigenschaften des französischen Satzbaus in den Dienst seiner Suche gestellt: die erste Eigenschaft betrifft den Anfang der Sätze. Dort können Umstandsbestimmungen verschiedenster Art gehäuft werden. Es entsteht ein offener Raum wie eine Bühne, noch ohne Personen, noch ohne Handlung, aber mit allen Kulissen und in kunstvoller Beleuchtung. Als Bühne der Erinnerung präsentiert sich ein solcher Vor-Satz schon selber als das Wesentliche und macht das dann zu spielende Stück (die Aussage mit Subjekt und Prädikat) zum Beiwerk und Anlass für die Szenerie. Die zweite Eigenart des Französischen betrifft das offene Ende der Sätze. Da es keinen „Satzrahmen” wie im Deutschen gibt, erledigt sich das Verb gleich nach dem Subjekt, und es bleibt beliebig viel Platz für Assoziationen in Ergänzungen und Nebensätzen aller Art, bestens geeignet, den Raum der erinnernden Phantasie auszuschreiten.
Proust wird schon seit 1926 ins Deutsche übersetzt, und niemand wird bezweifeln, dass sein Hauptanliegen auch in deutscher Sprache vermittelt werden kann. Etwa zur selben Zeit wie die Ausgabe in der „Pléiade” erschien in Deutschland bei Suhrkamp die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Fast ein halbes Jahrhundert ist dies der Marcel Proust des deutschen Lesers gewesen. Erst die Frankfurter Ausgabe brachte seit 1994 eine von Luzius Keller revidierte Fassung, welche allerdings die „brauchbare Grundlage” von Rechel- Mertens kritisch, doch respektvoll nutzt. Nun legt Michael Kleeberg eine Neuübersetzung des ersten Teils der „Suche nach der verlorenen Zeit” vor: „Combray”. Die Ankündigung hat keine Scheu vor großen Worten: „Sein ,Combray‘ ist ein bestechendes Sprachkunstwerk, das dem deutschsprachigen Lesepublikum den wahren Marcel Proust eröffnen will.” Wie geschieht das?
Kleeberg will „zum ersten Mal die ganze Vielseitigkeit und den Anspielungsreichtum der Sprache Marcel Prousts erfassen”, er will „die stilistischen Besonderheiten des Werkes genauer wiedergeben als bisher”, er will „die deutsche Sprache bis an ihre Grenzen” treiben, „so wie Proust es mit der französischen tat”. Was Vielseitigkeit und Anspielungsreichtum betrifft, haben natürlich auch seine Vorgänger schon nach bestem Wissen dasselbe versucht und sich dazu gelegentlich ausführlich geäußert. Die Mühe Kleebergs ist sichernicht ohne Erfolg geblieben, zumal er die vorliegenden Versionen als Sprungbrett benutzen konnte. Aber der Wunsch, es neu und anders zu machen, produziert nicht notwendig eine bessere Lösung. Der erste Satz des Buches hieß bei Eva Rechel-Mertens (und Luzius Keller hat daran nichts auszusetzen gefunden): „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.” Michael Kleeberg möchte dem französischen Wortlaut auf der Spur bleiben und schreibt: „Lange Zeit habe ich mich zu früher Stunde schlafen gelegt”, weil im Französischen „de bonne heure” steht. Während dies aber ein geläufiger, sogar mündlich gebrauchter Ausdruck ist, hat die deutsche Form „zu früher Stunde” etwas Pedantisches und Gestelztes, wofür Proust keinen Anlass bietet. Aus ähnlichen Skrupeln heraus hatte wohl Eva Rechel-Mertens schon „longtemps” mit „lange Zeit” übersetzt, was Kleeberg beibehält – aber für „longtemps” gibt es das deutsche Adverb „lange”, und in der einfachsten Form dieses unscheinbaren Satzes, „Lange bin ich früh schlafen gegangen”, begegnet uns wohl der wahre Proust.
Im nächsten Satz ist bei Rechel-Mertens und Keller von einer Kerze („bougie”) die Rede; Kleeberg schreibt hier „kaum war die Lampe gelöscht” und benutzt ein paar Zeilen weiter für „souffler la lumière” dann „die Kerze ausblasen”, wo seine Vorgänger sehr konservativ „das Licht ausblasen” geschrieben hatten. Daran ist nicht viel auszusetzen, doch ist der mit den wörtlichen Entsprechungen „Kerze” und „Licht” aufgerufene Anspielungsreichtum für ein Kinderschlafzimmer der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts gewiss am treffendsten.
