London ist eine Metropole mit einer unerschöpflichen Vielfalt, eine Stadt für Superreiche, schräge Modedesigner, Garten- und Bierfreunde, Royalisten und Immigranten aus der ganzen Welt. Doch wussten Sie, dass es auch ein Versteck für Polizisten ist? Oder dass hier ein Kriegsschiff zum Kaufhaus recycelt wurde? Und dass selbst Katzen und dem deutschen König von Korsika in dieser ausgeflippten Stadt ein Denkmal gesetzt wurde? Dass die Briten einen Hang zum Skurrilen haben, ist hinlänglich bekannt - doch Sie werden sehen, dass Londons Straßen und Grünflächen selbst Einheimischen fast täglich neue Überraschungen bieten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2016Warst du schon da, oder entdeckst du noch?
Das Pfund ist schwach, und noch kommt man ohne Visum hin - die Zeit für einen Besuch der britischen Hauptstadt ist günstig. Aber welcher Reiseführer aus dem großen Angebot taugt auch etwas? Ein Praxistest am Beispiel Londons.
Das ist ja das Schöne am Reisen: dass am Ende alles anders wird als ursprünglich geplant. Weil man dem Laub folgt, das der Wind in den Straßen vor sich hertreibt, statt den Wegweisern. Weil man auf die Empfehlung eines Nachbarn an der Theke reagiert statt auf den Insidertipp eines Reiseführers. Oder man wegen eines fotokopierten Hinweises, der an einem Laternenmast klebt, kurzentschlossen das Programm für den Abend ändert.
Und genau darum hat der Raum für Notizen auf den letzten Seiten von Reiseführern eine so lange Tradition. Die Telefonnummer einer flüchtigen Bekanntschaft, ein gutes Lokal, die Adresse des Ladens, der auf genau das spezialisiert ist, ohne das man fortan nicht länger leben kann: Wo wären derlei Entdeckungen besser aufgehoben als am Schluss jenes Buchs, das einem ursprünglich den Weg durch die Stadt hatte weisen sollen?
Zumal Reiseführer erst nach einem halben Menschenleben fortgeworfen werden. Das wurde vor langer Zeit einmal mit Untersuchungen belegt, die den Verlagen wenig Freude bereiteten, weil es die potentielle Zahl der Kunden für die jährlich aktualisierten Auflagen erheblich nach unten drückt. Mit den schmalen Baedekern der Reihe "Smart" (Verlag Karl Baedeker, 224 S., herausnehmbarer Stadtplan, 14,99 [Euro]) wurde nun ein Weg gefunden, der es einem leichtmacht, sich vom Reiseführer zu trennen: ein eingelegtes Blatt mit der Überschrift: "10 Gründe wiederzukommen". Das hängt man sich in der Küche an die Pinnwand und nimmt es fortan immer wieder mit, zum Beispiel nach London. Braucht man dann allerdings überhaupt noch mehr?
John Sykes glaubt ja und nennt "111 Orte in London, die man gesehen haben muss" (Emons Verlag, 240 S., 14,95 [Euro]). Das ist ein schmissiger Serientitel, dessen Anspruch sich mit London vielleicht besser als mit jeder anderen Stadt der Welt erfüllen lässt. Doch bemüht sich Sykes erkennbar um Originalität, anstatt die endgültige To-do-Liste zusammenzustellen, und nennt Orte, auf die man selbst nach zigmaligen Besuchen der Stadt gerne noch verzichtet. Umso trauriger, dass seine Sammlung von Kuriosa nicht einmal als Schmöker bei einer Tasse PG Tips Tea in Frage kommt, denn die Texte lesen sich, als seien sie von einem elektronischen Übersetzungsprogramm ins Deutsche übertragen worden. Und so genügt schon ein Grund, die Finger von dem Buch zu lassen.
