»Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen.«
Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam. Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.
Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam. Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2020Schon wieder dieses Gesicht!
Geboren in der DDR mit einem Vater aus Angola: Olivia Wenzels Debütroman "1000 Serpentinen Angst" setzt aufs Prinzip der Autofiktion.
Der Psychologe seufzt. Eigentlich, sagt er, richte sich sein Angebot an Leute, die von der Vergangenheit belastet sind. Die junge Frau, die ihm gerade ihr Herz ausgeschüttet hat, mit einiger Entschlossenheit und wachsender Verzweiflung, habe alles richtig gemacht, ihre Fragen wären im Grunde nicht therapeutisch zu klären. "Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit."
Drei Versuche unternimmt die Ich-Erzählerin in Olivia Wenzels Debütroman "1000 Serpentinen Angst", um auf Drängen eines Freundes endlich therapeutische Hilfe zu finden. Ihrer Geschichte von Ausgrenzung, von all ihren Begegnungen mit Rat- und Ahnungslosen fügt das ein paar Anekdoten hinzu, an ihrer Notlage ändert sich erst einmal nichts: "Angst vor dem Einschlafen, obsessive Gedanken vor dem Einschlafen, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Grübeln, Angst vorm Grübeln, Kreislaufprobleme, Angst vor der Angst, immer weniger Schlaf, schließlich Angst vor dem Einschlafen, immer mehr Angst."
Es hatte nicht erst der Unbekannte auf der Straße das Messer zwischen die Rippen bekommen müssen, mit ihr als Einziger, die sich in all der Aufregung um ihn kümmerte: Die Erzählerin bringt tatsächlich einiges mit aus der Vergangenheit. Als Tochter einer Mutter, die immer nur wegwollte, schon als Punk in der DDR, deren Ausreisegenehmigung annulliert wurde, kurz bevor sie eigentlich gehen durfte, dann "Zerbröselung der Psyche im Stasi-Knast". Als Enkelin einer Großmutter, die einst linientreue DDR-Bürgerin war, jetzt bereit ist, "eine rechte Partei zu wählen", ebenso zugewandt wie ignorant. Als Frau, deren Zwillingsbruder sich mit neunzehn vor einen Zug geworfen hat. Und als Tochter eines Mannes, dem ihre Mutter gleich nach der Geburt der Tochter, ebenfalls mit neunzehn, eigentlich hatte hinterherziehen wollen. Er hatte die DDR verlassen müssen, zurückgehen müssen nach Angola. Jetzt schickt er Geld und schreibt E-Mails, zweimal im Jahr.
Als die Erzählerin einmal dort war, in Angola, haben die Leute "Kokosnuss" zu ihr gesagt: außen braun, innen weiß. Vielleicht könnte sie sich leichter irgendwo zugehörig fühlen, wenn ihr das nicht unentwegt abgesprochen würde. Dabei ist es eine durchaus selbstbewusste Stimme, mit der Olivia Wenzel, selbst 1985 als Person of Colour in Weimar geboren, ihre Ich-Erzählerin sprechen lässt - reflektiert, bissig, klar. Autofiktion nennt die Autorin, die bislang Theaterstücke veröffentlicht hat, ihr literarisches Verfahren. Ihrer Erzählerin ist sie einiges zu geben bereit: Empfindlichkeit und Empfänglichkeit, eine Wahrnehmungsweise, einen Erfahrungsschatz mit Bedeutung weit über dieses Buch hinaus.
Über weite Teile wird die Erzählerin befragt. Fast verhört im ersten Teil, unerbittlich, penetrant, in Großbuchstaben, mit Fragen, die aus der Einreisekontrolle bei einem Flug nach New York stammen könnten, von dem sie gerade erzählt, dann wieder mit Kommentaren, die von einem Wissen um die Erzählerin künden, das große Vertrautheit voraussetzt: "Jetzt machst du wieder das Gesicht. Lass das bitte, das ist dein weißes Privilegien-Gesicht."
