Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2007Ein Siebenundzwanzigstel näher an der Vollendung
Stéphane Heuet verwandelt mit Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" das größte französische Romanwerk kongenial in einen Comic. Im Rahmen seinees 1998 begonnenen Mammutprojekts ist der Zeichner jetzt bei "Eine Liebe Swanns" angelangt: Aus 140 Seiten Roman ist ein 46 Seiten starker Comic geworden. Heuets bildhafte Textanalyse inspiriert sogar die Proust-Forschung zu neuen Erkenntnissen.
Von Andreas Platthaus
Es steht zu fürchten, dass sich der französische Comiczeichner Stéphane Heuet einmal selbst auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben wird. Denn wie soll er in seinem mittlerweile schon neunundvierzig Jahre währenden Leben das große Vorhaben noch zu Ende führen? Mehr als drei Jahre hat er gebraucht, um jetzt endlich den lange erwarteten vierten Band seiner Adaption von Prousts "A la recherche du temps perdu" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) fertigzustellen - und dann enthält dieses Album nur die erste Hälfte des zweiten Teils von Band eins des Romanzyklus: kürzer gesagt, den Beginn der wundersamen Geschichte "Eine Liebe Swanns". Sie umfasst insgesamt in der deutschen Übersetzung knapp dreihundert Seiten - von den mehr als viertausend der ganzen "Recherche". Heuet hat sich also wieder nur um ein Siebenundzwanzigstel der Vollendung seines eigenen Vorhabens genährt.
Der erst spät zum Comic gekommene Werbegraphiker ist ein Perfektionist - und ein Proust-Liebhaber ohne Beispiel. Das erklärt auch seine zögerliche Vorgehensweise. Suchte er anfangs noch nach dem richtigen graphischen Ausdruck für die Welt des Romans, so ist seine Adaption nun zur umständlichen Textexegese geworden: Was darf, was kann, was muss man weglassen, um das Mammutwerk bewältigen zu können? Die etwa 140 Seiten Proust, die den Stoff für Heuets ersten Band zu "Un amour de Swann" abgeben, machen im Comic 46 Seiten aus.
Ästhetisch ist der Band wieder ein Fortschritt, chronologisch in jeder Hinsicht ein Rückschritt. Mit den ersten drei Alben war Heuet bereits viel weiter, nämlich bis an das Ende von "Im Schatten junger Mädchenblüte", dem zweiten Band von Prousts Zyklus, gelangt. Die vorher erzählte "Liebe Swanns" hatte er ausgelassen, weil ihm die dialogreiche Struktur des Textes, der zu erheblichen Teilen im Salon des affektierten Ehepaares Verdurin spielt und zudem zeitlich als einziger Teil der "Recherche" vor der Geburt des Ich-Erzählers angesiedelt ist, zu schwierig zu zeichnen schien. Lange Passagen - und Proust hat nach Peter Weiss die längsten der Weltliteratur zu bieten - lassen sich zwar auf Comicseiten herrlich verknappen, weil man umständlichste Beschreibungen in einem einzigen Bild unterbringen kann; für Dialoge aber gilt das nicht.
Doch der Erfolg der ersten drei Alben machte dem Zeichner Mut. Seine Version der "Recherche" ist bereits von der französischen Proust-Gesellschaft ausgezeichnet und in ein Dutzend Sprachen übersetzt worden (natürlich immer noch nicht ins Deutsche, aber es gibt gerade ein optimistisch stimmendes Verlagsbemühen). Doch gerade weil Heuet die "Recherche" mittlerweile so gut kennt wie die größten Experten, konnte er auf Dauer nicht an "Eine Liebe Swanns" vorbei. Denn wer es bei Proust bis zum Abschlussband "Die wiedergefundene Zeit" geschafft hat, stößt dort auf folgenden Satz: "Wenn ich es mir genau überlegte, hatte ich alles in allem den Stoff meiner Erfahrung, der auch der meines Buches sein würde, von Swann . . ."
