Zum Buchmesseschwerpunkt "Katalonien" legt die FVA unter dem Titel Hundert Geschichten erstmals alle Erzählungen des bekannten katalanischen Schriftstellers Quim Monzó in einem Band vor. Es beginnt mit seinen frühen Geschichten Uff, sagte er: Hominiden, die Katalonien entdecken, Bankräuber die im Vollrausch eine Fleischbank überfallen, Literophagen, die Spaß daran finden, Buchstaben zu verschlingen. In den folgenden Kapiteln finden wir bunte Geschichten über Beziehungsprobleme, über Irrungen und Wirrungen moderner Beziehungskisten, über die falsche Eitelkeit der Menschen, das unaufhaltsame Vergehen der Zeit, über fatale Mißverständnisse mit unvorhersehbaren Folgen. Geschichten über frischverliebte und erfahrenere Ehepaare, Singles, Liebe und Liebesschmerz, Glück und Eifersucht, Sex und erotische Spielerei. Humorvoll, meisterhaft, makaber, schnörkellos und präzise bringt es Quim Monzó auf seine unverwechselbare Weise auf den Punkt, geben seine "Romane in Pillenform" ein ironisch-komisches Abbild des Lebensgefühls unserer westeuropäischen Gesellschaft.
Der Leser muß mit Überraschungen rechnen: Hundert wunderbare Geschichten, die zu dem Besten gehören, was derzeit in diesem Genre geschieht. Und über allen schwebt der mehr oder minder eingestandene Wunsch nach einem großen Zusammenhang, einem Sinn dieses zerfahrenen Lebens. Denn, das scheint Monzó sagen zu wollen: Menschen treiben unbelehrbar und orientierungslos durch die Zeit und glauben an eine rote Linie, die es nicht mehr gibt, sie sind Robinsone einer nichtkommunikativen Ära.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Der Leser muß mit Überraschungen rechnen: Hundert wunderbare Geschichten, die zu dem Besten gehören, was derzeit in diesem Genre geschieht. Und über allen schwebt der mehr oder minder eingestandene Wunsch nach einem großen Zusammenhang, einem Sinn dieses zerfahrenen Lebens. Denn, das scheint Monzó sagen zu wollen: Menschen treiben unbelehrbar und orientierungslos durch die Zeit und glauben an eine rote Linie, die es nicht mehr gibt, sie sind Robinsone einer nichtkommunikativen Ära.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2008Schneewittchen allein ist noch lang nicht genug
Mitgefühl für das lächerliche Wesen Mensch: Quim Monzós virtuose „100 Geschichten”
Das vorliegende Werk bringt es von Buchdeckel zu Buchdeckel auf beachtliche sechs Zentimeter Breite. Sehr wahrscheinlich handelt es sich überhaupt um den dicksten Band, den der katalanische Autor Quim Monzó bisher mit eigenen Texten füllen durfte. Und dieser Superlativ gilt ausdrücklich der deutschen Ausgabe. Denn die katalanische Vorlage, jener Sammelband, dem Monzós „100 Geschichten” eigentlich folgen, hieß noch „Sechsundachtzig Geschichten”. Die Frankfurter Verlagsanstalt hat der Originalausgabe die 14 Texte aus Monzós letztem separat veröffentlichten Buch „Die beste aller Welten” hinzugefügt. So ist diese Neuveröffentlichung zu einer runden, allerdings auch sehr voluminösen Sache geworden. Und man darf daran zweifeln, ob Monzó, ein Meister der Verknappung, so einen 800-Seiten-Klotz für das geeignete Format hält, um seine Erzählungen unters Volk zu bringen.
Andererseits hat der Autor die gewichtige Geste entschieden verdient, diesen Brocken Buch, der sagt: „Ich bin ein großes Werk” – obwohl es aus lauter kleinen Geschichten besteht. Womöglich beißen jetzt endlich mehr Leser an. Auch wenn, was die „100 Geschichten” dem deutschen Publikum an Neuem bieten, im Grunde nur das Alte ist, nämlich Monzós Frühwerk, seine ersten beiden Erzählungsbände „Uff, sagte er” (1978) und „Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury” (1980). Die waren bisher nicht übersetzt. Monika Lübckes nachgeholte Übertragung folgt nun den vom Autor selbst nachgeschliffenen Versionen aus „Sechsundachtzig Geschichten”. Denn Monzó, wie schon einmal gesagt ein Meister der Verknappung, mochte sich das eigene Frühwerk angesichts des Neudrucks von 1999 nicht mehr ohne weiteres durchgehen lassen und hat also in seinen Texten noch einmal behutsam, wie soll man sagen, Unkraut gejätet. Vor allem überzählige Adjektive sollen der Revision zum Opfer gefallen sein.