Olivia Wenzels Dialoge sind präzise und spitz, geschärft an Arbeiten der Autorin für die Bühne und auf der Bühne. Sie stehen förmlich im Raum. Wie genau die Sprache in "1000 Serpentinen Angst" collagiert wird, zeigt mitunter der Wechsel in einen Tonfall, mit dem im universitären Umfeld Zugehörigkeitsfragen erörtert werden: "Die Tatsache, dass Afroamerikaner an den Nachwehen der Sklaverei leiden, mittels deren sie zu maximal Anderen degradiert wurden, löst sich vielleicht nie auf", schreibt Olivia Wenzel einmal, jetzt ganz im Essayistischen.
Eine Phantasie durchzieht das Buch: im Snack-Automaten auf einem Bahnsteig Unterschlupf zu suchen, in ihm zu leben. Mal ist das Herz der Erzählerin ein solcher Automat, mal hat ihn jemand zerquetscht "wie eine überdimensionale Bierdose", und sie ist, zerbeult und nackt, auf den Gleisen gelandet. Wenn sie damals dort, an den Gleisen, geblieben wäre, bei ihrem Bruder, statt ihn auf das Gepäck aufpassen zu lassen, während sie noch schnell in der Bahnhofshalle etwas zu essen kauft?
Wie soll sie ihn verstehen? Wie ihre Mutter, ihre Großmutter, wie sich selbst, ihr Begehren mal nach Männern, mal nach Frauen, wie ihre Schwangerschaft, wie das mit Kim, die ihr in der Nacht nach der Messerstecherei gesagt hatte, sie werde immer für sie da sein und sie auch immer lieben, aber sie sei chancenlos gegen die Vergangenheit der Erzählerin? Es gibt auch Zartheit in diesem Buch, Sanftheit, die Sehnsucht nach Sanftheit.
Im letzten der drei Teile des Romans stellt sie mitunter selbst die Fragen: mit welchem Gruß sie sich von ihrer Mutter verabschiedet hat, als sie von ihr einmal zu einer der seltenen Begegnungen in einen Bungalow im Wald gelotst worden ist? Ob hinter deren Härte jemals eine glückliche Person gesteckt habe? "Woran denke ich", fragt sie einmal, "was unterschlage ich?" Therapeutisch sind solche Fragen wirklich nicht zu klären. Olivia Wenzel stellt sie, und sie stellt sie ihrer Erzählerin: literarisch souverän. Sie unterschlägt nichts, das ist der bleibende Eindruck dieses eindrucksvollen, schonungslosen, zärtlichen Romans.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Olivia Wenzel: "1000 Serpentinen Angst". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 352 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geboren in der DDR mit einem Vater aus Angola: Olivia Wenzels Debütroman "1000 Serpentinen Angst" setzt aufs Prinzip der Autofiktion.
Der Psychologe seufzt. Eigentlich, sagt er, richte sich sein Angebot an Leute, die von der Vergangenheit belastet sind. Die junge Frau, die ihm gerade ihr Herz ausgeschüttet hat, mit einiger Entschlossenheit und wachsender Verzweiflung, habe alles richtig gemacht, ihre Fragen wären im Grunde nicht therapeutisch zu klären. "Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit."
Drei Versuche unternimmt die Ich-Erzählerin in Olivia Wenzels Debütroman "1000 Serpentinen Angst", um auf Drängen eines Freundes endlich therapeutische Hilfe zu finden. Ihrer Geschichte von Ausgrenzung, von all ihren Begegnungen mit Rat- und Ahnungslosen fügt das ein paar Anekdoten hinzu, an ihrer Notlage ändert sich erst einmal nichts: "Angst vor dem Einschlafen, obsessive Gedanken vor dem Einschlafen, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Grübeln, Angst vorm Grübeln, Kreislaufprobleme, Angst vor der Angst, immer weniger Schlaf, schließlich Angst vor dem Einschlafen, immer mehr Angst."