Eine kindliche erotische Phantasie führt Proust mit dem Satz ein: „Quelquefois, comme Ève naquit d-une côte d-Adam, une femme naissait pendant mon sommeil d-une fausse position de ma cuisse.” Wörtlich: „Manchmal, wie Eva geboren wurde aus einer Rippe Adams, entstand eine Frau während meines Schlafs aus einer falschen Lage meines Oberschenkels.” Die psychologisch deutliche Verknüpfung des Motivs der Erschaffung von Eva (aus einer Rippe) mit dem Traumbild einer Frau (aus dem Druck des Oberschenkels) erscheint in assoziativer, nicht in logischer Folge. Rechel-Mertens hat den anzüglichen Oberschenkel amputiert und den Satz in eine logisch-chronologische Ordnung gebracht, damit freilich auch Proust aus seinem Satz vertrieben: „Manchmal entstand in meinem Schlaf aus einer falschen Lage wie Eva aus der Rippe Adams eine Frau.” Keller hat hier zu Recht revidiert und die assoziative Reihenfolge wenigstens zum Teil wiederhergestellt: „Wie Eva aus einer Rippe Adams, so entstand manchmal, während ich schlief, aus einer falschen Lage meiner Schenkel eine Frau.” Und nun geht Kleeberg noch einen kleinen Schritt weiter zurück zu Proust: „Manchmal erwuchs, so wie Eva aus einer Rippe Adams entstand, während meines Schlafs eine Frau aus einer falschen Lage meines Schenkels.”
Der Zwang des Deutschen, das konjugierte Verb an zweiter Stelle zu bringen, macht diesen Satz logischer und etwas weniger assoziativ als das Original, aber nun ist die Reihenfolge in Ordnung. „Erwuchs” und „entstand” sind geschickte Entsprechungen der beiden verschieden tönenden Formen des selben französischen Verbs („naquit” und „naissait” von „naître”, „geboren werden”).„Während meines Schlafs” ist nicht in einen Nebensatz transformiert, und der Schenkel steht wieder im Singular. Schnell liest man darüber hin, doch sind hier die stilistischen Besonderheiten wirklich genauer wiedergegeben worden als bisher – und sie sind ja nicht nur Dekor, sondern sachlich relevant, weil sie die verschlungenen Wege der Erinnerung abbilden.
Die Lage der Schenkel
Proust gibt sich mit dieser Evokation nicht zufrieden. Er lässt eine logische Erklärung folgen, oder besser: er zwingt seine Leser, die logische Verbindung des folgenden Satzes selber herzustellen. Von der Traum- Frau heißt es nun: „Formée du plaisir que j'étais sur le point de goûter, je m'imaginais que c'était elle qui me l'offrait.” Luzius Keller hat die verzwickte Formulierung von Eva Rechel-Mertens klären wollen. Das ist ihm zweifellos gelungen, wenn er auch etwas fest zugreifen musste: „Sie (die Frau) war ein Gebilde der Lust, die in mir hochstieg, doch stellte ich mir vor, diese Lust würde mir von ihr geschenkt.” Die Partizipialkonstruktion von Proust verrät keine logische Verbindung, man muss sie raten, aber sie ist zweifellos konzessiv und bedeutet (paraphrasiert): Zwar war die Frau aus dem Lustgefühl hervorgegangen, ich aber stellte mir vor, dass sie mir diese Lust erst schenkte. Bei Keller steckt der konzessive Sinn im „doch”. Michael Kleeberg imitiert den französischen Satzbau in einer Formel, die nicht bis an die Grenzen der deutschen Sprache, sondern schlicht darüber hinaus geht: „Von der Lust erschaffen, die ich im Begriff war zu kosten, stellte ich mir vor, sie sei es, die mir jene schenke.” In der Verständlichkeit geht das weit hinter Keller zurück, weil die Pronomen am Schluss („jene” = die Lust, „sie” = die Frau) beide feminin und darum schwer auseinanderzuhalten sind. Das Partizip (von der Lust erschaffen) bleibt in der Luft hängen. Der Satz von Proust ist dagegen trotz seiner geringen Abweichung von der Norm ein Muster an Klarheit, denn das Partizip ist als Femininum zu erkennen und kann sich nur auf die Frau beziehen, und die Pronomen treten nicht in Konkurrenz. Nicht dass die deutsche Sprache hier etwas vergewaltigt wird, ist dabei problematisch, sondern dass ein auf Anhieb verständlicher Satz in der Übersetzung wie gerädert herauskommt.
