Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2019Das feine Händchen
des Zufalls
Ein Tag im Jahre 1789: Éric Vuillard
erzählt den „14. Juli“ tatsächlich noch einmal neu
VON JOSEPH HANIMANN
Wie betrachtet man mit der historischen Lupe ein Weitwinkelpanorama? Den Lesern von Éric Vuillard ist dieses Paradox zwischen Detailblick und Weitsicht bekannt. Europäischer Kolonialismus durch die Schlüssellochperspektive der Berliner Kongokonferenz, Wild-West-Mythos im traurigen Spiegel der Lebensgeschichte von Buffalo Bill oder, in seinem vorletzten Buch, die „Tagesordnung“ von Hitlers Aufstieg unter dem wohlwollenden Auge des deutschen Großbürgertums – das waren Themen, die Vuillard in seinen früheren Büchern mit seinem trockenen Erzählstil aus tausend Nebensächlichkeiten zum Gesamtbild zusammenfügte.
Doch die Französische Revolution? Nach Balzac, Victor Hugo, Jules Michelet, Anatole France und all den anderen möchte es einem so vorkommen, als sei auch das Nebensächlichste an ihr literarisch längst abgegrast. Wenn es dem Autor Vuillard dennoch gelingt, uns auf gut hundert Seiten noch einmal in den Bann der Ereignisse des 14. Juli 1789 zu ziehen, dann liegt das nicht zuletzt an seinem Gespür für exemplarische Situationen. Mit faktischer Präzision fesselt er uns ans Konkrete, mit spekulativer Weichzeichnung lässt er uns Langzeitgeschichte schnuppern. So sieht das vermeintlich Bekannte plötzlich nochmals anders aus. Denn bei Vuillard wird weder das „Volk“ noch die „Revolution“ oder das Wort „Liberté“ großgeschrieben. Immer ist das Banale mit dabei und hat der Zufall sein feines Händchen im Spiel.
Da will ein Pariser Tapetenfabrikant namens Réveillon im April 1789 den Lohn seiner Arbeiter senken – fünfzehn statt zwanzig Sous Tagesgeld reichten für sie doch auch, denn die Geschäftslage sei schwierig. Als der Salpeterfabrikant Henriot dasselbe verlangt, wird das Brummen abends in den Schenken lauter. Der Winter war hart, in Besançon, Pontoise, Amiens ist es schon zu Hungeraufständen gekommen. Wenige Tage vor Einberufung der Generalstände geht in Paris auf der Straße der Ruf nach Brot für zwei Sous in „Tod den Reichen!“ über. Und nachdem die Ordnungshüter die keifenden Frauen herablassend einfach nach Hause schicken wollen, ist es so weit. Das Anwesen Henriots und bald auch das von Réveillon werden verwüstet. Die Eindringlinge halten zunächst erstaunt inne vor so viel Schönheit, werden dann von einer Art Ekel und schließlich von der Wonne erfasst, alles kurz und klein zu schlagen. Inmitten der Scherben, des Rauchs und der fliegenden Pflastersteine geht ein rauschhaftes Selbstgefühl durch die Menge im Ausprobieren, wie weit man es treiben kann. „Welche Freude, den Wachen einen Hagel Steine zu schicken! Jede Freiheit nimmt diesen Weg.“
Die Revolution ist bei Vuillard das spontane Aufbäumen einer Stadt. Schuhputzer, Bettler, Kutscher, Tagelöhner, Studenten, vorwiegend junge Leute, halten es in der heißen Julinacht auf ihren Lagern nicht aus und schweifen durch die Straßen, ohne klares Ziel. Man ist aufgedreht, fühlt sich bedrängt. Gerüchte von nahenden Söldnerheeren gehen um. Einzelne Sätze von Camille Desmoulins oder Mirabeau sind bei der Menge hängen geblieben. Man pisst gegen Türen, schlägt dort ein Fenster ein, zerstört Herrschaftssymbole, sucht nach Waffen, plündert Paläste. Die Revolution hat kein verklärtes Gesicht. Auch kein besonders hässliches. Sie hat im Grunde gar kein Gesicht. Darin liegt Éric Vuillards Einwand gegen die großen Revolutionshistoriker wie Jules Michelet. Dieser habe der Revolution mit Einzelfiguren ein Gesicht angedichtet, und „mit einem fantastischen Taschenspielertrick wie der Teufel, der Jesus hoch oben auf den Tempel entführte“, der Nachwelt vorgemacht, diese aus dem Faubourg Saint-Antoine sich heranwälzende „ungeheure schwarze Masse“ habe Wortführer, Repräsentanten, erkennbare Züge gehabt.
So weit, so gut. Nur ist Vuillard nicht Historiker, sondern Schriftsteller. Wie macht man aus dem Kollektivsubjekt Paris, dieser „gigantischen Verdichtung aus Menschen, Tauben, Ratten, Asseln“, eine handelnde Figur? Hier liegt die eigentliche Stärke des Autors. In seinen Büchern gibt es eine Vielzahl von Personal, seitenlange Namensaufzählungen, massenhaft Requisiten. Das daraus entstehende Figurenmosaik hat zwar keine individuelle Geschichte, keine Identität, keine Psychologie. Aus der Masse des faktisch Auf- und Durchgezählten ergeben sich aber ergreifende Profile: Momente von kurz aufleuchtenden und gleich in die Anonymität zurückfallenden persönlichen Schicksalen. Das Ergebnis ist eine Art im Faktischen gespiegelte Psychologie. Ein Beispiel?