Es hatte nicht erst der Unbekannte auf der Straße das Messer zwischen die Rippen bekommen müssen, mit ihr als Einziger, die sich in all der Aufregung um ihn kümmerte: Die Erzählerin bringt tatsächlich einiges mit aus der Vergangenheit. Als Tochter einer Mutter, die immer nur wegwollte, schon als Punk in der DDR, deren Ausreisegenehmigung annulliert wurde, kurz bevor sie eigentlich gehen durfte, dann "Zerbröselung der Psyche im Stasi-Knast". Als Enkelin einer Großmutter, die einst linientreue DDR-Bürgerin war, jetzt bereit ist, "eine rechte Partei zu wählen", ebenso zugewandt wie ignorant. Als Frau, deren Zwillingsbruder sich mit neunzehn vor einen Zug geworfen hat. Und als Tochter eines Mannes, dem ihre Mutter gleich nach der Geburt der Tochter, ebenfalls mit neunzehn, eigentlich hatte hinterherziehen wollen. Er hatte die DDR verlassen müssen, zurückgehen müssen nach Angola. Jetzt schickt er Geld und schreibt E-Mails, zweimal im Jahr.
Als die Erzählerin einmal dort war, in Angola, haben die Leute "Kokosnuss" zu ihr gesagt: außen braun, innen weiß. Vielleicht könnte sie sich leichter irgendwo zugehörig fühlen, wenn ihr das nicht unentwegt abgesprochen würde. Dabei ist es eine durchaus selbstbewusste Stimme, mit der Olivia Wenzel, selbst 1985 als Person of Colour in Weimar geboren, ihre Ich-Erzählerin sprechen lässt - reflektiert, bissig, klar. Autofiktion nennt die Autorin, die bislang Theaterstücke veröffentlicht hat, ihr literarisches Verfahren. Ihrer Erzählerin ist sie einiges zu geben bereit: Empfindlichkeit und Empfänglichkeit, eine Wahrnehmungsweise, einen Erfahrungsschatz mit Bedeutung weit über dieses Buch hinaus.
Über weite Teile wird die Erzählerin befragt. Fast verhört im ersten Teil, unerbittlich, penetrant, in Großbuchstaben, mit Fragen, die aus der Einreisekontrolle bei einem Flug nach New York stammen könnten, von dem sie gerade erzählt, dann wieder mit Kommentaren, die von einem Wissen um die Erzählerin künden, das große Vertrautheit voraussetzt: "Jetzt machst du wieder das Gesicht. Lass das bitte, das ist dein weißes Privilegien-Gesicht."
Olivia Wenzels Dialoge sind präzise und spitz, geschärft an Arbeiten der Autorin für die Bühne und auf der Bühne. Sie stehen förmlich im Raum. Wie genau die Sprache in "1000 Serpentinen Angst" collagiert wird, zeigt mitunter der Wechsel in einen Tonfall, mit dem im universitären Umfeld Zugehörigkeitsfragen erörtert werden: "Die Tatsache, dass Afroamerikaner an den Nachwehen der Sklaverei leiden, mittels deren sie zu maximal Anderen degradiert wurden, löst sich vielleicht nie auf", schreibt Olivia Wenzel einmal, jetzt ganz im Essayistischen.
Eine Phantasie durchzieht das Buch: im Snack-Automaten auf einem Bahnsteig Unterschlupf zu suchen, in ihm zu leben. Mal ist das Herz der Erzählerin ein solcher Automat, mal hat ihn jemand zerquetscht "wie eine überdimensionale Bierdose", und sie ist, zerbeult und nackt, auf den Gleisen gelandet. Wenn sie damals dort, an den Gleisen, geblieben wäre, bei ihrem Bruder, statt ihn auf das Gepäck aufpassen zu lassen, während sie noch schnell in der Bahnhofshalle etwas zu essen kauft?
Wie soll sie ihn verstehen? Wie ihre Mutter, ihre Großmutter, wie sich selbst, ihr Begehren mal nach Männern, mal nach Frauen, wie ihre Schwangerschaft, wie das mit Kim, die ihr in der Nacht nach der Messerstecherei gesagt hatte, sie werde immer für sie da sein und sie auch immer lieben, aber sie sei chancenlos gegen die Vergangenheit der Erzählerin? Es gibt auch Zartheit in diesem Buch, Sanftheit, die Sehnsucht nach Sanftheit.
