Diesmal sind es historische Miniaturen, also wahre Geschichten, die er der Vergessenheit entrissen hat - die wahre Geschichte des Gärtnergehilfen Ernest Perron etwa, der sich den Schah von Persien zum besten Freund nahm und wie er im Schatten des Pfauenthrons zu Macht und Ansehen kam; oder jene des tapferen Schweizer Soldaten Max Waibel, der ganz allein den Zweiten Weltkrieg um mehrere Monate verkürzte; oder jene des katholischen Lebemanns Chavez, der als erster Mensch im Flugzeug die Alpen überflog und vor Schreck über diesen Frevel starb; oder jene des Uhrmachersohns Louis Chevrolet, der die erfolgreichste Automarke aller Zeiten gründete, zuletzt aber verarmt als angestellter Chevrolet-Mechaniker endete; oder jene der gottesfürchtigen Bauersfrau Veronika Gut, die nach dem Franzoseneinfall 1798 zur Waffenschmugglerin und Gotteskriegerin wurde. "Für mich macht es keinen sehr großen Unterschied, ob ich nun Romane, Kurzgeschichten oder historische Begebenheiten erzähle", sagt Alex Capus. "Was mich interessiert, ist immer der Mensch, der sein Leben in Würde zu leben versucht."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2004Der erste Alpenüberflieger
Kauzige Patrioten: Alex Capus erzählt wahre Geschichten
Freundschaften gehen manchmal seltsame Wege. Ausgerechnet ein ungebildeter und hinkender Gärtnergehilfe freundete sich im Genfer Internat mit dem künftigen Schah von Persien an und wurde später, zur Verblüffung der Hofgesellschaft, zum einflußreichen Ratgeber des Monarchen. Von dieser ungewöhnlichen Verbindung und ihrem traurigen Ende erzählt Alex Capus im ersten Kapitel seines jüngsten Buches.
Seit längerem hat der Schweizer Autor die Faszination der Historie für sein Erzählen entdeckt. Dem Roman "Fast ein bißchen Frühling" (2002) legte er das authentische Schicksal zweier abenteuerlustiger junger Männer zugrunde, die 1933 zu Bankräubern wurden, um das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Die Flucht sollte sie bis nach Indien führen, die Liebe zu einer Schallplattenverkäuferin setzte ihr aber in Basel ein vorzeitiges Ende. Historische Faktentreue und Lust am Fabulieren vermengten sich zu einer realistischen Erzählung, die geschickt die Balance zwischen Dokumentation und Fiktion hielt.
Nun hat sich der Dreiundvierzigjährige ganz für das Reale entschieden. "Wahr", wie es der Titel völlig unironisch verheißt, sind die dreizehn Geschichten dieses Bandes allesamt, das bezeugt der ausführliche Anhang, der historische Dokumentationen, akademische Untersuchungen, Zeitungsartikel und Interviews mit Zeitzeugen auflistet. Aus ihnen hat Capus, der selbst Geschichte studiert hat, Material für seine historischen Miniaturen geschöpft, die ein eigenwilliges Panorama der Schweizer Geschichte vom vierzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart entfalten.
Die großen Ereignisse, von denen die offiziellen Geschichtsbücher berichten, spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen vielmehr zumeist unbekannte Personen, deren Spuren Capus in Zeitungsarchiven und alten Chroniken aufgestöbert hat. Es sind seltsame Helden, von denen hier erzählt wird: kauzige Patrioten und glücklose Erfinder sind darunter, mutige Auswanderer, rauflustige Söldner und liebenswerte Betrüger, freundliche Spinner und immer wieder unbeugsame Individualisten, streitbar gegenüber jeder Form der Fremdherrschaft. Zu ihnen gehören die "drei Tellen", die in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts den Schultheißen von Luzern erschießen wollten, und der Uhrmachersohn Louis Chevrolet, der 1910 die berühmte Automarke erfand.
Aus solchem Stoff hat Gottfried Keller vor über hundert Jahren seine "Zürcher Novellen" geschaffen, um seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel für ihre Biederkeit vorzuhalten. Doch was damals zeitgemäß war, gerät heute schnell in die Nähe des Künstlichen und Manierierten. Capus ist zweifellos ein versierter Stilist, der geschickt die Erzählweise alter Chroniken und Kalender nachahmt: "Das ist die Geschichte des Millionärssohns und Himmelsstürmers Jorge Chavez, der im September 1910 als erster Mensch die Alpen überflog, weil er etwas Wichtiges und Großes vollbringen wollte im Leben." So geht es weiter, von Episode zu Episode, im sicheren Vertrauen auf die Kraft des allmächtigen Erzählers, der gelassen im "großen Buch der Menschheitsgeschichte" blättert und unberührt von allen Strömungen der literarischen Moderne und Postmoderne über das Schicksal seiner Figuren verfügt.