Wer das erzählerische Werk nun im großen Schwung chronologisch bewältigt, wird tatsächlich Zeuge einer bemerkenswerten Evolution – einer stilistischen Reinigung und Konzentration, einer thematischen Vertiefung, einer kontinuierlichen Arbeit am eigenen Ton, in deren Verlauf der Autor immer pointierter, klarer und auch weiser schreibt. Dabei ist es zweifellos schön zu verfolgen, wie die Stories von Band zu Band besser werden. Ungeduldige Schnupperleser allerdings sollten womöglich gleich auf Seite 297 springen, an den Anfang von Monzós erstem echtem Hit-Album „Der Grund der Dinge”. Sonst könnte es sein, dass sie abspringen, noch bevor der Autor verlässlich zu großer Form aufläuft.
In „Der Grund der Dinge” tragen Geschichten von zwei bis fünf Seiten Länge Titel wie „Die Liebe”, „Der Glaube” oder „Die Vernunft”. Darin werden Standardsituationen, mit Vorliebe aus dem Paar-Alltag, gewissermaßen bis aufs Skelett abgeschmolzen. Monzó nimmt sich meist die Mechanik von Herz und Hirn vor und montiert daraus originelle Schaltkreise mit eigener Logik. Seine Figuren, oft namenlos, verfolgen Pläne, haben Überzeugungen, sind sich ihrer Sache gewiss, vertrauen auf das Übliche – aber dann gehen sie plötzlich auf absurdeste Weise im Labyrinth des modernen Gefühls- und Verstandesmanagements verloren. Wenn der Autor Gedankengänge nachzeichnet oder wenn er ein Zwiegespräch entwickelt, bildet er häufig Täuschungsmanöver ab. Dabei kann es sich genauso gut um eine durchtriebene Täuschung unter Liebenden handeln wie um eine ausgewachsene Selbsttäuschung, gelegentlich auch um beides gleichzeitig und womöglich nebenbei noch um die Täuschung des Lesers. Mit Psychologie hantiert Monzó nicht etwa, um Charaktere zu profilieren oder Einfühlung zu erleichtern. So realistisch geht es nie zu. Er buchstabiert die Hakenschläge der Seele und den dazugehörigen Gedankenslalom eher nach, um seine Figuren zappelnd, irrend, taumelnd in einem Gespinst aus unsteuerbaren Lüsten, Zwängen und sonstigen Zufällen zu zeigen.
Wenn das sehr dramatisch klingt, muss man gleich dazu sagen: Das ist es nicht. Zumindest wird es anders erzählt. Monzós Ton ist gelassen, abgeklärt. Höchstens ein haarfeines Lächeln scheint manchmal mitzuschwingen, wenn im Verlauf einer langen Reihe betont trockener Sätze unbescholtene Bürger auf abenteuerlichste Art aus dem Alltag katapultiert und im Ernstfall sogar zerquetscht werden „wie ein blutiger Kaugummi”. Wobei die Flugbahn, um im Bild zu bleiben, oft klaren Formeln folgt. Denn Monzó nimmt sich regelmäßig bekannte Märchen- oder Genreformate vor und programmiert sie neu. Gleich nachdem der Prinz Schneewittchen errettet hat, stellt er fest, dass hinter ihr noch eine lange Reihe schlafender Frauen auf den entscheidenden Kuss wartet. Die Krieger des Trojanischen Pferds werden zu Kannibalen, während sie im hölzernen Bauch vergeblich auf Einlass in die Stadt warten. Robin Hood raubt so besessen die Reichen aus und gibt den Armen, dass er irgendwann den Spieß umdrehen muss, weil es Reiche nur noch unter den Ex-Armen gibt. Ein Käfer sieht sich eines Morgens unversehens in einen fetten Jungen namens Gregor verwandelt, der zwar seine krabbelnde Verwandtschaft in der Zimmerecke noch wiedererkennt, sie aber doch bald mit anderen Augen betrachtet – „bis er das Knacken hörte, als er sie zertrat”.
Von Kafka hat Monzó nicht nur dieses Motiv übernommen. Von ihm hat er auch gelernt, aus den Elementen des geregelten Alltags sonderbare Ketten von Zwangsvorstellungen und Zwangsläufigkeiten zu schmieden, an denen entlang der Leser mitunter in eine Art Parallelwelt gerät, fast identisch mit Welt 1, nur voller schwarzer Löcher und ähnlicher Falltüren. Jemandem explodiert im Rausch die Leber, und er kann sich fortan viel problemloser betrinken. Eine Familie mag sich den Tod des Sohnes nicht eingestehen, weshalb der Bruder den Toten jahrelang mit in die Schule nimmt, als sei nichts geschehen. Ein Krieg bricht aus und wütet über Jahre – obwohl es eigentlich keinerlei Indizien für ihn gibt. Die Schwerelosigkeit und Eleganz, mit der Monzó phantastische Effekte und Kulissen meistert, hat er auch Autoren wie Borges oder Cortázar abgeschaut. Aber die Coolness, die streng dosierte Komik und die bisweilen brutale Nüchternheit seiner Darstellung gehören ganz klar in die Jetztzeit.