Im letzten der drei Teile des Romans stellt sie mitunter selbst die Fragen: mit welchem Gruß sie sich von ihrer Mutter verabschiedet hat, als sie von ihr einmal zu einer der seltenen Begegnungen in einen Bungalow im Wald gelotst worden ist? Ob hinter deren Härte jemals eine glückliche Person gesteckt habe? "Woran denke ich", fragt sie einmal, "was unterschlage ich?" Therapeutisch sind solche Fragen wirklich nicht zu klären. Olivia Wenzel stellt sie, und sie stellt sie ihrer Erzählerin: literarisch souverän. Sie unterschlägt nichts, das ist der bleibende Eindruck dieses eindrucksvollen, schonungslosen, zärtlichen Romans.
FRIDTJOF KÜCHEMANN
Olivia Wenzel: "1000 Serpentinen Angst". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 352 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.05.2020Das Problem mit der Banane
Olivia Wenzel hat einen Roman über eine schwarze Ostdeutsche geschrieben, die trotzdem um ihre Privilegien weiß.
„1000 Serpentinen Angst“ entkoppelt identitätspolitisches und linkes Denken
VON FELIX STEPHAN
Als Jackie Thomaes Roman „Brüder“ im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde bald der Vorwurf laut, in dem Roman gehe es zu wenig um Rassismus. Der Roman handelte von zwei Halbbrüdern, die mit dunkler Hautfarbe in Deutschland aufwachsen, sich aber trotzdem nicht in erster Linie als Schwarze begreifen und von Rassismus, wenn er ihnen begegnet, in erster Linie peinlich berührt sind. Im Deutschlandfunk warf die Kuratorin Mahret Ifeoma Kupka dem Roman daraufhin vor, er „beschwichtige”. Bei Afrodeutschen funktioniert die Zuschreibungsdynamik allem Anschein nach wie bei anderen Minderheiten auch: Nicht nur die Mehrheitsgesellschaft erhebt unentwegt Ansprüche an korrektes Auftreten, Sprechen und allgemeines Betragen. Die eigene Minderheit verhält sich ganz genau so.
Die 1985 geborene Autorin Olivia Wenzel hat jetzt einen Roman veröffentlicht, in dem sich dieses Disziplinierungsgewitter noch einmal potenziert. Der Roman heißt „1000 Serpentinen Angst“ und hat als Erzählerin eine schwarze, ostdeutsche Frau, die zumindest probeweise auch noch homosexuell ist und damit in der Logik der linguistisch informierten Struktursoziologie gleich mehrfach marginalisiert. Der Alltag der Erzählerin ist geprägt von Mikroaggressionen, die sich unter anderem immer dann ballen, wenn sie in aller Öffentlichkeit eine Banane isst.
Im Buch heißt diese Versuchsanordnung „Das dreifache Problem mit der Banane“: Als schwarze Person wecke die Banane Assoziationen zum Affen, als Ossi zur traditionellen ostdeutschen Konsumunterlegenheit und als Frau zum Oralsex. „Unsichere, pubertierende Teenager traumatisieren andere unsichere, pubertierende Teenager.“ Bei einem Ausflug nach New York aber erlebt die Erzählerin dieses hier: „In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Freiheit nennen.“
Das Buch ist zum größten Teil in dialogischer Form gehalten, aber trotzdem nicht sokratisch. Eine der beiden Stimmen stellt übergriffige Fragen, die andere antwortet gewissenhaft und vollständig. Dass man nie weiß, wer an dieser Unterhaltung überhaupt teilnimmt, gehört zum Gestaltungsprinzip, viele Konstellationen wären denkbar. Es könnte sich um eine Unterhaltung zwischen dem Ich und dem Über-Ich handeln, zwischen der Autorin und der Protagonistin, zwischen Analytikerin und Patientin, zwischen der Erzählerin und ihren Dämonen. Auf das Therapiegespräch deutet hin, dass immer wieder von „Unterschlagungen“ und versteckten Analogien die Rede ist und die Erzählerin außerdem unter einer Angststörung leidet. Die Art und Weise, wie die Gesprächspartner einander umtänzeln, abstoßen und letztlich verschmelzen, spricht eher für ein Selbstgespräch. Aufgelöst wird es nie. Die Fragen sind häufig von der Art, wie man sie auch von Facebook gestellt bekommt: Wo bist du gerade? Wie geht es dir? Was machst du? An einer Stelle aber trifft die Stimme einen wunden Punkt, als sie die verhängnisvolle Frage stellt: „Du flirtest ganz gern mit dem Kapitalismus, oder?“
Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch, dass die Erzählerin den Kapitalismus nicht nur aus der Perspektive der postkolonialen Agamben-Mbembe-Butler-Schule betrachtet, also als globales Eliteninstrument zur seriellen Produktion von Außenseitertum, Depression und Vereinzelung. Sondern dass sie als deutsche Staatsbürgerin auch sehr konkret von ihm profitiert und auf diese Vorteile eigentlich auch nicht verzichten möchte. Sie unternimmt Reisen nach New York, Marokko, Vietnam, macht interessante Erfahrungen mit anderen Kulturen, probiert verschiedene Therapeuten aus und nimmt sich die Rolle als Verdammte dieser Erde nicht einmal selbst ganz ab. Und genau dieses Verhältnis macht „1000 Serpentinen Angst“ zu einem so bemerkenswerten Buch: Die Erzählerin ringt mit dem Umstand, gleichzeitig Unterdrückerin und Unterdrückte zu sein.
An der postkolonialen Theorie ist ja oft so ermüdend, dass sie häufig nur nach jenen sozialen Phänomenen fragt, die aus ihren eigenen Grundannahmen hervorgehen, dass sie also erst einen Gegenstand hinter dem Busch versteckt, um ihn dann nach langer Recherche, oha, genau dort vorzufinden, wie Friedrich Nietzsche das einmal beschrieben hat. Olivia Wenzel aber ist genauer. Ihre Erzählerin würde sich zwar eigentlich gern hineinbegeben in das Bewusstsein intersektioneller Benachteiligung, weil man dort immerhin zuverlässig im Recht ist. An einer Stelle aber, als sie ihre Rassismus- und Sexismuserfahrungen schon über 250 Seiten ausgebreitet hat, wird es der zweiten Stimme zu bunt mit der Larmoyanz der Hauptfigur: „Ziemlich redundant das Ganze. (...) Immer wieder diese Geschichten, in denen dir fast etwas passiert, aber letztlich doch nicht.“ Indem er den identitätspolitischen Diskurs in einer einzelnen Figur bündelt, kann der Roman all die Schlüsselprobleme diskutieren: den arg großzügigen Gewaltbegriff, das Bildungsdilemma, den ewigen Konflikt mit dem Klassenbegriff.
An sozialpolitischen Kategorien gemessen geht es der Erzählerin eigentlich soweit gut, die gesellschaftliche Ausgrenzung äußert sich eher in Blicken und Zwischentönen. Das ist nicht nichts, gleichzeitig aber auch keine Gewalt im engeren Sinne, sondern erst einmal Gesellschaft. Dass heute so viele Autoren und Autorinnen von rassistischen Erlebnissen berichten, heißt nicht zwangsläufig, dass es mehr Rassismus gibt, sondern auch, dass mehr Nicht-Weiße Bücher schreiben. Die Schriftstellerin Anne Weber hat vor Kurzem einen Roman über die französische Sozialistin und Résistancekämpferin Anne Beaumanoir veröffentlicht, der den Unterschied zum linken Denken des 20. Jahrhundert sehr deutlich macht. Anne Beaumanoir wurde 1923 in einem nur halbwegs alphabetisierten Fischerdorf in der Bretagne geboren und ist mit 16 Jahren durch das besetzte Paris hindurch geschlichen, um auch noch den letzten jüdischen Säugling aus der Stadt zu schmuggeln. Später, in den Sechzigern, ist sie dann der algerischen Befreiungsbewegung beigetreten, dem FLN, um im Untergrund zu kämpfen, dieses Mal gegen die Franzosen. Mit Vorbildern wie diesen lässt sich ein revolutionäres Bewusstsein im Berlin der Zehnerjahre auch dann nur schwer aufrechterhalten, wenn man in Brandenburg am See schon einmal einen Nazi gesehen hat. Wenzels Erzählerin will genau genommen gar keine andere Welt, eine Systemdiskussion führt sie an keiner Stelle. Sie will in erster Linie in einer Welt, die sie als feindselig, rassistisch und verdorben empfindet, einen Platz einnehmen, an dem sie von alledem nicht mehr belästigt wird. Und sie will in der Lage sein, diese Widersprüche auszuhalten.