Dann lieber "99 × London, wie Sie es noch nicht kennen" (Bruckmann Verlag, 192 Seiten, 13,99 [Euro]), in dem Jörg Berghoff in eine Arena für Amateurboxkämpfe führt, zu Konzerten auf einer Dachterrasse oder zur höchsten Toilette Westeuropas mit der schönsten Aussicht über die Stadt. Manches allerdings ist so knapp vorgestellt, dass es nahezu blindes Vertrauen in den Autor verlangt. Als Beileger für den Band könnte man sich ein Blatt vorstellen mit der Überschrift: "10 Orte für den Fall, dass einem unterwegs einmal langweilig wird." Und wenn man nun überhaupt noch nie in London war? Gerade dann wünscht man sich den Kenner. "Da müsst ihr hin!", soll er nicht sagen, sondern befehlen. Lilly Nielitz-Hart und Simon Hart machen das gleich zweimal. Für die Reihe "City Trip Plus" (Reise Know-How, 312 S., herausnehmbarer Stadtplan, 11,95 [Euro]) legen sie das Programm für einen Tag, ein Wochenende und einen fünftägigen Aufenthalt so minutiös wie überzeugend fest - allerdings braucht man anschließend Urlaub.
In ihrem zweiten Buch sortieren sie "101 London Geheimtipps und Top-Ziele" (Iwanowski's Reisebuchverlag, 252 S., herausnehmbarer Stadtplan, 15,95 [Euro]) nach neun thematischen Schwerpunkten, nun aber kreuz und quer über die Stadt verteilt. Man findet darin die Uhrzeit der Wachablösung am Buckingham-Palast ebenso wie den Preis für die Aufzugfahrt zu Londons höchstem Punkt, der Spitze des Turms "The Shard", entworfen von Renzo Piano, erst 2013 eingeweiht, aber schon jetzt das Wahrzeichen Südlondons - wenngleich sich, wie im Text ausgeführt wird, längst eine Lobby gegen all die neuen Wolkenkratzer gebildet hat. Das ist die Qualität dieses Buchs: Es stellt seine Attraktionen aus vielerlei Perspektiven vor. Wie man sie bei einem Stadtbesuch miteinander verbindet, bleibt hingegen jedem selbst überlassen.
Ähnlich geht Sabine Lindlbauer für den ADAC-Reiseführer vor (Travel House Media, 192 S., 8,99 [Euro]), kommt allerdings auf 147 Anlaufstationen, die sie sachkundig, mit einem Schwerpunkt auf Geschichte und Kunstgeschichte, teils überraschend ausführlich vorstellt und der Übersicht wegen zumindest nach Stadtteilen sortiert. Mit dem Logo "Top Tipp" werden manche der Punkte hervorgehoben - ebenfalls ein einleuchtendes Konzept.
Und nur darum geht es ja bei Reiseführern: das Konzept. Kein Autor kann die Stadt neu erfinden. Nicht mit "Wohlfühladressen" und "Insidertipps", nicht durch "erstklassige Empfehlungen" und "persönliche Lieblingsorte" oder wie immer der Kaufanreiz auf dem Cover formuliert ist. Und wie er von manchem Lektor mit solcher Vehemenz eingefordert wird, dass man sich nicht wundern muss, wenn die Hervorhebungen bisweilen wie willkürlich über die Seiten gestreut wirken. Um das wiedererkennbare Konzept aber kommt kein Autor herum. Denn natürlich wirbt jedes London-Buch zugleich für den Band Toskana aus derselben Serie. Was für alle Reiseführer gilt: sie bescheren einem mehr Material, als man in einem halben Menschenleben brauchen kann.
Wer hat die Zeit, Ralf Nestmeyers (Michael Müller Verlag, 288 S., herausnehmbarer Stadtplan, 17,90 [Euro]) sechzehn sorgsam ausgewählte und detailliert beschriebene Touren durch London zu unternehmen? Und wer braucht dann wiederum allein für den Spaziergang durch das Viertel Bloomsbury fünfzehn Adressen von Restaurants? Das ist kein Balanceakt mehr zwischen Auswahl, Vielfalt und Vollständigkeit, sondern ein Overkill.
Kirsten Wagner ist da rigoros: Für ihrem "Familienreiseführer London und Umgebung" (Companions, 128 S., 12,80 [Euro]) hat sie Ausflüge zu Fuß und mit dem Bus zusammengestellt, eine "Coole Tour für hippe Teens" etwa, während der man ohne lange Diskussion im Hard Rock Café einkehrt, oder eine zweitägige Rundfahrt zu allen Attraktionen, während der man der Einfachheit und Zeitersparnis halber im Giraffen-Restaurant des Natural History Museum isst. Zwei Tage sind genug für Kinder, weshalb sich ein Kapitel des Bands den Stränden der Südküste widmet. Einzige Frage an die Autorin: Weshalb fehlt das wunderbare Sherlock Holmes Museum in der Baker Street 239?