Mit den Jahren schreibt Monzó immer gelassener und immer abgründiger. Inzwischen liegen die impressionistischen Pirouetten, die postmodernen Formspielereien und die unscharfen Parabeln der Frühzeit lange zurück. Er hat kreuz und quer und souverän demaskiert, überspitzt, entzaubert und seziert. Und plötzlich strömt – hinterrücks, möchte man fast sagen – Mitgefühl für dieses ach so lächerliche Wesen Mensch in seine Texte. Monzó kann mittlerweile von den Unvollkommenheiten des Daseins auf fast tragische Weise erzählen, ohne sich dabei vom grotesken Detail verabschieden zu müssen. Seine Miene bleibt abgebrüht, die Form gewahrt. Aber die innere Temperatur seiner Geschichten hat sich doch geändert. In dieser faszinierenden Spannung zwischen Gnadenlosigkeit und Anteilnahme ist Quim Monzó wahrhaftig zu einem großen Autor geworden. MERTEN WORTHMANN
QUIM MONZÓ: 100 Geschichten. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2007. 804 Seiten, 25 Euro.
Quim Monzó wandelt auf den Spuren Kafkas, verwandelt allerdings lieber Tiere in Menschen als umgekehrt. . . Foto: Regina Schmeken
Quim Monzó Foto: Institució de les Lletres Catalanes
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Mitgefühl für das lächerliche Wesen Mensch: Quim Monzós virtuose „100 Geschichten”
Das vorliegende Werk bringt es von Buchdeckel zu Buchdeckel auf beachtliche sechs Zentimeter Breite. Sehr wahrscheinlich handelt es sich überhaupt um den dicksten Band, den der katalanische Autor Quim Monzó bisher mit eigenen Texten füllen durfte. Und dieser Superlativ gilt ausdrücklich der deutschen Ausgabe. Denn die katalanische Vorlage, jener Sammelband, dem Monzós „100 Geschichten” eigentlich folgen, hieß noch „Sechsundachtzig Geschichten”. Die Frankfurter Verlagsanstalt hat der Originalausgabe die 14 Texte aus Monzós letztem separat veröffentlichten Buch „Die beste aller Welten” hinzugefügt. So ist diese Neuveröffentlichung zu einer runden, allerdings auch sehr voluminösen Sache geworden. Und man darf daran zweifeln, ob Monzó, ein Meister der Verknappung, so einen 800-Seiten-Klotz für das geeignete Format hält, um seine Erzählungen unters Volk zu bringen.
Andererseits hat der Autor die gewichtige Geste entschieden verdient, diesen Brocken Buch, der sagt: „Ich bin ein großes Werk” – obwohl es aus lauter kleinen Geschichten besteht. Womöglich beißen jetzt endlich mehr Leser an. Auch wenn, was die „100 Geschichten” dem deutschen Publikum an Neuem bieten, im Grunde nur das Alte ist, nämlich Monzós Frühwerk, seine ersten beiden Erzählungsbände „Uff, sagte er” (1978) und „Olivetti, Moulinex, Chaffoteaux et Maury” (1980). Die waren bisher nicht übersetzt. Monika Lübckes nachgeholte Übertragung folgt nun den vom Autor selbst nachgeschliffenen Versionen aus „Sechsundachtzig Geschichten”. Denn Monzó, wie schon einmal gesagt ein Meister der Verknappung, mochte sich das eigene Frühwerk angesichts des Neudrucks von 1999 nicht mehr ohne weiteres durchgehen lassen und hat also in seinen Texten noch einmal behutsam, wie soll man sagen, Unkraut gejätet. Vor allem überzählige Adjektive sollen der Revision zum Opfer gefallen sein.
Wer das erzählerische Werk nun im großen Schwung chronologisch bewältigt, wird tatsächlich Zeuge einer bemerkenswerten Evolution – einer stilistischen Reinigung und Konzentration, einer thematischen Vertiefung, einer kontinuierlichen Arbeit am eigenen Ton, in deren Verlauf der Autor immer pointierter, klarer und auch weiser schreibt. Dabei ist es zweifellos schön zu verfolgen, wie die Stories von Band zu Band besser werden. Ungeduldige Schnupperleser allerdings sollten womöglich gleich auf Seite 297 springen, an den Anfang von Monzós erstem echtem Hit-Album „Der Grund der Dinge”. Sonst könnte es sein, dass sie abspringen, noch bevor der Autor verlässlich zu großer Form aufläuft.
In „Der Grund der Dinge” tragen Geschichten von zwei bis fünf Seiten Länge Titel wie „Die Liebe”, „Der Glaube” oder „Die Vernunft”. Darin werden Standardsituationen, mit Vorliebe aus dem Paar-Alltag, gewissermaßen bis aufs Skelett abgeschmolzen. Monzó nimmt sich meist die Mechanik von Herz und Hirn vor und montiert daraus originelle Schaltkreise mit eigener Logik. Seine Figuren, oft namenlos, verfolgen Pläne, haben Überzeugungen, sind sich ihrer Sache gewiss, vertrauen auf das Übliche – aber dann gehen sie plötzlich auf absurdeste Weise im Labyrinth des modernen Gefühls- und Verstandesmanagements verloren. Wenn der Autor Gedankengänge nachzeichnet oder wenn er ein Zwiegespräch entwickelt, bildet er häufig Täuschungsmanöver ab. Dabei kann es sich genauso gut um eine durchtriebene Täuschung unter Liebenden handeln wie um eine ausgewachsene Selbsttäuschung, gelegentlich auch um beides gleichzeitig und womöglich nebenbei noch um die Täuschung des Lesers. Mit Psychologie hantiert Monzó nicht etwa, um Charaktere zu profilieren oder Einfühlung zu erleichtern. So realistisch geht es nie zu. Er buchstabiert die Hakenschläge der Seele und den dazugehörigen Gedankenslalom eher nach, um seine Figuren zappelnd, irrend, taumelnd in einem Gespinst aus unsteuerbaren Lüsten, Zwängen und sonstigen Zufällen zu zeigen.