Indem sie diesen Zwiespalt nicht übergeht, sondern zum Thema macht, findet Olivia Wenzels Erzählerin zu einem neuen Bewusstsein. Sie kann die Tatsache anerkennen, dass sie von der Gesellschaft als Nichtweiße gelabelt wird, ohne sich in diesem Thema gleich komplett zu verlieren. Und sie kann sich mit dem klassischen Dilemma der progressiven Bürgerlichkeit einrichten, praktisch selbst Dinge zu tun, die sie ideell ablehnt.
Sie macht sich also bewusst, welche Rolle rassistische und sexistische Stereotype in ihrem Leben gespielt haben, emanzipiert sich aber gleichzeitig von der wiederum beengenden Minderheitenidentität. Die Freiheit, die sie so erlangt, besteht letztlich darin, dass sie sich zu ihrer Geschichte in Beziehung setzt, ohne sich von ihr dominieren zu lassen. Dieser Schritt ist nicht ganz unbedeutend, weil er identitätspolitisches und linkes Denken entkoppelt. Man kann auf diese Weise schwarz, konservativ und deutsch zugleich sein. Für das Einwanderungsland Deutschland ist das überwiegend eine gute Nachricht.
Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020. 352 Seiten, 21 Euro.
„In New York gehe ich die
Fifth Avenue entlang und esse
unbefangen eine Banane.“
„Du flirtest ganz
gern mit dem
Kapitalismus, oder?“
Die Erzählerin macht sich die
Stereotype bewusst und schlägt
Festlegungen ein Schnippchen
Olivia Wenzel wurde 1985 in Weimar geboren, sie lebt in Berlin-Schöneberg.
Foto: imago stock
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Olivia Wenzel hat einen Roman über eine schwarze Ostdeutsche geschrieben, die trotzdem um ihre Privilegien weiß.
„1000 Serpentinen Angst“ entkoppelt identitätspolitisches und linkes Denken
VON FELIX STEPHAN
Als Jackie Thomaes Roman „Brüder“ im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde bald der Vorwurf laut, in dem Roman gehe es zu wenig um Rassismus. Der Roman handelte von zwei Halbbrüdern, die mit dunkler Hautfarbe in Deutschland aufwachsen, sich aber trotzdem nicht in erster Linie als Schwarze begreifen und von Rassismus, wenn er ihnen begegnet, in erster Linie peinlich berührt sind. Im Deutschlandfunk warf die Kuratorin Mahret Ifeoma Kupka dem Roman daraufhin vor, er „beschwichtige”. Bei Afrodeutschen funktioniert die Zuschreibungsdynamik allem Anschein nach wie bei anderen Minderheiten auch: Nicht nur die Mehrheitsgesellschaft erhebt unentwegt Ansprüche an korrektes Auftreten, Sprechen und allgemeines Betragen. Die eigene Minderheit verhält sich ganz genau so.
Die 1985 geborene Autorin Olivia Wenzel hat jetzt einen Roman veröffentlicht, in dem sich dieses Disziplinierungsgewitter noch einmal potenziert. Der Roman heißt „1000 Serpentinen Angst“ und hat als Erzählerin eine schwarze, ostdeutsche Frau, die zumindest probeweise auch noch homosexuell ist und damit in der Logik der linguistisch informierten Struktursoziologie gleich mehrfach marginalisiert. Der Alltag der Erzählerin ist geprägt von Mikroaggressionen, die sich unter anderem immer dann ballen, wenn sie in aller Öffentlichkeit eine Banane isst.