Nach dem Sturm auf Réveillons Stadthaus steigen zwei königliche Kommissare in die Katakomben hinab, wo die Leichen der dabei gefallenen Aufständischen verwahrt werden. Nachdem eine nach der anderen minutiös nach Todesursache und allfälligen Raubgegenständen in den Taschen inspiziert worden ist, lässt man die Angehörigen zur Leichenerkennung kommen. Unter ihnen befinden sich der Schornsteinfeger Louis Petitanfant und dessen Schwester Louise, Kammerfrau. Diese bleibt vor einem Toten mit entstelltem Gesicht stehen und erkennt den Bruder. Auf dem Rückweg erinnert sie sich, wie sie als Kinder am Wasser mit Steinen, Schlamm und alten Brettern drei kleine Hütten gebaut und darin merkwürdig geformte Flusskiesel versteckt haben. Flussaufwärts standen ein paar Eschen, Glocken läuteten, es wurde Nacht, der Fluss war schon dunkel: Sie mussten nach Hause. Sie liefen und lachten, rangelten ein bisschen, lachten und liefen. Bei der Leichenschau hat man den Geschwistern ein Papier des Inhalts „Nach Prüfung des toten Körpers Nummer fünf …“ zum Unterzeichnen hingehalten. Sie konnten nicht schreiben.
Dichtung und Wahrheit arbeiten hier einander zu. Éric Vuillard malt Bilderbücher mit Worten und verschafft den Figuren ein psychologisches Profil, auf das sie damals noch keinen Anspruch hatten. Als Filmautor setzt er auch die Mittel von Zoom und Totale ein. Dabei spielt er locker mit dem Erzähler-Ich – „stellen wir uns einmal vor …“ – und tändelt mit absichtlich flapsigen Anachronismen. Der Genfer Bankier Jacques Necker, Finanzminister Ludwigs XVI., wird zum Junkie, der in jungen Jahren als Trader mit der englischen Staatsschuldlast spekulierte. Die Pariser Krämer und Handwerker hingegen treiben auf den Barrikaden „Intifada“.
Das Buch liest sich manchmal, als wäre es als Kommentar auf die Gelbwestenbewegung geschrieben worden. Dabei ist es schon vor zwei Jahren erschienen. Obwohl der Autor Vuillard sich mit Verlautbarungen über die politische Aktualität zurückhält, macht er in seinen Büchern aus seinen Sympathien kein Hehl. Sie gelten den Aufständischen gegen das etablierte System. Seine indirekte Antwort auf die Gelbwesten war in diesem Winter die vorgezogene Publikation seines neuen Buchs „La guerre des pauvres“ (Krieg der Armen) über den deutschen Bauernaufstand. Vorgeführt wird dort ein Volk armer Schlucker, das in den Predigten des Reformators Thomas Müntzer gelernt hat, dass es einen Zusammenhang geben müsse zwischen seinem eigenen Zorn und dem Zorn Gottes über den Zustand der Welt. Die Unzufriedenheit der Kleinen mit der Kleinheit ihres Loses ist bei Éric Vuillard ein unerschöpfliches Thema. Man müsste, schreibt er am Schluss von „14. Juli“, häufiger die Türen unserer lächerlichen Élysée-Paläste eintreten und wie die Revolutionäre damals Dekrete, Gesetze, Protokolle einfach aus dem Fenster werfen – „das wäre schön und lustig und erhebend“. Schön und lustig ist jedenfalls sein Buch, mit Präzision und Eleganz übersetzt.
In der Nahaufnahme sieht das
vermeintlich Bekannte
plötzlich nochmals anders aus
Éric Vuillards Roman über die Französische Revolution liest sich wie ein Kommentar auf die Gelbwesten. Dabei wurde er zwei Jahre zuvor geschrieben.
Foto: DPA
Éric Vuillard: 14. Juli. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 136 Seiten, 18 Euro.
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des Zufalls
Ein Tag im Jahre 1789: Éric Vuillard
erzählt den „14. Juli“ tatsächlich noch einmal neu
VON JOSEPH HANIMANN
Wie betrachtet man mit der historischen Lupe ein Weitwinkelpanorama? Den Lesern von Éric Vuillard ist dieses Paradox zwischen Detailblick und Weitsicht bekannt. Europäischer Kolonialismus durch die Schlüssellochperspektive der Berliner Kongokonferenz, Wild-West-Mythos im traurigen Spiegel der Lebensgeschichte von Buffalo Bill oder, in seinem vorletzten Buch, die „Tagesordnung“ von Hitlers Aufstieg unter dem wohlwollenden Auge des deutschen Großbürgertums – das waren Themen, die Vuillard in seinen früheren Büchern mit seinem trockenen Erzählstil aus tausend Nebensächlichkeiten zum Gesamtbild zusammenfügte.