Schwerpunkte anderer Art setzt Barbara Geier in "London - Der perfekte Mädelsurlaub" (Bruckmann Verlag, 192 S., 14,99 [Euro]), in dem weder das Hard Rock Café noch das Kaminzimmer des Detektivs eine Rolle spielen. Den Mädchen werden ein preisgünstiger Inn mit Vierbettoption oder die winzige Kammer eines Hotels - dafür mit Thierry-Mugler-Badartikel - empfohlen, dann gibt es ein wenig Kultur und sehr viele Adressen fürs Shopping und Chillen. Das ganze ist nach Stadtteilen sortiert, was den Vorteil hat, dass man die Einkaufstüten nie allzu weit tragen muss.
Wer sich gar nicht erst erschöpfen mag, greift zu "Merian-Momente" und findet mit Heidede und Sünje Carstensen (Merian Verlag, 191 S., herausnehmbarer Stadtplan, 14,99 [Euro]) "das kleine Glück auf Reisen", indem er barfuß durch den St. James's Park stakst oder am Nullmeridian einen Fuß auf die westliche, den anderen auf die östliche Erdhalbkugel setzt - mit Schuhen oder ohne. Außerdem gibt es Empfehlungen für nachhaltiges Schlafen, Einkaufen und Essen, was dem, der zu Hause umweltbewusst lebt, auch im Urlaub wichtig sein wird. Nach acht Glücksmomenten und einem elfmaligen guten Gewissen wird der Band jedoch zu einem Stadtführer mit knappen Beschreibungen mehrerer hundert Sehenswürdigkeiten. Vorbildlich ist die Liste der Top Ten, die man eins zu eins auf das Blankoblatt aus dem Baedeker "Smart" schreiben könnte.
Wer sein Glück vor allem im Shoppen und Schlemmen findet, dem sei der "Styleguide London" (National Geographic, 296 S., 24,99 [Euro]) an Herz und Brieftasche gelegt. Saska Graville erschließt auf edelmattem Papier unter anderem die Welt kleiner Boutiquen, süßer Patisserien und herber Brauereien. Was passiert, wenn vor lauter Servicestreben auch der letzte Funke Sinnlichkeit aus einem Buch getrieben wird, zeigt Peter Sahla im Band der Reihe "Dumont direkt" (Dumont, 12 S., herausbehmbarer Stadtplan, 9,99 [Euro]), eine Art "Gelbe Seiten" für Londontouristen, denen ein, zwei Sätze zu jeder Adresse genügen und die wertende Adjektive nicht hören wollen. Dafür ist alles sehr übersichtlich!
Eselsohren sind nicht jedermanns Sache, weshalb Josephine Grevers Band aus der Polyglott-Reihe "On Tour" (Polyglott, 184 S., herausnehmbarer Stadtplan, 12,99 [Euro]) achtzig Sticker in fünf Farben beigelegt sind. Damit kann man zu Hause schon ordentlich markieren, was man später nicht verpassen möchte. Allerdings findet man die kleinen Aufkleber nur wieder, wenn man die Seiten mit Eselsohren hervorhebt. Ähnlich kryptisch wie das System ist die Überschrift der Checkliste am Ende des Bands: "Nur da gewesen oder schon entdeckt?" Da möchte man aus dem Mini-Dolmetscher der vorangegangenen Seite zitieren: "Ai dohnt anderständ." Dass Polyglott mit der Zeit geht, belegt der gleiche Führer in der Aufmachung "Edition", der um Textchen und Abbildungen aus der Auflage von 1961 ergänzt ist, die allerdings heute so wirken, als stammten sie von 1861. Im Abschnitt "London Nightlife" fehlen derlei Draufgaben, denn auf eine solche Rubrik konnte man damals noch verzichten.