Im Buch heißt diese Versuchsanordnung „Das dreifache Problem mit der Banane“: Als schwarze Person wecke die Banane Assoziationen zum Affen, als Ossi zur traditionellen ostdeutschen Konsumunterlegenheit und als Frau zum Oralsex. „Unsichere, pubertierende Teenager traumatisieren andere unsichere, pubertierende Teenager.“ Bei einem Ausflug nach New York aber erlebt die Erzählerin dieses hier: „In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Freiheit nennen.“
Das Buch ist zum größten Teil in dialogischer Form gehalten, aber trotzdem nicht sokratisch. Eine der beiden Stimmen stellt übergriffige Fragen, die andere antwortet gewissenhaft und vollständig. Dass man nie weiß, wer an dieser Unterhaltung überhaupt teilnimmt, gehört zum Gestaltungsprinzip, viele Konstellationen wären denkbar. Es könnte sich um eine Unterhaltung zwischen dem Ich und dem Über-Ich handeln, zwischen der Autorin und der Protagonistin, zwischen Analytikerin und Patientin, zwischen der Erzählerin und ihren Dämonen. Auf das Therapiegespräch deutet hin, dass immer wieder von „Unterschlagungen“ und versteckten Analogien die Rede ist und die Erzählerin außerdem unter einer Angststörung leidet. Die Art und Weise, wie die Gesprächspartner einander umtänzeln, abstoßen und letztlich verschmelzen, spricht eher für ein Selbstgespräch. Aufgelöst wird es nie. Die Fragen sind häufig von der Art, wie man sie auch von Facebook gestellt bekommt: Wo bist du gerade? Wie geht es dir? Was machst du? An einer Stelle aber trifft die Stimme einen wunden Punkt, als sie die verhängnisvolle Frage stellt: „Du flirtest ganz gern mit dem Kapitalismus, oder?“
Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch, dass die Erzählerin den Kapitalismus nicht nur aus der Perspektive der postkolonialen Agamben-Mbembe-Butler-Schule betrachtet, also als globales Eliteninstrument zur seriellen Produktion von Außenseitertum, Depression und Vereinzelung. Sondern dass sie als deutsche Staatsbürgerin auch sehr konkret von ihm profitiert und auf diese Vorteile eigentlich auch nicht verzichten möchte. Sie unternimmt Reisen nach New York, Marokko, Vietnam, macht interessante Erfahrungen mit anderen Kulturen, probiert verschiedene Therapeuten aus und nimmt sich die Rolle als Verdammte dieser Erde nicht einmal selbst ganz ab. Und genau dieses Verhältnis macht „1000 Serpentinen Angst“ zu einem so bemerkenswerten Buch: Die Erzählerin ringt mit dem Umstand, gleichzeitig Unterdrückerin und Unterdrückte zu sein.
An der postkolonialen Theorie ist ja oft so ermüdend, dass sie häufig nur nach jenen sozialen Phänomenen fragt, die aus ihren eigenen Grundannahmen hervorgehen, dass sie also erst einen Gegenstand hinter dem Busch versteckt, um ihn dann nach langer Recherche, oha, genau dort vorzufinden, wie Friedrich Nietzsche das einmal beschrieben hat. Olivia Wenzel aber ist genauer. Ihre Erzählerin würde sich zwar eigentlich gern hineinbegeben in das Bewusstsein intersektioneller Benachteiligung, weil man dort immerhin zuverlässig im Recht ist. An einer Stelle aber, als sie ihre Rassismus- und Sexismuserfahrungen schon über 250 Seiten ausgebreitet hat, wird es der zweiten Stimme zu bunt mit der Larmoyanz der Hauptfigur: „Ziemlich redundant das Ganze. (...) Immer wieder diese Geschichten, in denen dir fast etwas passiert, aber letztlich doch nicht.“ Indem er den identitätspolitischen Diskurs in einer einzelnen Figur bündelt, kann der Roman all die Schlüsselprobleme diskutieren: den arg großzügigen Gewaltbegriff, das Bildungsdilemma, den ewigen Konflikt mit dem Klassenbegriff.