Aus diesem anachronistischen Gestus entsteht ein Hausbuch der schweizerischen Geschichte, das den Patrioten unserer Tage viele Angebote zur Identifikation mit ihren unbeugsamen Vorgängern eröffnen kann. Denn wer möchte nicht gern so charakterfest sein wie der Major Max Waibel, der 1945 unerlaubt mit den Alliierten verhandelte und damit Oberitalien zu einem Waffenstillstand zwei Wochen vor Kriegsende verhalf? Und wer kann jenen Basler Bürgern den Respekt versagen, die im Jahr 1376 die Gefolgsleute des jungen Habsburgers Leopold III. verprügelten?
Capus behält sein behaglich-distanziertes Erzählen auch dort bei, wo er von problematischeren Abschnitten der helvetischen Geschichte erzählt. Selbst der Bericht über den berüchtigten "Italienerkrawall", bei dem Zürcher Arbeiter 1896 tagelang eine regelrechte Hetzjagd auf ihre italienischen Kollegen veranstalteten, wandelt sich bei ihm unterderhand zur historischen Novelle, in der von den sozialen Umbrüchen infolge der beginnenden Industrialisierung kaum noch die Rede ist. Das versöhnliche Ende suggeriert vielmehr eine heitere Kontinuität der Geschichte, wenn es über die Tochter eines zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Italieners heißt: "Ihre Nachfahren bewohnen den Großraum Zürich bis auf den heutigen Tag in großer Zahl." Der Verweis auf Kleists Erzählung "Michael Kohlhaas", die mit einer ähnlichen Wendung endet, mag ein hübsches literarisches Vexierspiel sein. Aber auch das macht aus einem geschickten Stimmenimitator und Sammler historischer Kuriosa noch keinen Erzähler, der über das Anekdotische hinaus etwas über die Conditio humana zu sagen hätte.
SABINE DOERING
Alex Capus: "13 wahre Geschichten". Franz Deuticke Verlagsgesellschaft, Wien/Frankfurt am Main 2004. 200 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kauzige Patrioten: Alex Capus erzählt wahre Geschichten
Freundschaften gehen manchmal seltsame Wege. Ausgerechnet ein ungebildeter und hinkender Gärtnergehilfe freundete sich im Genfer Internat mit dem künftigen Schah von Persien an und wurde später, zur Verblüffung der Hofgesellschaft, zum einflußreichen Ratgeber des Monarchen. Von dieser ungewöhnlichen Verbindung und ihrem traurigen Ende erzählt Alex Capus im ersten Kapitel seines jüngsten Buches.
Seit längerem hat der Schweizer Autor die Faszination der Historie für sein Erzählen entdeckt. Dem Roman "Fast ein bißchen Frühling" (2002) legte er das authentische Schicksal zweier abenteuerlustiger junger Männer zugrunde, die 1933 zu Bankräubern wurden, um das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Die Flucht sollte sie bis nach Indien führen, die Liebe zu einer Schallplattenverkäuferin setzte ihr aber in Basel ein vorzeitiges Ende. Historische Faktentreue und Lust am Fabulieren vermengten sich zu einer realistischen Erzählung, die geschickt die Balance zwischen Dokumentation und Fiktion hielt.
Nun hat sich der Dreiundvierzigjährige ganz für das Reale entschieden. "Wahr", wie es der Titel völlig unironisch verheißt, sind die dreizehn Geschichten dieses Bandes allesamt, das bezeugt der ausführliche Anhang, der historische Dokumentationen, akademische Untersuchungen, Zeitungsartikel und Interviews mit Zeitzeugen auflistet. Aus ihnen hat Capus, der selbst Geschichte studiert hat, Material für seine historischen Miniaturen geschöpft, die ein eigenwilliges Panorama der Schweizer Geschichte vom vierzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart entfalten.
Die großen Ereignisse, von denen die offiziellen Geschichtsbücher berichten, spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen vielmehr zumeist unbekannte Personen, deren Spuren Capus in Zeitungsarchiven und alten Chroniken aufgestöbert hat. Es sind seltsame Helden, von denen hier erzählt wird: kauzige Patrioten und glücklose Erfinder sind darunter, mutige Auswanderer, rauflustige Söldner und liebenswerte Betrüger, freundliche Spinner und immer wieder unbeugsame Individualisten, streitbar gegenüber jeder Form der Fremdherrschaft. Zu ihnen gehören die "drei Tellen", die in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts den Schultheißen von Luzern erschießen wollten, und der Uhrmachersohn Louis Chevrolet, der 1910 die berühmte Automarke erfand.