Wenn das sehr dramatisch klingt, muss man gleich dazu sagen: Das ist es nicht. Zumindest wird es anders erzählt. Monzós Ton ist gelassen, abgeklärt. Höchstens ein haarfeines Lächeln scheint manchmal mitzuschwingen, wenn im Verlauf einer langen Reihe betont trockener Sätze unbescholtene Bürger auf abenteuerlichste Art aus dem Alltag katapultiert und im Ernstfall sogar zerquetscht werden „wie ein blutiger Kaugummi”. Wobei die Flugbahn, um im Bild zu bleiben, oft klaren Formeln folgt. Denn Monzó nimmt sich regelmäßig bekannte Märchen- oder Genreformate vor und programmiert sie neu. Gleich nachdem der Prinz Schneewittchen errettet hat, stellt er fest, dass hinter ihr noch eine lange Reihe schlafender Frauen auf den entscheidenden Kuss wartet. Die Krieger des Trojanischen Pferds werden zu Kannibalen, während sie im hölzernen Bauch vergeblich auf Einlass in die Stadt warten. Robin Hood raubt so besessen die Reichen aus und gibt den Armen, dass er irgendwann den Spieß umdrehen muss, weil es Reiche nur noch unter den Ex-Armen gibt. Ein Käfer sieht sich eines Morgens unversehens in einen fetten Jungen namens Gregor verwandelt, der zwar seine krabbelnde Verwandtschaft in der Zimmerecke noch wiedererkennt, sie aber doch bald mit anderen Augen betrachtet – „bis er das Knacken hörte, als er sie zertrat”.
Von Kafka hat Monzó nicht nur dieses Motiv übernommen. Von ihm hat er auch gelernt, aus den Elementen des geregelten Alltags sonderbare Ketten von Zwangsvorstellungen und Zwangsläufigkeiten zu schmieden, an denen entlang der Leser mitunter in eine Art Parallelwelt gerät, fast identisch mit Welt 1, nur voller schwarzer Löcher und ähnlicher Falltüren. Jemandem explodiert im Rausch die Leber, und er kann sich fortan viel problemloser betrinken. Eine Familie mag sich den Tod des Sohnes nicht eingestehen, weshalb der Bruder den Toten jahrelang mit in die Schule nimmt, als sei nichts geschehen. Ein Krieg bricht aus und wütet über Jahre – obwohl es eigentlich keinerlei Indizien für ihn gibt. Die Schwerelosigkeit und Eleganz, mit der Monzó phantastische Effekte und Kulissen meistert, hat er auch Autoren wie Borges oder Cortázar abgeschaut. Aber die Coolness, die streng dosierte Komik und die bisweilen brutale Nüchternheit seiner Darstellung gehören ganz klar in die Jetztzeit.
Mit den Jahren schreibt Monzó immer gelassener und immer abgründiger. Inzwischen liegen die impressionistischen Pirouetten, die postmodernen Formspielereien und die unscharfen Parabeln der Frühzeit lange zurück. Er hat kreuz und quer und souverän demaskiert, überspitzt, entzaubert und seziert. Und plötzlich strömt – hinterrücks, möchte man fast sagen – Mitgefühl für dieses ach so lächerliche Wesen Mensch in seine Texte. Monzó kann mittlerweile von den Unvollkommenheiten des Daseins auf fast tragische Weise erzählen, ohne sich dabei vom grotesken Detail verabschieden zu müssen. Seine Miene bleibt abgebrüht, die Form gewahrt. Aber die innere Temperatur seiner Geschichten hat sich doch geändert. In dieser faszinierenden Spannung zwischen Gnadenlosigkeit und Anteilnahme ist Quim Monzó wahrhaftig zu einem großen Autor geworden. MERTEN WORTHMANN
QUIM MONZÓ: 100 Geschichten. Aus dem Katalanischen von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2007. 804 Seiten, 25 Euro.