Was überleitet zu den Fragen: Wie aktuell kann ein Reiseführer sein? Und: Braucht man ihn in Zeiten des Internets überhaupt noch? Der "Lonely Planet"-Führer (488 S., herausnehmbarer Stadtplan, 19,99 [Euro]) listet auf einer der ersten Seiten eigens zehn Neuigkeiten auf, doch was da steht, findet sich in anderen Führern wie selbstverständlich im Text oder ist erst für das Jahr 2018 angekündigt. Für noch mehr Tipps verweist das Buch auf die Internetseite des Verlags.
Da sind andere Häuser einen technischen Schritt weiter: "Marco Polo" (160 S., herausnehmbarer Stadtplan, 12,99 [Euro]), überwiegend eine endlose Adressenliste mit wertenden Adjektiven, vernetzt etwa, wie man dort sagt, "das Analoge mit dem Digitalen", also das Buch mit dem Handy. Dazu lädt man eine App herunter, die einem während der fünf überaus nüchtern beschriebenen Erlebnistouren bestätigt, dass man den rechten Weg eingeschlagen hat. Für das DuMont Reise-Taschenbuch (DuMont, 296 S., 17,99 [Euro]) recherchiert die Autorin Annette Kossow unentwegt weiter. "Updates und persönliche Zusatztipps" lassen sich über einen Bar Code herunterladen. Dort steht dann beispielsweise, dass man seit Mitte Juni von dem zur Brezel verschlungenen Aussichtsturm ArcelorMittal Orbit auf einer Rutschbahn hinunterschießen kann. Die wird in den anderen Reiseführern bestenfalls in Aussicht gestellt.
Dem Baedeker ist der Turm - errichtet nach einem Entwurf des Bildhauers Anish Kapoor, dessen riesige Installationen in Großstädten der ganzen Welt Passanten in Verzückung geraten lassen - zumindest einen Eintrag im Register wert, wenn auch keine Erwähnung auf der angegebenen Seite. Anderswo findet man dann immerhin die Höhe und die Öffnungszeit, mehr nicht. Beides ist symptomatisch. Nach wie vor widmet sich der Baedeker mit Vorliebe altem Gemäuer - und Benutzerfreundlichkeit zählt nicht zu seinen Qualitäten.
Am Ende stellt sich heraus, dass London überfordert: zu viele Sehenswürdigkeiten, zu viele Museen, zu viele Restaurants, zu viel Geschichte. Und Zukunft? Über den Brexit verliert keines der Bücher auch nur ein Wort. Wie auch. Man wird sehen, welcher Führer im Kapitel "Anreise" als Erstes über die Visabestimmungen berichtet und unter "Mitbringsel" erklärt, wie man die Mehrwertsteuer erstattet bekommt.
FREDDY LANGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Pfund ist schwach, und noch kommt man ohne Visum hin - die Zeit für einen Besuch der britischen Hauptstadt ist günstig. Aber welcher Reiseführer aus dem großen Angebot taugt auch etwas? Ein Praxistest am Beispiel Londons.
Das ist ja das Schöne am Reisen: dass am Ende alles anders wird als ursprünglich geplant. Weil man dem Laub folgt, das der Wind in den Straßen vor sich hertreibt, statt den Wegweisern. Weil man auf die Empfehlung eines Nachbarn an der Theke reagiert statt auf den Insidertipp eines Reiseführers. Oder man wegen eines fotokopierten Hinweises, der an einem Laternenmast klebt, kurzentschlossen das Programm für den Abend ändert.
Und genau darum hat der Raum für Notizen auf den letzten Seiten von Reiseführern eine so lange Tradition. Die Telefonnummer einer flüchtigen Bekanntschaft, ein gutes Lokal, die Adresse des Ladens, der auf genau das spezialisiert ist, ohne das man fortan nicht länger leben kann: Wo wären derlei Entdeckungen besser aufgehoben als am Schluss jenes Buchs, das einem ursprünglich den Weg durch die Stadt hatte weisen sollen?
Zumal Reiseführer erst nach einem halben Menschenleben fortgeworfen werden. Das wurde vor langer Zeit einmal mit Untersuchungen belegt, die den Verlagen wenig Freude bereiteten, weil es die potentielle Zahl der Kunden für die jährlich aktualisierten Auflagen erheblich nach unten drückt. Mit den schmalen Baedekern der Reihe "Smart" (Verlag Karl Baedeker, 224 S., herausnehmbarer Stadtplan, 14,99 [Euro]) wurde nun ein Weg gefunden, der es einem leichtmacht, sich vom Reiseführer zu trennen: ein eingelegtes Blatt mit der Überschrift: "10 Gründe wiederzukommen". Das hängt man sich in der Küche an die Pinnwand und nimmt es fortan immer wieder mit, zum Beispiel nach London. Braucht man dann allerdings überhaupt noch mehr?