Mehr als das: Der Romanzyklus führt am Schluss die Handlung aus "Eine Liebe Swanns" konsequent zu Ende, wenn die von Swann angebetete Odette de Crécy doch noch seinen großen Nebenbuhler, den Graf von Forcheville, heiratet. Da ist Swann schon tot (Proust spricht bei der Schilderung der Todesnachricht mit einem Augenzwinkern von jenem "jungen Dummkopf", der Swann zum Helden seines Romans erkoren hat), doch seine große Leidenschaft für Odette spukt durch alle Bände. Ohne Swanns frühe Liebes- und Leidensepisode geriete das ganze Gefühlsgefüge der "Recherche" aus den Fugen.
Also hat sich Stéphane Heuet doch noch ihrer angenommen, und wie versiert er im Umgang mit Prousts Vorlage geworden ist, beweist seine Umsetzung der Salongespräche. Bis hin zur Position der Sprechblasen nutzt er jedes Detail, um den "kleinen Kreis" der Verdurins zu charakterisieren: das überbetonte Sprechen des Pianisten, die spitzen Aufschreie von Madame Verdurin, das Salbadern von Brichot. Auf das Naheliegende verzichtet er: nämlich auf minutiös ausgearbeitete Porträtzeichnungen der Protagonisten; sie werden sämtlich vielmehr karikierend gezeichnet. Doktor Cottard könnte mit seiner Knollennase geradewegs einem "Asterix"-Album entsprungen sein, und Madame Verdurin verdankt ihre barocke Physiognomie dem Vorbild von Madame Castafiore aus "Tim und Struppi".
Gleichzeitig aber bringt Heuet auch die zahlreichen von Proust selbst beschriebenen physiognomischen Ähnlichkeiten seiner Romanfiguren mit berühmten Bildnissen der Kunstgeschichte zur Geltung, indem er die im Buch genannten Werke von Botticelli, Ghirlando oder Tintoretto in seine Seiten hineinmontiert. Selbst für Prousts Vergleich von Odettes Lächeln mit Skizzen von Watteau hat der Comiczeichner eine Lösung gefunden: ein pastellnes Pastiche, das zweifellos Proust, den großen Virtuosen des literarischen Pastiches, hoch erfreut hätte.
Doch Bilder ab- oder umzuzeichnen ist noch keine große Kunst. Wie aber hält es Heuet mit dem zentralen ästhetischen Aspekt dieses Teils der "Recherche", dem berühmten "kleinen Thema", einer Melodie aus dem Andante einer Sonate des fiktiven Komponisten Vinteuil, das zum Leitmotiv der Liebe zwischen Odette und Swann wird? Er führt es genauso spektakulär ein wie vor neun Jahren im Debütband "Combray" den Duft der Madeleine: als Doppelseite, die alle Assoziationen ins Bild setzt, die Swann im Buch beim Klang der Melodie kommen: Meereswellen, Rosenduft, einsame Landschaften - und das alles malvenfarben gehalten, so wie Swann die Töne synästhetisch empfindet. Heuet hat als Vorlage für die Noten, die er über die Doppelseite schwingen lässt, übrigens die einer Barcarole aus der Feder von Charles-Valentin Alkan (1813-1888) gewählt, einem Komponisten, der nichtmal in der großen kommentierten Pléiade-Ausgabe als mögliches Vorbild für Prousts Vinteuil genannt wird. Hier hat Heuet in Gestalt seines Comics wieder etwas Anregendes für die Forschung zu bieten.
Mit der Fortsetzung von "Eine Liebe Swanns" im fünften Band werden dann endlich die ersten beiden Teile der "Recherche" komplett als Comic umgesetzt sein. Als Trainingslager für die dann folgenden Salongespräche in den Romanteilen "Die Welt der Guermantes" und "Sodom und Gomorra" war der Einschub der "Liebe Swanns" gewiss hilfreich. Doch diese Ergänzung hat auch gezeigt, was für eine Sorgfalt dabei vonnöten ist. Ob Stéphane Heuet anders als Proust das große Werk zu Ende bringen wird? Der Schriftsteller konnte immerhin die fehlenden Bände als vollständige, wenn auch unkorrigierte Manuskript hinterlassen; im Nachlass von Comiczeichnern haben sich noch nie fertige Alben gefunden.