Quim Monzó wandelt auf den Spuren Kafkas, verwandelt allerdings lieber Tiere in Menschen als umgekehrt. . . Foto: Regina Schmeken
Quim Monzó Foto: Institució de les Lletres Catalanes
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Als der Käfer am Morgen als fetter Junge erwachte
Eine Fallgrube namens Alltag: Die "Hundert Geschichten" des Katalanen Quim Monzó / Von Paul Ingendaay
Zwischen dem Ruhm des Schriftstellers Quim Monzó in seiner katalanischen Heimat und seinem Ruf anderswo besteht ein ziemliches Gefälle, obwohl sein literarisches Werk schon in neunzehn Sprachen übersetzt wurde. Anderswo nämlich ist der 1952 geborene Kolumnist, Graphiker, Radiomann, Drehbuchautor und Übersetzer aus Barcelona wenig bekannt, auch bei uns nicht. Jedenfalls nicht sehr. Wenn man beim Internetbuchhändler den Titel seines letzten Erzählbandes "Die beste aller Welten" (2002) eingibt, erscheinen zwölf andere Bücher auf dem Schirm, bevor seines auftaucht, darunter auch Voltaires "Candide oder Die beste aller Welten", nicht gerade eine Neuerscheinung. Die Sache mit Voltaire allerdings könnte Monzó schon wieder gefallen, er hätte wohl nichts gegen die Gesellschaft eines Mannes, der sich von der Welt nicht beeindrucken ließ. Unbeeindruckt jedenfalls nahm Quim Monzó die Rolle an, als führender katalanisch schreibender Gegenwartsautor die diesjährige Gastkultur bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse zu präsentieren.
Der achthundert Seiten starke Band "Hundert Geschichten" in der großartigen Übersetzung von Monika Lübcke wirkt auf den ersten Blick wie ein Monstrum, auf den zweiten wie die Überzeugungstat eines leidenschaftlichen Verlegers. Die Frankfurter Verlagsanstalt hat in den letzten elf Jahren vier Erzählbände und einen Roman des Katalanen veröffentlicht, gewiss mit überschaubarem kommerziellen Erfolg. Doch hier macht es Monzós Erzählprogramm, das einem gefallen mag oder nicht; allerdings, wenn es einem gefällt, kann man nach seinen Erzählungen süchtig werden. So klar durchdachte, brillant geschriebene, mit exquisiter Bosheit imaginierte, so sachte ins Absurde getriebene Geschichten aus einer Fallgrube namens Alltag liest man selten.
Oft führt der Autor seine Tricks so provozierend nah vor den Augen des Lesers durch, dass man glaubt, sich davon nicht einfangen lassen zu müssen. Bevor man dann doch am Haken hängt. "Seit dem frühen Morgen versucht der Mann erfolglos, seine Wohnung zu verlassen; jedes Mal, wenn er die Tür öffnet, passiert ihm das Gleiche: Er befindet sich nicht im Treppenhaus, sondern erneut in der Diele seiner Wohnung, die er ja gerade zu verlassen versucht." Die Story entwickelt sich zum Albtraum einer Nacht und zieht Feuerwehrmänner und sonstiges Personal in eine rätselhafte Welt voller optischer Täuschungen. Man akzeptiert den Wahn, weil der Autor ihn genau dosiert und im Laufschritt verabreicht.
In anderen Geschichten öffnet sich erst im letzten Satz eine Tür ins Unwirkliche. "Schneewittchen" ist die Erzählung überschrieben, in der ein Reiter auf einem mit Blumen umrankten Bett eine blasse Tote findet. "Der Reiter, sich seiner Rolle in dieser Geschichte wohlbewusst, küsst sie sanft." Fast alles geht so vonstatten, wie es im Märchen steht, nur dass Monzó dem Ganzen eine kleine Drehung ins Heutige verpasst. ("Die Wangen des Mädchens haben die Totenblässe verloren und sind taufrisch, sinnlich, zum Reinbeißen.") Und dann, am Ende, entdeckt der Reiter, dass in einiger Entfernung ein weiteres Mädchen schläft, "gleichfalls auf einem mit Blumen umrankten Bett aus Eichenzweigen und genauso schön wie dasjenige, das er wachgeküsst hat". Das Brüder-Grimm-Gespinst zerreißt. Was tun, wenn Schneewittchen nicht einmalig ist, sondern seriell?
Monzós Themen sind die eines Städters, der sich Gedanken um die üblichen Malaisen der Spezies Mann macht: Paarbeziehungen, Einsamkeit, Erotik, leere Routinen, die Fußangeln im täglichen Einerlei, die Abwesenheit von Sinn. Dem großen Nichts begegnet der Autor ebenso kampfeslustig wie spielerisch, indem er es mit einer strengen ästhetischen Form versieht. Darin ähnelt er dem Argentinier Julio Cortázar, den er als einen seiner Lehrmeister bezeichnet hat. Selbst seine grell ausgeleuchteten Hardcore-Passagen sind unlüstern, als gelte es, bei der Lust den Mechanismus zu ergründen.
Form ist bei Monzó nicht Beiwerk, sondern der Motor des Textes. Manche seiner Erzählungen gleichen Spiralen, die sich immer enger winden, bevor sie den gruseligen Kern erreichen. Andere laufen einmal links herum, einmal rechts herum, jonglieren mit den Perspektiven, fahren in den Tunnel ein oder aus dem Tunnel heraus. Einige von ihnen bieten Handlungsvarianten wie ein Baukasten der Fiktionen, doch ohne theoretisches Getue und nicht so blutarm wie die verjährten, als "postmodern" etikettierten Modelle der sogenannten Metafiktion. Wer also wissen möchte, was sich mit der kurzen Erzählform alles anstellen lässt, greife hier zu.