John Sykes glaubt ja und nennt "111 Orte in London, die man gesehen haben muss" (Emons Verlag, 240 S., 14,95 [Euro]). Das ist ein schmissiger Serientitel, dessen Anspruch sich mit London vielleicht besser als mit jeder anderen Stadt der Welt erfüllen lässt. Doch bemüht sich Sykes erkennbar um Originalität, anstatt die endgültige To-do-Liste zusammenzustellen, und nennt Orte, auf die man selbst nach zigmaligen Besuchen der Stadt gerne noch verzichtet. Umso trauriger, dass seine Sammlung von Kuriosa nicht einmal als Schmöker bei einer Tasse PG Tips Tea in Frage kommt, denn die Texte lesen sich, als seien sie von einem elektronischen Übersetzungsprogramm ins Deutsche übertragen worden. Und so genügt schon ein Grund, die Finger von dem Buch zu lassen.
Dann lieber "99 × London, wie Sie es noch nicht kennen" (Bruckmann Verlag, 192 Seiten, 13,99 [Euro]), in dem Jörg Berghoff in eine Arena für Amateurboxkämpfe führt, zu Konzerten auf einer Dachterrasse oder zur höchsten Toilette Westeuropas mit der schönsten Aussicht über die Stadt. Manches allerdings ist so knapp vorgestellt, dass es nahezu blindes Vertrauen in den Autor verlangt. Als Beileger für den Band könnte man sich ein Blatt vorstellen mit der Überschrift: "10 Orte für den Fall, dass einem unterwegs einmal langweilig wird." Und wenn man nun überhaupt noch nie in London war? Gerade dann wünscht man sich den Kenner. "Da müsst ihr hin!", soll er nicht sagen, sondern befehlen. Lilly Nielitz-Hart und Simon Hart machen das gleich zweimal. Für die Reihe "City Trip Plus" (Reise Know-How, 312 S., herausnehmbarer Stadtplan, 11,95 [Euro]) legen sie das Programm für einen Tag, ein Wochenende und einen fünftägigen Aufenthalt so minutiös wie überzeugend fest - allerdings braucht man anschließend Urlaub.
In ihrem zweiten Buch sortieren sie "101 London Geheimtipps und Top-Ziele" (Iwanowski's Reisebuchverlag, 252 S., herausnehmbarer Stadtplan, 15,95 [Euro]) nach neun thematischen Schwerpunkten, nun aber kreuz und quer über die Stadt verteilt. Man findet darin die Uhrzeit der Wachablösung am Buckingham-Palast ebenso wie den Preis für die Aufzugfahrt zu Londons höchstem Punkt, der Spitze des Turms "The Shard", entworfen von Renzo Piano, erst 2013 eingeweiht, aber schon jetzt das Wahrzeichen Südlondons - wenngleich sich, wie im Text ausgeführt wird, längst eine Lobby gegen all die neuen Wolkenkratzer gebildet hat. Das ist die Qualität dieses Buchs: Es stellt seine Attraktionen aus vielerlei Perspektiven vor. Wie man sie bei einem Stadtbesuch miteinander verbindet, bleibt hingegen jedem selbst überlassen.
Ähnlich geht Sabine Lindlbauer für den ADAC-Reiseführer vor (Travel House Media, 192 S., 8,99 [Euro]), kommt allerdings auf 147 Anlaufstationen, die sie sachkundig, mit einem Schwerpunkt auf Geschichte und Kunstgeschichte, teils überraschend ausführlich vorstellt und der Übersicht wegen zumindest nach Stadtteilen sortiert. Mit dem Logo "Top Tipp" werden manche der Punkte hervorgehoben - ebenfalls ein einleuchtendes Konzept.