Vergleiche dieser Art haben freilich etwas Künstliches, denn Übersetzungen werden in erster Linie für Leser geschrieben, die der fremden Sprache nicht mächtig sind oder doch jedenfalls bei der Lektüre des Originaltextes mehr Missverständnissen ausgesetzt wären als bei der Lektüre einer Übersetzung, wenn diese auch nicht allen Besonderheiten des Originals folgen kann. Die Arbeit von Michael Kleeberg verlangt Respekt und wird an vielen Stellen etwas vom Original durchblicken lassen, was Luzius Keller und noch mehr Eva Rechel-Mertens vermissen ließen. Häufig aber gehen seine Entscheidungen auch auf Kosten einer anderen Nuance, die sich bei seinen Vorgängern besser erhalten hatte. Insbesondere ist seine scheinbare Nähe zum Text in Wortwahl und Wortstellung immer der Gefahr ausgesetzt, Effekte zu dulden, die sich durch nichts anderes als durch die französische Form rechtfertigen lassen und die darum das Original auf stilistischer und semantischer Ebene zu verfälschen drohen.
Das deutschsprachige Lesepublikum darf seinen „wahren Marcel Proust” bei Michael Kleeberg suchen, aber es wird ihn auch weiter bei Luzius Keller finden – und wenn jemand im Bücherschrank der Eltern auf die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens stoßen sollte, wird ihm Marcel Proust auch dort noch begegnen.
HANS–HERBERT RÄKEL
MARCEL PROUST: Combray. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2002. 288 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Manche Perle kommt erst dem Übersetzer so richtig zum Bewusstsein: Michael Kleebergs Neuübersetzung von „Combray”
Marcel Prousts Hauptwerk „A la recherche du temps perdu” („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”) war schon für die Zeitgenossen eine literarische Offenbarung des anbrechenden zwanzigsten Jahrhunderts, obwohl sein Erscheinen sich über mehr als zwei Jahrzehnte erstreckte und die letzten Teile erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht wurden. Da war es allerhöchste Zeit, dass die „Recherche” 1954 endlich als kompaktes Ganzes in der „Bibliothèque de la Pléiade”, einer Art von Pantheon nicht nur der französischen Literatur, als hundertster Band erschien. André Maurois steuerte ein Vorwort bei und erklärte feierlich, dass in dieser ersten Jahrhunderthälfte weit und breit kein denkwürdigeres Romanwerk als eben die „Recherche” zu entdecken sei: Proust sei der Romanautor „im Reinzustand”, weil sein Schreiben den Übergang vom poetischen Schein zur Wirklichkeit der Prosa vollziehe – dank der Metapher. Sie spiele in diesem Werk die Rolle, welche in religiösen Riten heiligen Gefäßen zukomme.
„Unwillkürliche Erinnerungen” sind der Forschungsgegenstand dieser Suche; die vergangene Wirklichkeit taucht aus der Tiefe auf, die kein Vergessen kennt, und ihre Motive reihen sich nach einer geheimen, rein individuellen und seelischen Ordnung, um sich in gewaltigen Mäandern von Sätzen niederzuschlagen, einem „schönen Stil”, dem man in langsamer Lektüre folgen muss, wenn man die Wunderwelt der erinnerten Wirklichkeit wiederum in der eigenen Imagination erblühen sehen möchte. Manche stilistische Besonderheit kommt dabei erst dem Übersetzer so richtig zum Bewusstsein.
Die Bühne der Erinnerung
Proust hat insbesondere zwei Eigenschaften des französischen Satzbaus in den Dienst seiner Suche gestellt: die erste Eigenschaft betrifft den Anfang der Sätze. Dort können Umstandsbestimmungen verschiedenster Art gehäuft werden. Es entsteht ein offener Raum wie eine Bühne, noch ohne Personen, noch ohne Handlung, aber mit allen Kulissen und in kunstvoller Beleuchtung. Als Bühne der Erinnerung präsentiert sich ein solcher Vor-Satz schon selber als das Wesentliche und macht das dann zu spielende Stück (die Aussage mit Subjekt und Prädikat) zum Beiwerk und Anlass für die Szenerie. Die zweite Eigenart des Französischen betrifft das offene Ende der Sätze. Da es keinen „Satzrahmen” wie im Deutschen gibt, erledigt sich das Verb gleich nach dem Subjekt, und es bleibt beliebig viel Platz für Assoziationen in Ergänzungen und Nebensätzen aller Art, bestens geeignet, den Raum der erinnernden Phantasie auszuschreiten.