Bei hundert Erzählungen verstehen sich Niveauunterschiede von selbst. Herausragend an diesem Band ist, dass er die Entwicklung des Autors über drei Jahrzehnte nicht nur nachzeichnet, sondern deutbar macht. Von seinen Anfängen, als es bei Monzó noch etwas verschwafelte innere Monologe und zu viel schaumig geschlagenen Zeitgeist gab, bis zu den späten, klassisch nüchternen Storys führt ein konsequent verfolgter Weg. Der Autor will gewiss erschrecken und verstören, aber ebenso sehr zielt er auf die vollkommene Schönheit des Textes.
Monzós Lieblingsfigur darf man sich als Variante des Autors selbst vorstellen, eines Mannes, der U-Bahn fährt, in Buchhandlungen stöbert und sich durch die Stadt treiben lässt, um Geschichten aufzuspüren. In einer frühen Erzählung kritzelt so einer mit seinen Beobachtungen viele Papierservietten voll, weil die Richtung sich nach Ansicht des Autors erst im Tun offenbart. Der Kurzroman "Vor dem König von Schweden" enthält im Porträt des ichschwachen Dichters, der zum ewigen katalanischen Nobelpreiskandidaten ausgerufen wird und für die herbeigesehnte Zeremonie in Stockholm unentwegt seinen Frack umschneidern lässt, womöglich mehr katalanische Wirklichkeit, als deutsche Leser ahnen.
Innerhalb der wunderbaren Sammlung "Guadalajara" gibt es vier Erzählungen, die mit Raffinesse bekannte Geschichten deformieren: Bei Monzó verdursten die Achäer in ihrem Holzpferd, weil die Trojaner nicht daran denken, sich das Ding in die Stadt zu holen ("Vor den Toren Trojas"), und ein Mann namens Robin Hood muss erkennen, dass er es übertrieben und mit seinen Taten das Sozialgefüge in neue Unordnung gebracht hat ("Hunger und Durst nach Gerechtigkeit"). "Schon seit Jahren werden im Schloss keine Feste mehr gefeiert", heißt es da, "stattdessen werden in der Siedlung der einst Armen jede Woche wenn auch keine Fressorgien, so doch Grillabende abgehalten. Wieso ist ihm das nicht schon vorher aufgefallen?"
Von besonderem Interesse für deutsche Leser ist "Gregor". So witzig die Idee, auf die Umsetzung kommt es an. "Als der Käfer eines Morgens aus der Puppe schlüpfte, fand er sich in einen fetten Jungen verwandelt. Dieser lag auf seinem erstaunlich weichen und ungeschützten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen blassen, aufgeblähten Bauch. Die Zahl seiner Glieder war drastisch dezimiert, und die wenigen, die er spürte (vier würde er später zählen), waren schmerzlich fleischig und so dick und schwer, dass es ihm unmöglich war, sie zu bewegen." Der Autor macht aus der umgedrehten Kafka-Geschichte ein mühsames Erwachen ins Menschsein, mit Akne, ungelenkem Körper und großer Ratlosigkeit. An dieser wie an zahlreichen anderen Geschichten erkennt man, dass Monzós heimliches Thema die Familie mit ihren Ritualen und neurotischen Verhaltensmustern ist.
Hier und da hat man dem Autor vorgeworfen, seine Figuren seien so sehr Gefangene der Erzählmethode, dass ihre psychologische Glaubwürdigkeit darunter leide. In Wahrheit geht es wohl eher darum, einen altbackenen Begriff von psychologischer Stimmigkeit großzügiger zu fassen. Längst ist ja der diskursive Stil eines Borges in die klassische Short-Story-Tradition eingegangen, und es ist nicht mehr anrüchig, dem Zittern der Herzen die taghellen Freuden des Verstandes gegenüberzustellen. Quim Monzó, obwohl er sich eindeutig von den Argentiniern beeinflussen ließ, ist nicht kalt, im Gegenteil. Seine absurden Konstrukte verbergen unheilbare Melancholie, und je entschiedener der Erzähler hinter seinen geschliffenen Stil zurücktritt, desto stärker spüren wir seine grimmig getarnte Anteilnahme.
Quim Monzó: "Hundert Geschichten". Aus dem Katalanischen übersetzt von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2007. 795 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Fallgrube namens Alltag: Die "Hundert Geschichten" des Katalanen Quim Monzó / Von Paul Ingendaay
Zwischen dem Ruhm des Schriftstellers Quim Monzó in seiner katalanischen Heimat und seinem Ruf anderswo besteht ein ziemliches Gefälle, obwohl sein literarisches Werk schon in neunzehn Sprachen übersetzt wurde. Anderswo nämlich ist der 1952 geborene Kolumnist, Graphiker, Radiomann, Drehbuchautor und Übersetzer aus Barcelona wenig bekannt, auch bei uns nicht. Jedenfalls nicht sehr. Wenn man beim Internetbuchhändler den Titel seines letzten Erzählbandes "Die beste aller Welten" (2002) eingibt, erscheinen zwölf andere Bücher auf dem Schirm, bevor seines auftaucht, darunter auch Voltaires "Candide oder Die beste aller Welten", nicht gerade eine Neuerscheinung. Die Sache mit Voltaire allerdings könnte Monzó schon wieder gefallen, er hätte wohl nichts gegen die Gesellschaft eines Mannes, der sich von der Welt nicht beeindrucken ließ. Unbeeindruckt jedenfalls nahm Quim Monzó die Rolle an, als führender katalanisch schreibender Gegenwartsautor die diesjährige Gastkultur bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse zu präsentieren.