Die Kolumne von Christian Kracht erscheint in zwei Wochen wieder an gewohnter Stelle.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Stéphane Heuet verwandelt mit Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" das größte französische Romanwerk kongenial in einen Comic. Im Rahmen seinees 1998 begonnenen Mammutprojekts ist der Zeichner jetzt bei "Eine Liebe Swanns" angelangt: Aus 140 Seiten Roman ist ein 46 Seiten starker Comic geworden. Heuets bildhafte Textanalyse inspiriert sogar die Proust-Forschung zu neuen Erkenntnissen.
Von Andreas Platthaus
Es steht zu fürchten, dass sich der französische Comiczeichner Stéphane Heuet einmal selbst auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben wird. Denn wie soll er in seinem mittlerweile schon neunundvierzig Jahre währenden Leben das große Vorhaben noch zu Ende führen? Mehr als drei Jahre hat er gebraucht, um jetzt endlich den lange erwarteten vierten Band seiner Adaption von Prousts "A la recherche du temps perdu" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) fertigzustellen - und dann enthält dieses Album nur die erste Hälfte des zweiten Teils von Band eins des Romanzyklus: kürzer gesagt, den Beginn der wundersamen Geschichte "Eine Liebe Swanns". Sie umfasst insgesamt in der deutschen Übersetzung knapp dreihundert Seiten - von den mehr als viertausend der ganzen "Recherche". Heuet hat sich also wieder nur um ein Siebenundzwanzigstel der Vollendung seines eigenen Vorhabens genährt.
Der erst spät zum Comic gekommene Werbegraphiker ist ein Perfektionist - und ein Proust-Liebhaber ohne Beispiel. Das erklärt auch seine zögerliche Vorgehensweise. Suchte er anfangs noch nach dem richtigen graphischen Ausdruck für die Welt des Romans, so ist seine Adaption nun zur umständlichen Textexegese geworden: Was darf, was kann, was muss man weglassen, um das Mammutwerk bewältigen zu können? Die etwa 140 Seiten Proust, die den Stoff für Heuets ersten Band zu "Un amour de Swann" abgeben, machen im Comic 46 Seiten aus.
Ästhetisch ist der Band wieder ein Fortschritt, chronologisch in jeder Hinsicht ein Rückschritt. Mit den ersten drei Alben war Heuet bereits viel weiter, nämlich bis an das Ende von "Im Schatten junger Mädchenblüte", dem zweiten Band von Prousts Zyklus, gelangt. Die vorher erzählte "Liebe Swanns" hatte er ausgelassen, weil ihm die dialogreiche Struktur des Textes, der zu erheblichen Teilen im Salon des affektierten Ehepaares Verdurin spielt und zudem zeitlich als einziger Teil der "Recherche" vor der Geburt des Ich-Erzählers angesiedelt ist, zu schwierig zu zeichnen schien. Lange Passagen - und Proust hat nach Peter Weiss die längsten der Weltliteratur zu bieten - lassen sich zwar auf Comicseiten herrlich verknappen, weil man umständlichste Beschreibungen in einem einzigen Bild unterbringen kann; für Dialoge aber gilt das nicht.
Doch der Erfolg der ersten drei Alben machte dem Zeichner Mut. Seine Version der "Recherche" ist bereits von der französischen Proust-Gesellschaft ausgezeichnet und in ein Dutzend Sprachen übersetzt worden (natürlich immer noch nicht ins Deutsche, aber es gibt gerade ein optimistisch stimmendes Verlagsbemühen). Doch gerade weil Heuet die "Recherche" mittlerweile so gut kennt wie die größten Experten, konnte er auf Dauer nicht an "Eine Liebe Swanns" vorbei. Denn wer es bei Proust bis zum Abschlussband "Die wiedergefundene Zeit" geschafft hat, stößt dort auf folgenden Satz: "Wenn ich es mir genau überlegte, hatte ich alles in allem den Stoff meiner Erfahrung, der auch der meines Buches sein würde, von Swann . . ."