Proust wird schon seit 1926 ins Deutsche übersetzt, und niemand wird bezweifeln, dass sein Hauptanliegen auch in deutscher Sprache vermittelt werden kann. Etwa zur selben Zeit wie die Ausgabe in der „Pléiade” erschien in Deutschland bei Suhrkamp die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens. Fast ein halbes Jahrhundert ist dies der Marcel Proust des deutschen Lesers gewesen. Erst die Frankfurter Ausgabe brachte seit 1994 eine von Luzius Keller revidierte Fassung, welche allerdings die „brauchbare Grundlage” von Rechel- Mertens kritisch, doch respektvoll nutzt. Nun legt Michael Kleeberg eine Neuübersetzung des ersten Teils der „Suche nach der verlorenen Zeit” vor: „Combray”. Die Ankündigung hat keine Scheu vor großen Worten: „Sein ,Combray‘ ist ein bestechendes Sprachkunstwerk, das dem deutschsprachigen Lesepublikum den wahren Marcel Proust eröffnen will.” Wie geschieht das?
Kleeberg will „zum ersten Mal die ganze Vielseitigkeit und den Anspielungsreichtum der Sprache Marcel Prousts erfassen”, er will „die stilistischen Besonderheiten des Werkes genauer wiedergeben als bisher”, er will „die deutsche Sprache bis an ihre Grenzen” treiben, „so wie Proust es mit der französischen tat”. Was Vielseitigkeit und Anspielungsreichtum betrifft, haben natürlich auch seine Vorgänger schon nach bestem Wissen dasselbe versucht und sich dazu gelegentlich ausführlich geäußert. Die Mühe Kleebergs ist sichernicht ohne Erfolg geblieben, zumal er die vorliegenden Versionen als Sprungbrett benutzen konnte. Aber der Wunsch, es neu und anders zu machen, produziert nicht notwendig eine bessere Lösung. Der erste Satz des Buches hieß bei Eva Rechel-Mertens (und Luzius Keller hat daran nichts auszusetzen gefunden): „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.” Michael Kleeberg möchte dem französischen Wortlaut auf der Spur bleiben und schreibt: „Lange Zeit habe ich mich zu früher Stunde schlafen gelegt”, weil im Französischen „de bonne heure” steht. Während dies aber ein geläufiger, sogar mündlich gebrauchter Ausdruck ist, hat die deutsche Form „zu früher Stunde” etwas Pedantisches und Gestelztes, wofür Proust keinen Anlass bietet. Aus ähnlichen Skrupeln heraus hatte wohl Eva Rechel-Mertens schon „longtemps” mit „lange Zeit” übersetzt, was Kleeberg beibehält – aber für „longtemps” gibt es das deutsche Adverb „lange”, und in der einfachsten Form dieses unscheinbaren Satzes, „Lange bin ich früh schlafen gegangen”, begegnet uns wohl der wahre Proust.
Im nächsten Satz ist bei Rechel-Mertens und Keller von einer Kerze („bougie”) die Rede; Kleeberg schreibt hier „kaum war die Lampe gelöscht” und benutzt ein paar Zeilen weiter für „souffler la lumière” dann „die Kerze ausblasen”, wo seine Vorgänger sehr konservativ „das Licht ausblasen” geschrieben hatten. Daran ist nicht viel auszusetzen, doch ist der mit den wörtlichen Entsprechungen „Kerze” und „Licht” aufgerufene Anspielungsreichtum für ein Kinderschlafzimmer der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts gewiss am treffendsten.
Eine kindliche erotische Phantasie führt Proust mit dem Satz ein: „Quelquefois, comme Ève naquit d-une côte d-Adam, une femme naissait pendant mon sommeil d-une fausse position de ma cuisse.” Wörtlich: „Manchmal, wie Eva geboren wurde aus einer Rippe Adams, entstand eine Frau während meines Schlafs aus einer falschen Lage meines Oberschenkels.” Die psychologisch deutliche Verknüpfung des Motivs der Erschaffung von Eva (aus einer Rippe) mit dem Traumbild einer Frau (aus dem Druck des Oberschenkels) erscheint in assoziativer, nicht in logischer Folge. Rechel-Mertens hat den anzüglichen Oberschenkel amputiert und den Satz in eine logisch-chronologische Ordnung gebracht, damit freilich auch Proust aus seinem Satz vertrieben: „Manchmal entstand in meinem Schlaf aus einer falschen Lage wie Eva aus der Rippe Adams eine Frau.” Keller hat hier zu Recht revidiert und die assoziative Reihenfolge wenigstens zum Teil wiederhergestellt: „Wie Eva aus einer Rippe Adams, so entstand manchmal, während ich schlief, aus einer falschen Lage meiner Schenkel eine Frau.” Und nun geht Kleeberg noch einen kleinen Schritt weiter zurück zu Proust: „Manchmal erwuchs, so wie Eva aus einer Rippe Adams entstand, während meines Schlafs eine Frau aus einer falschen Lage meines Schenkels.”