Der achthundert Seiten starke Band "Hundert Geschichten" in der großartigen Übersetzung von Monika Lübcke wirkt auf den ersten Blick wie ein Monstrum, auf den zweiten wie die Überzeugungstat eines leidenschaftlichen Verlegers. Die Frankfurter Verlagsanstalt hat in den letzten elf Jahren vier Erzählbände und einen Roman des Katalanen veröffentlicht, gewiss mit überschaubarem kommerziellen Erfolg. Doch hier macht es Monzós Erzählprogramm, das einem gefallen mag oder nicht; allerdings, wenn es einem gefällt, kann man nach seinen Erzählungen süchtig werden. So klar durchdachte, brillant geschriebene, mit exquisiter Bosheit imaginierte, so sachte ins Absurde getriebene Geschichten aus einer Fallgrube namens Alltag liest man selten.
Oft führt der Autor seine Tricks so provozierend nah vor den Augen des Lesers durch, dass man glaubt, sich davon nicht einfangen lassen zu müssen. Bevor man dann doch am Haken hängt. "Seit dem frühen Morgen versucht der Mann erfolglos, seine Wohnung zu verlassen; jedes Mal, wenn er die Tür öffnet, passiert ihm das Gleiche: Er befindet sich nicht im Treppenhaus, sondern erneut in der Diele seiner Wohnung, die er ja gerade zu verlassen versucht." Die Story entwickelt sich zum Albtraum einer Nacht und zieht Feuerwehrmänner und sonstiges Personal in eine rätselhafte Welt voller optischer Täuschungen. Man akzeptiert den Wahn, weil der Autor ihn genau dosiert und im Laufschritt verabreicht.
In anderen Geschichten öffnet sich erst im letzten Satz eine Tür ins Unwirkliche. "Schneewittchen" ist die Erzählung überschrieben, in der ein Reiter auf einem mit Blumen umrankten Bett eine blasse Tote findet. "Der Reiter, sich seiner Rolle in dieser Geschichte wohlbewusst, küsst sie sanft." Fast alles geht so vonstatten, wie es im Märchen steht, nur dass Monzó dem Ganzen eine kleine Drehung ins Heutige verpasst. ("Die Wangen des Mädchens haben die Totenblässe verloren und sind taufrisch, sinnlich, zum Reinbeißen.") Und dann, am Ende, entdeckt der Reiter, dass in einiger Entfernung ein weiteres Mädchen schläft, "gleichfalls auf einem mit Blumen umrankten Bett aus Eichenzweigen und genauso schön wie dasjenige, das er wachgeküsst hat". Das Brüder-Grimm-Gespinst zerreißt. Was tun, wenn Schneewittchen nicht einmalig ist, sondern seriell?
Monzós Themen sind die eines Städters, der sich Gedanken um die üblichen Malaisen der Spezies Mann macht: Paarbeziehungen, Einsamkeit, Erotik, leere Routinen, die Fußangeln im täglichen Einerlei, die Abwesenheit von Sinn. Dem großen Nichts begegnet der Autor ebenso kampfeslustig wie spielerisch, indem er es mit einer strengen ästhetischen Form versieht. Darin ähnelt er dem Argentinier Julio Cortázar, den er als einen seiner Lehrmeister bezeichnet hat. Selbst seine grell ausgeleuchteten Hardcore-Passagen sind unlüstern, als gelte es, bei der Lust den Mechanismus zu ergründen.
Form ist bei Monzó nicht Beiwerk, sondern der Motor des Textes. Manche seiner Erzählungen gleichen Spiralen, die sich immer enger winden, bevor sie den gruseligen Kern erreichen. Andere laufen einmal links herum, einmal rechts herum, jonglieren mit den Perspektiven, fahren in den Tunnel ein oder aus dem Tunnel heraus. Einige von ihnen bieten Handlungsvarianten wie ein Baukasten der Fiktionen, doch ohne theoretisches Getue und nicht so blutarm wie die verjährten, als "postmodern" etikettierten Modelle der sogenannten Metafiktion. Wer also wissen möchte, was sich mit der kurzen Erzählform alles anstellen lässt, greife hier zu.
Bei hundert Erzählungen verstehen sich Niveauunterschiede von selbst. Herausragend an diesem Band ist, dass er die Entwicklung des Autors über drei Jahrzehnte nicht nur nachzeichnet, sondern deutbar macht. Von seinen Anfängen, als es bei Monzó noch etwas verschwafelte innere Monologe und zu viel schaumig geschlagenen Zeitgeist gab, bis zu den späten, klassisch nüchternen Storys führt ein konsequent verfolgter Weg. Der Autor will gewiss erschrecken und verstören, aber ebenso sehr zielt er auf die vollkommene Schönheit des Textes.