Aus solchem Stoff hat Gottfried Keller vor über hundert Jahren seine "Zürcher Novellen" geschaffen, um seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel für ihre Biederkeit vorzuhalten. Doch was damals zeitgemäß war, gerät heute schnell in die Nähe des Künstlichen und Manierierten. Capus ist zweifellos ein versierter Stilist, der geschickt die Erzählweise alter Chroniken und Kalender nachahmt: "Das ist die Geschichte des Millionärssohns und Himmelsstürmers Jorge Chavez, der im September 1910 als erster Mensch die Alpen überflog, weil er etwas Wichtiges und Großes vollbringen wollte im Leben." So geht es weiter, von Episode zu Episode, im sicheren Vertrauen auf die Kraft des allmächtigen Erzählers, der gelassen im "großen Buch der Menschheitsgeschichte" blättert und unberührt von allen Strömungen der literarischen Moderne und Postmoderne über das Schicksal seiner Figuren verfügt.
Aus diesem anachronistischen Gestus entsteht ein Hausbuch der schweizerischen Geschichte, das den Patrioten unserer Tage viele Angebote zur Identifikation mit ihren unbeugsamen Vorgängern eröffnen kann. Denn wer möchte nicht gern so charakterfest sein wie der Major Max Waibel, der 1945 unerlaubt mit den Alliierten verhandelte und damit Oberitalien zu einem Waffenstillstand zwei Wochen vor Kriegsende verhalf? Und wer kann jenen Basler Bürgern den Respekt versagen, die im Jahr 1376 die Gefolgsleute des jungen Habsburgers Leopold III. verprügelten?
Capus behält sein behaglich-distanziertes Erzählen auch dort bei, wo er von problematischeren Abschnitten der helvetischen Geschichte erzählt. Selbst der Bericht über den berüchtigten "Italienerkrawall", bei dem Zürcher Arbeiter 1896 tagelang eine regelrechte Hetzjagd auf ihre italienischen Kollegen veranstalteten, wandelt sich bei ihm unterderhand zur historischen Novelle, in der von den sozialen Umbrüchen infolge der beginnenden Industrialisierung kaum noch die Rede ist. Das versöhnliche Ende suggeriert vielmehr eine heitere Kontinuität der Geschichte, wenn es über die Tochter eines zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Italieners heißt: "Ihre Nachfahren bewohnen den Großraum Zürich bis auf den heutigen Tag in großer Zahl." Der Verweis auf Kleists Erzählung "Michael Kohlhaas", die mit einer ähnlichen Wendung endet, mag ein hübsches literarisches Vexierspiel sein. Aber auch das macht aus einem geschickten Stimmenimitator und Sammler historischer Kuriosa noch keinen Erzähler, der über das Anekdotische hinaus etwas über die Conditio humana zu sagen hätte.
SABINE DOERING
Alex Capus: "13 wahre Geschichten". Franz Deuticke Verlagsgesellschaft, Wien/Frankfurt am Main 2004. 200 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'... eine ernsthafte, hinreißende Liebesgeschichte ...' Der Spiegel, Volker Hage, über Glaubst du, daß es Liebe war?
'... ein Lesevergnügen ...' FAZ, Wolfgang Schneider, über Glaubst du, daß es Liebe war?
'Alex Capus' Roman zeugt von einer atmosphärischen, literarischen und zeitgeschichtlichen Stimmigkeit, wie man sie heute sehr selten in deutschen Gegenwartsromanen findet.' Die Welt, Hajo Steinert, über Fast ein bißchen Frühling
'... ein Lesevergnügen ...' FAZ, Wolfgang Schneider, über Glaubst du, daß es Liebe war?
'Alex Capus' Roman zeugt von einer atmosphärischen, literarischen und zeitgeschichtlichen Stimmigkeit, wie man sie heute sehr selten in deutschen Gegenwartsromanen findet.' Die Welt, Hajo Steinert, über Fast ein bißchen Frühling
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kein Schriftsteller hätte sich die 13 Geschichten, die Alex Capus aus 600 Jahren Schweizer Historie herausgefiltert hat, "kurioser oder schauerlicher" erfinden können, meint Rezensent Christoph Haas. Allesamt wahr, erzählen die "Histörchen" Schicksale und Vorfälle - den Kampf einer religiös-fanatischen Bauernwitwe gegen die französische Besatzung 1789 zum Beispiel oder die Verstöße eines Luzerner Offiziers gegen die Neutralitätspolitik der Schweiz, so der Rezensent. Ihm gefällt dabei, dass Capus sich für den "Zauber des farbigen Stoffes" begeistert und keinen historiografischen "Ehrgeiz" an den Tag legt. Nur so habe er eine Anekdotensammlung schreiben können, die schon unsere Großväter "amüsiert" hätte. Und wenngleich die Sprache Capus' mitunter allzu "antiquiert" daherkommt - drei Stunden Langeweile vertreibt das Buch allemal, meint Haas.
© Perlentaucher Medien GmbH
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