Der Zwang des Deutschen, das konjugierte Verb an zweiter Stelle zu bringen, macht diesen Satz logischer und etwas weniger assoziativ als das Original, aber nun ist die Reihenfolge in Ordnung. „Erwuchs” und „entstand” sind geschickte Entsprechungen der beiden verschieden tönenden Formen des selben französischen Verbs („naquit” und „naissait” von „naître”, „geboren werden”).„Während meines Schlafs” ist nicht in einen Nebensatz transformiert, und der Schenkel steht wieder im Singular. Schnell liest man darüber hin, doch sind hier die stilistischen Besonderheiten wirklich genauer wiedergegeben worden als bisher – und sie sind ja nicht nur Dekor, sondern sachlich relevant, weil sie die verschlungenen Wege der Erinnerung abbilden.
Die Lage der Schenkel
Proust gibt sich mit dieser Evokation nicht zufrieden. Er lässt eine logische Erklärung folgen, oder besser: er zwingt seine Leser, die logische Verbindung des folgenden Satzes selber herzustellen. Von der Traum- Frau heißt es nun: „Formée du plaisir que j'étais sur le point de goûter, je m'imaginais que c'était elle qui me l'offrait.” Luzius Keller hat die verzwickte Formulierung von Eva Rechel-Mertens klären wollen. Das ist ihm zweifellos gelungen, wenn er auch etwas fest zugreifen musste: „Sie (die Frau) war ein Gebilde der Lust, die in mir hochstieg, doch stellte ich mir vor, diese Lust würde mir von ihr geschenkt.” Die Partizipialkonstruktion von Proust verrät keine logische Verbindung, man muss sie raten, aber sie ist zweifellos konzessiv und bedeutet (paraphrasiert): Zwar war die Frau aus dem Lustgefühl hervorgegangen, ich aber stellte mir vor, dass sie mir diese Lust erst schenkte. Bei Keller steckt der konzessive Sinn im „doch”. Michael Kleeberg imitiert den französischen Satzbau in einer Formel, die nicht bis an die Grenzen der deutschen Sprache, sondern schlicht darüber hinaus geht: „Von der Lust erschaffen, die ich im Begriff war zu kosten, stellte ich mir vor, sie sei es, die mir jene schenke.” In der Verständlichkeit geht das weit hinter Keller zurück, weil die Pronomen am Schluss („jene” = die Lust, „sie” = die Frau) beide feminin und darum schwer auseinanderzuhalten sind. Das Partizip (von der Lust erschaffen) bleibt in der Luft hängen. Der Satz von Proust ist dagegen trotz seiner geringen Abweichung von der Norm ein Muster an Klarheit, denn das Partizip ist als Femininum zu erkennen und kann sich nur auf die Frau beziehen, und die Pronomen treten nicht in Konkurrenz. Nicht dass die deutsche Sprache hier etwas vergewaltigt wird, ist dabei problematisch, sondern dass ein auf Anhieb verständlicher Satz in der Übersetzung wie gerädert herauskommt.
Vergleiche dieser Art haben freilich etwas Künstliches, denn Übersetzungen werden in erster Linie für Leser geschrieben, die der fremden Sprache nicht mächtig sind oder doch jedenfalls bei der Lektüre des Originaltextes mehr Missverständnissen ausgesetzt wären als bei der Lektüre einer Übersetzung, wenn diese auch nicht allen Besonderheiten des Originals folgen kann. Die Arbeit von Michael Kleeberg verlangt Respekt und wird an vielen Stellen etwas vom Original durchblicken lassen, was Luzius Keller und noch mehr Eva Rechel-Mertens vermissen ließen. Häufig aber gehen seine Entscheidungen auch auf Kosten einer anderen Nuance, die sich bei seinen Vorgängern besser erhalten hatte. Insbesondere ist seine scheinbare Nähe zum Text in Wortwahl und Wortstellung immer der Gefahr ausgesetzt, Effekte zu dulden, die sich durch nichts anderes als durch die französische Form rechtfertigen lassen und die darum das Original auf stilistischer und semantischer Ebene zu verfälschen drohen.
Das deutschsprachige Lesepublikum darf seinen „wahren Marcel Proust” bei Michael Kleeberg suchen, aber es wird ihn auch weiter bei Luzius Keller finden – und wenn jemand im Bücherschrank der Eltern auf die Übersetzung von Eva Rechel-Mertens stoßen sollte, wird ihm Marcel Proust auch dort noch begegnen.