Monzós Lieblingsfigur darf man sich als Variante des Autors selbst vorstellen, eines Mannes, der U-Bahn fährt, in Buchhandlungen stöbert und sich durch die Stadt treiben lässt, um Geschichten aufzuspüren. In einer frühen Erzählung kritzelt so einer mit seinen Beobachtungen viele Papierservietten voll, weil die Richtung sich nach Ansicht des Autors erst im Tun offenbart. Der Kurzroman "Vor dem König von Schweden" enthält im Porträt des ichschwachen Dichters, der zum ewigen katalanischen Nobelpreiskandidaten ausgerufen wird und für die herbeigesehnte Zeremonie in Stockholm unentwegt seinen Frack umschneidern lässt, womöglich mehr katalanische Wirklichkeit, als deutsche Leser ahnen.
Innerhalb der wunderbaren Sammlung "Guadalajara" gibt es vier Erzählungen, die mit Raffinesse bekannte Geschichten deformieren: Bei Monzó verdursten die Achäer in ihrem Holzpferd, weil die Trojaner nicht daran denken, sich das Ding in die Stadt zu holen ("Vor den Toren Trojas"), und ein Mann namens Robin Hood muss erkennen, dass er es übertrieben und mit seinen Taten das Sozialgefüge in neue Unordnung gebracht hat ("Hunger und Durst nach Gerechtigkeit"). "Schon seit Jahren werden im Schloss keine Feste mehr gefeiert", heißt es da, "stattdessen werden in der Siedlung der einst Armen jede Woche wenn auch keine Fressorgien, so doch Grillabende abgehalten. Wieso ist ihm das nicht schon vorher aufgefallen?"
Von besonderem Interesse für deutsche Leser ist "Gregor". So witzig die Idee, auf die Umsetzung kommt es an. "Als der Käfer eines Morgens aus der Puppe schlüpfte, fand er sich in einen fetten Jungen verwandelt. Dieser lag auf seinem erstaunlich weichen und ungeschützten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen blassen, aufgeblähten Bauch. Die Zahl seiner Glieder war drastisch dezimiert, und die wenigen, die er spürte (vier würde er später zählen), waren schmerzlich fleischig und so dick und schwer, dass es ihm unmöglich war, sie zu bewegen." Der Autor macht aus der umgedrehten Kafka-Geschichte ein mühsames Erwachen ins Menschsein, mit Akne, ungelenkem Körper und großer Ratlosigkeit. An dieser wie an zahlreichen anderen Geschichten erkennt man, dass Monzós heimliches Thema die Familie mit ihren Ritualen und neurotischen Verhaltensmustern ist.
Hier und da hat man dem Autor vorgeworfen, seine Figuren seien so sehr Gefangene der Erzählmethode, dass ihre psychologische Glaubwürdigkeit darunter leide. In Wahrheit geht es wohl eher darum, einen altbackenen Begriff von psychologischer Stimmigkeit großzügiger zu fassen. Längst ist ja der diskursive Stil eines Borges in die klassische Short-Story-Tradition eingegangen, und es ist nicht mehr anrüchig, dem Zittern der Herzen die taghellen Freuden des Verstandes gegenüberzustellen. Quim Monzó, obwohl er sich eindeutig von den Argentiniern beeinflussen ließ, ist nicht kalt, im Gegenteil. Seine absurden Konstrukte verbergen unheilbare Melancholie, und je entschiedener der Erzähler hinter seinen geschliffenen Stil zurücktritt, desto stärker spüren wir seine grimmig getarnte Anteilnahme.
Quim Monzó: "Hundert Geschichten". Aus dem Katalanischen übersetzt von Monika Lübcke. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2007. 795 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
An sechs Geschichten beziehungsweise Motiven versucht Rezensent Paul Ingendaay uns die Kunst dieses Autors näher zu bringen, der auf der Frankfurter Buchmesse 2007 die katalanische Literatur an vorderster Stelle zu repräsentieren hatte. Da ist die ins Schräge gehende Schneewittchengeschichte, ein den Nobelpreis erwartender katalanischer Autor, ein Trojanisches Pferd, das nicht in die Stadt geholt wird, und ein in einen Jungen verwandelter Käfer. Die grotesken Fallstricke des Alltags holen die Literatur ein. Geschult an "den Argentiniern", so Ingendaay, sei dieser Autor aber nicht etwa "postmodern", Gottseidank, sondern eher ein Anteil nehmender Beobachter, dem es zudem um "die vollkommene Schönheit des Textes" gehe. Das fast 800 Seiten starke Werk umfasst Geschichten aus dreißig Jahren, und so sind, laut Ingendaay, "Niveauunterschiede" selbstverständlich. Umso mehr aber könne man die Entwicklung des Autors nachvollziehen, der immer deutlicher zur "klassisch nüchternen" Story gekommen sei. Eine ganz unmissverständliche Leseempfehlung, die auch die "großartige Übersetzung von Monika Lübcke" würdigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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