Und nur darum geht es ja bei Reiseführern: das Konzept. Kein Autor kann die Stadt neu erfinden. Nicht mit "Wohlfühladressen" und "Insidertipps", nicht durch "erstklassige Empfehlungen" und "persönliche Lieblingsorte" oder wie immer der Kaufanreiz auf dem Cover formuliert ist. Und wie er von manchem Lektor mit solcher Vehemenz eingefordert wird, dass man sich nicht wundern muss, wenn die Hervorhebungen bisweilen wie willkürlich über die Seiten gestreut wirken. Um das wiedererkennbare Konzept aber kommt kein Autor herum. Denn natürlich wirbt jedes London-Buch zugleich für den Band Toskana aus derselben Serie. Was für alle Reiseführer gilt: sie bescheren einem mehr Material, als man in einem halben Menschenleben brauchen kann.
Wer hat die Zeit, Ralf Nestmeyers (Michael Müller Verlag, 288 S., herausnehmbarer Stadtplan, 17,90 [Euro]) sechzehn sorgsam ausgewählte und detailliert beschriebene Touren durch London zu unternehmen? Und wer braucht dann wiederum allein für den Spaziergang durch das Viertel Bloomsbury fünfzehn Adressen von Restaurants? Das ist kein Balanceakt mehr zwischen Auswahl, Vielfalt und Vollständigkeit, sondern ein Overkill.
Kirsten Wagner ist da rigoros: Für ihrem "Familienreiseführer London und Umgebung" (Companions, 128 S., 12,80 [Euro]) hat sie Ausflüge zu Fuß und mit dem Bus zusammengestellt, eine "Coole Tour für hippe Teens" etwa, während der man ohne lange Diskussion im Hard Rock Café einkehrt, oder eine zweitägige Rundfahrt zu allen Attraktionen, während der man der Einfachheit und Zeitersparnis halber im Giraffen-Restaurant des Natural History Museum isst. Zwei Tage sind genug für Kinder, weshalb sich ein Kapitel des Bands den Stränden der Südküste widmet. Einzige Frage an die Autorin: Weshalb fehlt das wunderbare Sherlock Holmes Museum in der Baker Street 239?
Schwerpunkte anderer Art setzt Barbara Geier in "London - Der perfekte Mädelsurlaub" (Bruckmann Verlag, 192 S., 14,99 [Euro]), in dem weder das Hard Rock Café noch das Kaminzimmer des Detektivs eine Rolle spielen. Den Mädchen werden ein preisgünstiger Inn mit Vierbettoption oder die winzige Kammer eines Hotels - dafür mit Thierry-Mugler-Badartikel - empfohlen, dann gibt es ein wenig Kultur und sehr viele Adressen fürs Shopping und Chillen. Das ganze ist nach Stadtteilen sortiert, was den Vorteil hat, dass man die Einkaufstüten nie allzu weit tragen muss.
Wer sich gar nicht erst erschöpfen mag, greift zu "Merian-Momente" und findet mit Heidede und Sünje Carstensen (Merian Verlag, 191 S., herausnehmbarer Stadtplan, 14,99 [Euro]) "das kleine Glück auf Reisen", indem er barfuß durch den St. James's Park stakst oder am Nullmeridian einen Fuß auf die westliche, den anderen auf die östliche Erdhalbkugel setzt - mit Schuhen oder ohne. Außerdem gibt es Empfehlungen für nachhaltiges Schlafen, Einkaufen und Essen, was dem, der zu Hause umweltbewusst lebt, auch im Urlaub wichtig sein wird. Nach acht Glücksmomenten und einem elfmaligen guten Gewissen wird der Band jedoch zu einem Stadtführer mit knappen Beschreibungen mehrerer hundert Sehenswürdigkeiten. Vorbildlich ist die Liste der Top Ten, die man eins zu eins auf das Blankoblatt aus dem Baedeker "Smart" schreiben könnte.
Wer sein Glück vor allem im Shoppen und Schlemmen findet, dem sei der "Styleguide London" (National Geographic, 296 S., 24,99 [Euro]) an Herz und Brieftasche gelegt. Saska Graville erschließt auf edelmattem Papier unter anderem die Welt kleiner Boutiquen, süßer Patisserien und herber Brauereien. Was passiert, wenn vor lauter Servicestreben auch der letzte Funke Sinnlichkeit aus einem Buch getrieben wird, zeigt Peter Sahla im Band der Reihe "Dumont direkt" (Dumont, 12 S., herausbehmbarer Stadtplan, 9,99 [Euro]), eine Art "Gelbe Seiten" für Londontouristen, denen ein, zwei Sätze zu jeder Adresse genügen und die wertende Adjektive nicht hören wollen. Dafür ist alles sehr übersichtlich!