An sozialpolitischen Kategorien gemessen geht es der Erzählerin eigentlich soweit gut, die gesellschaftliche Ausgrenzung äußert sich eher in Blicken und Zwischentönen. Das ist nicht nichts, gleichzeitig aber auch keine Gewalt im engeren Sinne, sondern erst einmal Gesellschaft. Dass heute so viele Autoren und Autorinnen von rassistischen Erlebnissen berichten, heißt nicht zwangsläufig, dass es mehr Rassismus gibt, sondern auch, dass mehr Nicht-Weiße Bücher schreiben. Die Schriftstellerin Anne Weber hat vor Kurzem einen Roman über die französische Sozialistin und Résistancekämpferin Anne Beaumanoir veröffentlicht, der den Unterschied zum linken Denken des 20. Jahrhundert sehr deutlich macht. Anne Beaumanoir wurde 1923 in einem nur halbwegs alphabetisierten Fischerdorf in der Bretagne geboren und ist mit 16 Jahren durch das besetzte Paris hindurch geschlichen, um auch noch den letzten jüdischen Säugling aus der Stadt zu schmuggeln. Später, in den Sechzigern, ist sie dann der algerischen Befreiungsbewegung beigetreten, dem FLN, um im Untergrund zu kämpfen, dieses Mal gegen die Franzosen. Mit Vorbildern wie diesen lässt sich ein revolutionäres Bewusstsein im Berlin der Zehnerjahre auch dann nur schwer aufrechterhalten, wenn man in Brandenburg am See schon einmal einen Nazi gesehen hat. Wenzels Erzählerin will genau genommen gar keine andere Welt, eine Systemdiskussion führt sie an keiner Stelle. Sie will in erster Linie in einer Welt, die sie als feindselig, rassistisch und verdorben empfindet, einen Platz einnehmen, an dem sie von alledem nicht mehr belästigt wird. Und sie will in der Lage sein, diese Widersprüche auszuhalten.
Indem sie diesen Zwiespalt nicht übergeht, sondern zum Thema macht, findet Olivia Wenzels Erzählerin zu einem neuen Bewusstsein. Sie kann die Tatsache anerkennen, dass sie von der Gesellschaft als Nichtweiße gelabelt wird, ohne sich in diesem Thema gleich komplett zu verlieren. Und sie kann sich mit dem klassischen Dilemma der progressiven Bürgerlichkeit einrichten, praktisch selbst Dinge zu tun, die sie ideell ablehnt.
Sie macht sich also bewusst, welche Rolle rassistische und sexistische Stereotype in ihrem Leben gespielt haben, emanzipiert sich aber gleichzeitig von der wiederum beengenden Minderheitenidentität. Die Freiheit, die sie so erlangt, besteht letztlich darin, dass sie sich zu ihrer Geschichte in Beziehung setzt, ohne sich von ihr dominieren zu lassen. Dieser Schritt ist nicht ganz unbedeutend, weil er identitätspolitisches und linkes Denken entkoppelt. Man kann auf diese Weise schwarz, konservativ und deutsch zugleich sein. Für das Einwanderungsland Deutschland ist das überwiegend eine gute Nachricht.
Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020. 352 Seiten, 21 Euro.
„In New York gehe ich die
Fifth Avenue entlang und esse
unbefangen eine Banane.“
„Du flirtest ganz
gern mit dem
Kapitalismus, oder?“
Die Erzählerin macht sich die
Stereotype bewusst und schlägt
Festlegungen ein Schnippchen
Olivia Wenzel wurde 1985 in Weimar geboren, sie lebt in Berlin-Schöneberg.
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Für mich [...] eins der krassesten Leseerlebnisse des Jahres. [...] ganz abgesehen von der Thematik ist es in der literarischen Bauart eines der besten Bücher 2020. Deniz Ohde Deutschlandfunk Kultur 20201213