HANS–HERBERT RÄKEL
MARCEL PROUST: Combray. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2002. 288 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2002Fetzenflug der Nebensätze
Michael Kleebergs Neuübersetzung von Prousts "Combray"
"Flieg. Fetzen." So endet Arno Schmidts "Leviathan". Und meint damit die Vernichtung aller Zivilisation bis hin zur Zerstörung selbst der Prosa. Flieg, Fetzen, das meint auch Proust - er drückt es nur ein wenig umständlicher aus: "Und genauso wie in jenem Spiel, bei dem die Japaner sich damit amüsieren, in eine wassergefüllte Porzellantasse kleine, formlose Papierschnipsel zu werfen, die sich beim ersten Kontakt mit der Flüssigkeit ausdehnen, Konturen und Farben bekommen" - ein paar Nebensätze seien übersprungen -, "ganz genauso sind in diesem Augenblick alle Blumen unseres Gartens und die des Parks von Monsieur Swann, auch die Seerosen der Vivonne, desgleichen die ganzen Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuschen und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, Form und Festigkeit annehmend, Stadt wie Gärten, aus meiner Tasse Tee entstanden." So steht es am Ende des ersten Kapitels der "Suche nach der verlorenen Zeit", und kaum ein anderer Satz der Literatur hat je so exakt vorgesprochen, was dann geschehen wird: die Erweiterung zu Combray, die Entstehung einer fiktiven Kindheit auf statt aus Papierschnipseln. Flieg, Fetzen. Doch die Bruchstücke setzen sich immer wieder zusammen. Proust ist der einzige Mensch, für den der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht gilt.
Der Höhenflug, den der Roman des zwanzigsten Jahrhunderts mit der "Recherche" antrat, ist unübertroffen geblieben. Das kann man von ihren diversen deutschen Übersetzungen nicht so eindeutig sagen. Walter Benjamins frühe Bemühungen bleiben folgenlos, Eva Rechel-Mertens schenkte uns dann eine erste Version von großer Eleganz, die Luzius Keller in der gerade abgeschlossenen Fassung der Werkausgabe noch zu steigern suchte.
Und nun noch Michael Kleemann, der sich indes bisher nur an einen winzigen, wenn auch den melancholisch-schönsten Part des abertausendseitigen Werks gewagt hat: an "Combray", den ersten Teil des 1913 erschienenen ersten Bandes der "Recherche", also gerade an knapp sechs Prozent des Gesamtumfangs. Doch gleich verspricht sein Verlag uns "den wahren Proust". Als könnte es den im Deutschen geben.
Denn wie soll man "après la mort des êtres" übersetzen? Als "nach dem Ableben der Personen", wie Rechel-Mertens es tut, als "nach dem Tod der Menschen", wie Keller will, oder als "nach dem Tod der lebendigen Wesen", wie Kleeberg es in der umständlichsten aller Übertragungen vorschlägt? Sind das "die feinen Verästelungen", denen in der Neufassung gefolgt werden sollte: aus sieben Silben zehn zu machen, aus einem Rhythmus ein Gestammel? Die beiden früheren Versuche lagen fürwahr nicht näher an der Wahrheit, denn es kann keine geben in einer fremden Sprache. Deshalb ist jedes Wettkampfdenken unangebracht. Ob "transvertébration" nun "Skelettverflüssigung" heißt oder doch "Rückgratvertauschung" oder gar "Entrückung" - das interessiert sowenig wie die Namen der jeweiligen Übersetzer.
Es geht um viel mehr: um den Flug der Fetzen, aus denen eine Welt ersteht. Welche Übersetzung schwebt und baut mit? Vielleicht nicht jene, die "dans un tableau de primitif" als "auf primitiven Gemälden" wiedergibt, wie Kleeberg es tut. Was soll die Mehrzahl? Und weiß der Übersetzer nicht, daß "primitiv" im Französischen die niederländische Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts bezeichnet? Da liegt Keller mit seinem "spätgotischen Bild" weitaus besser. Wie auch mit seiner zugegebenermaßen treudeutschen "Dampfnudel" für den zarten "chausson", der zwar eher eine "Pastete" sein mag, wie Kleeberg übersetzt, aber mit dieser Bezeichnung geht die metaphorische Bezeichnung verloren. Und dann will Kleeberg wissen, daß "petite fille" eine Enkelin bezeichnet. Aber das tut sie nur, wenn ein Bindestrich die beiden Worte koppelt. So bleibt es eine "kleine Tochter".