Eselsohren sind nicht jedermanns Sache, weshalb Josephine Grevers Band aus der Polyglott-Reihe "On Tour" (Polyglott, 184 S., herausnehmbarer Stadtplan, 12,99 [Euro]) achtzig Sticker in fünf Farben beigelegt sind. Damit kann man zu Hause schon ordentlich markieren, was man später nicht verpassen möchte. Allerdings findet man die kleinen Aufkleber nur wieder, wenn man die Seiten mit Eselsohren hervorhebt. Ähnlich kryptisch wie das System ist die Überschrift der Checkliste am Ende des Bands: "Nur da gewesen oder schon entdeckt?" Da möchte man aus dem Mini-Dolmetscher der vorangegangenen Seite zitieren: "Ai dohnt anderständ." Dass Polyglott mit der Zeit geht, belegt der gleiche Führer in der Aufmachung "Edition", der um Textchen und Abbildungen aus der Auflage von 1961 ergänzt ist, die allerdings heute so wirken, als stammten sie von 1861. Im Abschnitt "London Nightlife" fehlen derlei Draufgaben, denn auf eine solche Rubrik konnte man damals noch verzichten.
Was überleitet zu den Fragen: Wie aktuell kann ein Reiseführer sein? Und: Braucht man ihn in Zeiten des Internets überhaupt noch? Der "Lonely Planet"-Führer (488 S., herausnehmbarer Stadtplan, 19,99 [Euro]) listet auf einer der ersten Seiten eigens zehn Neuigkeiten auf, doch was da steht, findet sich in anderen Führern wie selbstverständlich im Text oder ist erst für das Jahr 2018 angekündigt. Für noch mehr Tipps verweist das Buch auf die Internetseite des Verlags.
Da sind andere Häuser einen technischen Schritt weiter: "Marco Polo" (160 S., herausnehmbarer Stadtplan, 12,99 [Euro]), überwiegend eine endlose Adressenliste mit wertenden Adjektiven, vernetzt etwa, wie man dort sagt, "das Analoge mit dem Digitalen", also das Buch mit dem Handy. Dazu lädt man eine App herunter, die einem während der fünf überaus nüchtern beschriebenen Erlebnistouren bestätigt, dass man den rechten Weg eingeschlagen hat. Für das DuMont Reise-Taschenbuch (DuMont, 296 S., 17,99 [Euro]) recherchiert die Autorin Annette Kossow unentwegt weiter. "Updates und persönliche Zusatztipps" lassen sich über einen Bar Code herunterladen. Dort steht dann beispielsweise, dass man seit Mitte Juni von dem zur Brezel verschlungenen Aussichtsturm ArcelorMittal Orbit auf einer Rutschbahn hinunterschießen kann. Die wird in den anderen Reiseführern bestenfalls in Aussicht gestellt.
Dem Baedeker ist der Turm - errichtet nach einem Entwurf des Bildhauers Anish Kapoor, dessen riesige Installationen in Großstädten der ganzen Welt Passanten in Verzückung geraten lassen - zumindest einen Eintrag im Register wert, wenn auch keine Erwähnung auf der angegebenen Seite. Anderswo findet man dann immerhin die Höhe und die Öffnungszeit, mehr nicht. Beides ist symptomatisch. Nach wie vor widmet sich der Baedeker mit Vorliebe altem Gemäuer - und Benutzerfreundlichkeit zählt nicht zu seinen Qualitäten.
Am Ende stellt sich heraus, dass London überfordert: zu viele Sehenswürdigkeiten, zu viele Museen, zu viele Restaurants, zu viel Geschichte. Und Zukunft? Über den Brexit verliert keines der Bücher auch nur ein Wort. Wie auch. Man wird sehen, welcher Führer im Kapitel "Anreise" als Erstes über die Visabestimmungen berichtet und unter "Mitbringsel" erklärt, wie man die Mehrwertsteuer erstattet bekommt.
FREDDY LANGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main