Mehr als das: Der Romanzyklus führt am Schluss die Handlung aus "Eine Liebe Swanns" konsequent zu Ende, wenn die von Swann angebetete Odette de Crécy doch noch seinen großen Nebenbuhler, den Graf von Forcheville, heiratet. Da ist Swann schon tot (Proust spricht bei der Schilderung der Todesnachricht mit einem Augenzwinkern von jenem "jungen Dummkopf", der Swann zum Helden seines Romans erkoren hat), doch seine große Leidenschaft für Odette spukt durch alle Bände. Ohne Swanns frühe Liebes- und Leidensepisode geriete das ganze Gefühlsgefüge der "Recherche" aus den Fugen.
Also hat sich Stéphane Heuet doch noch ihrer angenommen, und wie versiert er im Umgang mit Prousts Vorlage geworden ist, beweist seine Umsetzung der Salongespräche. Bis hin zur Position der Sprechblasen nutzt er jedes Detail, um den "kleinen Kreis" der Verdurins zu charakterisieren: das überbetonte Sprechen des Pianisten, die spitzen Aufschreie von Madame Verdurin, das Salbadern von Brichot. Auf das Naheliegende verzichtet er: nämlich auf minutiös ausgearbeitete Porträtzeichnungen der Protagonisten; sie werden sämtlich vielmehr karikierend gezeichnet. Doktor Cottard könnte mit seiner Knollennase geradewegs einem "Asterix"-Album entsprungen sein, und Madame Verdurin verdankt ihre barocke Physiognomie dem Vorbild von Madame Castafiore aus "Tim und Struppi".
Gleichzeitig aber bringt Heuet auch die zahlreichen von Proust selbst beschriebenen physiognomischen Ähnlichkeiten seiner Romanfiguren mit berühmten Bildnissen der Kunstgeschichte zur Geltung, indem er die im Buch genannten Werke von Botticelli, Ghirlando oder Tintoretto in seine Seiten hineinmontiert. Selbst für Prousts Vergleich von Odettes Lächeln mit Skizzen von Watteau hat der Comiczeichner eine Lösung gefunden: ein pastellnes Pastiche, das zweifellos Proust, den großen Virtuosen des literarischen Pastiches, hoch erfreut hätte.
Doch Bilder ab- oder umzuzeichnen ist noch keine große Kunst. Wie aber hält es Heuet mit dem zentralen ästhetischen Aspekt dieses Teils der "Recherche", dem berühmten "kleinen Thema", einer Melodie aus dem Andante einer Sonate des fiktiven Komponisten Vinteuil, das zum Leitmotiv der Liebe zwischen Odette und Swann wird? Er führt es genauso spektakulär ein wie vor neun Jahren im Debütband "Combray" den Duft der Madeleine: als Doppelseite, die alle Assoziationen ins Bild setzt, die Swann im Buch beim Klang der Melodie kommen: Meereswellen, Rosenduft, einsame Landschaften - und das alles malvenfarben gehalten, so wie Swann die Töne synästhetisch empfindet. Heuet hat als Vorlage für die Noten, die er über die Doppelseite schwingen lässt, übrigens die einer Barcarole aus der Feder von Charles-Valentin Alkan (1813-1888) gewählt, einem Komponisten, der nichtmal in der großen kommentierten Pléiade-Ausgabe als mögliches Vorbild für Prousts Vinteuil genannt wird. Hier hat Heuet in Gestalt seines Comics wieder etwas Anregendes für die Forschung zu bieten.
Mit der Fortsetzung von "Eine Liebe Swanns" im fünften Band werden dann endlich die ersten beiden Teile der "Recherche" komplett als Comic umgesetzt sein. Als Trainingslager für die dann folgenden Salongespräche in den Romanteilen "Die Welt der Guermantes" und "Sodom und Gomorra" war der Einschub der "Liebe Swanns" gewiss hilfreich. Doch diese Ergänzung hat auch gezeigt, was für eine Sorgfalt dabei vonnöten ist. Ob Stéphane Heuet anders als Proust das große Werk zu Ende bringen wird? Der Schriftsteller konnte immerhin die fehlenden Bände als vollständige, wenn auch unkorrigierte Manuskript hinterlassen; im Nachlass von Comiczeichnern haben sich noch nie fertige Alben gefunden.
Die Kolumne von Christian Kracht erscheint in zwei Wochen wieder an gewohnter Stelle.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main