Die wahre Probe aber muß bei den Sätzen gemacht werden, die Proust wie kein zweiter zu drechseln verstand. Seine zahllosen Parenthesen, die unabsehbare Fülle an Nebensätzen, und dann bisweilen der Umschwung zu einer lapidaren Aussage - das fängt Kleeberg in der Tat insofern besser ein, als er Proust im Deutschen vertraut wirken läßt. So mögen einige Leser erst Zugang zur "Recherche" finden. Manch gesuchte Annäherung an den französischen Satzbau, die von Rechel-Mertens auf Keller kam, ist bei Kleeberg zugunsten einer in unserer Sprache gängigeren Version gewichen. Dadurch geht aber auch das Gefühl verloren, etwas Einzigartiges zu lesen, denn Proust rückt nun erstaunlich nahe an Thomas Mann.
Dabei ist beider Ziel kaum gegensätzlicher zu denken. Der Schriftsteller der Ideen gegen den der Erinnerung. Proust hat in seinem Ton gerade bei "Combray" immer etwas Träumerisches, doch auch unendlich Subtiles, an dem die Übersetzer verzweifeln müssen, wenn sie es denn bemerken. So jene "allitération perpétuelle", die der Erzähler bei den Schilderungen seiner Spaziergänge an der Vivonne erkennt, von "contenant" und "contenu" (enthaltend und Inhalt), die Glas und Wasser vexierartig ineinander spielen lassen. Was übersetzen Kleemann und Keller? "Behälter" beziehungsweise "Behältnis" und "Inhalt", und dann lassen beide die "unaufhörliche Alliteration" folgen, die aber bei ihnen doch nie angefangen hat. Und Rechel-Mertens, die in einem Geniestreich "enthaltend" und (etwas gewaltsam) "enthalten" übersetzt, vergißt dann einfach die Alliteration, die sie doch schon hatte, und fabuliert etwas von "trügerisch".
Aber vielleicht wird sie damit Proust sogar gerecht, denn dieser Text selbst ist ja eine gigantische Metapher und somit immer trügerisch: "l'édifice immense du souvenir". Da sind sie sich übrigens einmal einig: "Unermeßliches Gebäude der Erinnerung" übersetzt Rechel-Mertens (und Keller hat nichts auszusetzen), "ungeheurer Bau der Erinnerung" Kleeberg. Manches bei Proust ist doch festgeschrieben. Der Rest? Fliegt.
ANDREAS PLATTHAUS
Marcel Proust: "Combray". Aus dem Französischen übersetzt von Michael Kleeberg. Liebeskind Verlag, München 2002. 288 S., geb., 22,- [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Kleebergs Neuübersetzung von Prousts "Combray"
"Flieg. Fetzen." So endet Arno Schmidts "Leviathan". Und meint damit die Vernichtung aller Zivilisation bis hin zur Zerstörung selbst der Prosa. Flieg, Fetzen, das meint auch Proust - er drückt es nur ein wenig umständlicher aus: "Und genauso wie in jenem Spiel, bei dem die Japaner sich damit amüsieren, in eine wassergefüllte Porzellantasse kleine, formlose Papierschnipsel zu werfen, die sich beim ersten Kontakt mit der Flüssigkeit ausdehnen, Konturen und Farben bekommen" - ein paar Nebensätze seien übersprungen -, "ganz genauso sind in diesem Augenblick alle Blumen unseres Gartens und die des Parks von Monsieur Swann, auch die Seerosen der Vivonne, desgleichen die ganzen Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuschen und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, Form und Festigkeit annehmend, Stadt wie Gärten, aus meiner Tasse Tee entstanden." So steht es am Ende des ersten Kapitels der "Suche nach der verlorenen Zeit", und kaum ein anderer Satz der Literatur hat je so exakt vorgesprochen, was dann geschehen wird: die Erweiterung zu Combray, die Entstehung einer fiktiven Kindheit auf statt aus Papierschnipseln. Flieg, Fetzen. Doch die Bruchstücke setzen sich immer wieder zusammen. Proust ist der einzige Mensch, für den der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht gilt.
Der Höhenflug, den der Roman des zwanzigsten Jahrhunderts mit der "Recherche" antrat, ist unübertroffen geblieben. Das kann man von ihren diversen deutschen Übersetzungen nicht so eindeutig sagen. Walter Benjamins frühe Bemühungen bleiben folgenlos, Eva Rechel-Mertens schenkte uns dann eine erste Version von großer Eleganz, die Luzius Keller in der gerade abgeschlossenen Fassung der Werkausgabe noch zu steigern suchte.
Und nun noch Michael Kleemann, der sich indes bisher nur an einen winzigen, wenn auch den melancholisch-schönsten Part des abertausendseitigen Werks gewagt hat: an "Combray", den ersten Teil des 1913 erschienenen ersten Bandes der "Recherche", also gerade an knapp sechs Prozent des Gesamtumfangs. Doch gleich verspricht sein Verlag uns "den wahren Proust". Als könnte es den im Deutschen geben.
Denn wie soll man "après la mort des êtres" übersetzen? Als "nach dem Ableben der Personen", wie Rechel-Mertens es tut, als "nach dem Tod der Menschen", wie Keller will, oder als "nach dem Tod der lebendigen Wesen", wie Kleeberg es in der umständlichsten aller Übertragungen vorschlägt? Sind das "die feinen Verästelungen", denen in der Neufassung gefolgt werden sollte: aus sieben Silben zehn zu machen, aus einem Rhythmus ein Gestammel? Die beiden früheren Versuche lagen fürwahr nicht näher an der Wahrheit, denn es kann keine geben in einer fremden Sprache. Deshalb ist jedes Wettkampfdenken unangebracht. Ob "transvertébration" nun "Skelettverflüssigung" heißt oder doch "Rückgratvertauschung" oder gar "Entrückung" - das interessiert sowenig wie die Namen der jeweiligen Übersetzer.
Es geht um viel mehr: um den Flug der Fetzen, aus denen eine Welt ersteht. Welche Übersetzung schwebt und baut mit? Vielleicht nicht jene, die "dans un tableau de primitif" als "auf primitiven Gemälden" wiedergibt, wie Kleeberg es tut. Was soll die Mehrzahl? Und weiß der Übersetzer nicht, daß "primitiv" im Französischen die niederländische Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts bezeichnet? Da liegt Keller mit seinem "spätgotischen Bild" weitaus besser. Wie auch mit seiner zugegebenermaßen treudeutschen "Dampfnudel" für den zarten "chausson", der zwar eher eine "Pastete" sein mag, wie Kleeberg übersetzt, aber mit dieser Bezeichnung geht die metaphorische Bezeichnung verloren. Und dann will Kleeberg wissen, daß "petite fille" eine Enkelin bezeichnet. Aber das tut sie nur, wenn ein Bindestrich die beiden Worte koppelt. So bleibt es eine "kleine Tochter".
Die wahre Probe aber muß bei den Sätzen gemacht werden, die Proust wie kein zweiter zu drechseln verstand. Seine zahllosen Parenthesen, die unabsehbare Fülle an Nebensätzen, und dann bisweilen der Umschwung zu einer lapidaren Aussage - das fängt Kleeberg in der Tat insofern besser ein, als er Proust im Deutschen vertraut wirken läßt. So mögen einige Leser erst Zugang zur "Recherche" finden. Manch gesuchte Annäherung an den französischen Satzbau, die von Rechel-Mertens auf Keller kam, ist bei Kleeberg zugunsten einer in unserer Sprache gängigeren Version gewichen. Dadurch geht aber auch das Gefühl verloren, etwas Einzigartiges zu lesen, denn Proust rückt nun erstaunlich nahe an Thomas Mann.
Dabei ist beider Ziel kaum gegensätzlicher zu denken. Der Schriftsteller der Ideen gegen den der Erinnerung. Proust hat in seinem Ton gerade bei "Combray" immer etwas Träumerisches, doch auch unendlich Subtiles, an dem die Übersetzer verzweifeln müssen, wenn sie es denn bemerken. So jene "allitération perpétuelle", die der Erzähler bei den Schilderungen seiner Spaziergänge an der Vivonne erkennt, von "contenant" und "contenu" (enthaltend und Inhalt), die Glas und Wasser vexierartig ineinander spielen lassen. Was übersetzen Kleemann und Keller? "Behälter" beziehungsweise "Behältnis" und "Inhalt", und dann lassen beide die "unaufhörliche Alliteration" folgen, die aber bei ihnen doch nie angefangen hat. Und Rechel-Mertens, die in einem Geniestreich "enthaltend" und (etwas gewaltsam) "enthalten" übersetzt, vergißt dann einfach die Alliteration, die sie doch schon hatte, und fabuliert etwas von "trügerisch".
Aber vielleicht wird sie damit Proust sogar gerecht, denn dieser Text selbst ist ja eine gigantische Metapher und somit immer trügerisch: "l'édifice immense du souvenir". Da sind sie sich übrigens einmal einig: "Unermeßliches Gebäude der Erinnerung" übersetzt Rechel-Mertens (und Keller hat nichts auszusetzen), "ungeheurer Bau der Erinnerung" Kleeberg. Manches bei Proust ist doch festgeschrieben. Der Rest? Fliegt.
ANDREAS PLATTHAUS
Marcel Proust: "Combray". Aus dem Französischen übersetzt von Michael Kleeberg. Liebeskind Verlag, München 2002. 288 S., geb., 22,- [Euro]
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