Doch die Französische Revolution? Nach Balzac, Victor Hugo, Jules Michelet, Anatole France und all den anderen möchte es einem so vorkommen, als sei auch das Nebensächlichste an ihr literarisch längst abgegrast. Wenn es dem Autor Vuillard dennoch gelingt, uns auf gut hundert Seiten noch einmal in den Bann der Ereignisse des 14. Juli 1789 zu ziehen, dann liegt das nicht zuletzt an seinem Gespür für exemplarische Situationen. Mit faktischer Präzision fesselt er uns ans Konkrete, mit spekulativer Weichzeichnung lässt er uns Langzeitgeschichte schnuppern. So sieht das vermeintlich Bekannte plötzlich nochmals anders aus. Denn bei Vuillard wird weder das „Volk“ noch die „Revolution“ oder das Wort „Liberté“ großgeschrieben. Immer ist das Banale mit dabei und hat der Zufall sein feines Händchen im Spiel.
Da will ein Pariser Tapetenfabrikant namens Réveillon im April 1789 den Lohn seiner Arbeiter senken – fünfzehn statt zwanzig Sous Tagesgeld reichten für sie doch auch, denn die Geschäftslage sei schwierig. Als der Salpeterfabrikant Henriot dasselbe verlangt, wird das Brummen abends in den Schenken lauter. Der Winter war hart, in Besançon, Pontoise, Amiens ist es schon zu Hungeraufständen gekommen. Wenige Tage vor Einberufung der Generalstände geht in Paris auf der Straße der Ruf nach Brot für zwei Sous in „Tod den Reichen!“ über. Und nachdem die Ordnungshüter die keifenden Frauen herablassend einfach nach Hause schicken wollen, ist es so weit. Das Anwesen Henriots und bald auch das von Réveillon werden verwüstet. Die Eindringlinge halten zunächst erstaunt inne vor so viel Schönheit, werden dann von einer Art Ekel und schließlich von der Wonne erfasst, alles kurz und klein zu schlagen. Inmitten der Scherben, des Rauchs und der fliegenden Pflastersteine geht ein rauschhaftes Selbstgefühl durch die Menge im Ausprobieren, wie weit man es treiben kann. „Welche Freude, den Wachen einen Hagel Steine zu schicken! Jede Freiheit nimmt diesen Weg.“
Die Revolution ist bei Vuillard das spontane Aufbäumen einer Stadt. Schuhputzer, Bettler, Kutscher, Tagelöhner, Studenten, vorwiegend junge Leute, halten es in der heißen Julinacht auf ihren Lagern nicht aus und schweifen durch die Straßen, ohne klares Ziel. Man ist aufgedreht, fühlt sich bedrängt. Gerüchte von nahenden Söldnerheeren gehen um. Einzelne Sätze von Camille Desmoulins oder Mirabeau sind bei der Menge hängen geblieben. Man pisst gegen Türen, schlägt dort ein Fenster ein, zerstört Herrschaftssymbole, sucht nach Waffen, plündert Paläste. Die Revolution hat kein verklärtes Gesicht. Auch kein besonders hässliches. Sie hat im Grunde gar kein Gesicht. Darin liegt Éric Vuillards Einwand gegen die großen Revolutionshistoriker wie Jules Michelet. Dieser habe der Revolution mit Einzelfiguren ein Gesicht angedichtet, und „mit einem fantastischen Taschenspielertrick wie der Teufel, der Jesus hoch oben auf den Tempel entführte“, der Nachwelt vorgemacht, diese aus dem Faubourg Saint-Antoine sich heranwälzende „ungeheure schwarze Masse“ habe Wortführer, Repräsentanten, erkennbare Züge gehabt.
So weit, so gut. Nur ist Vuillard nicht Historiker, sondern Schriftsteller. Wie macht man aus dem Kollektivsubjekt Paris, dieser „gigantischen Verdichtung aus Menschen, Tauben, Ratten, Asseln“, eine handelnde Figur? Hier liegt die eigentliche Stärke des Autors. In seinen Büchern gibt es eine Vielzahl von Personal, seitenlange Namensaufzählungen, massenhaft Requisiten. Das daraus entstehende Figurenmosaik hat zwar keine individuelle Geschichte, keine Identität, keine Psychologie. Aus der Masse des faktisch Auf- und Durchgezählten ergeben sich aber ergreifende Profile: Momente von kurz aufleuchtenden und gleich in die Anonymität zurückfallenden persönlichen Schicksalen. Das Ergebnis ist eine Art im Faktischen gespiegelte Psychologie. Ein Beispiel?
Nach dem Sturm auf Réveillons Stadthaus steigen zwei königliche Kommissare in die Katakomben hinab, wo die Leichen der dabei gefallenen Aufständischen verwahrt werden. Nachdem eine nach der anderen minutiös nach Todesursache und allfälligen Raubgegenständen in den Taschen inspiziert worden ist, lässt man die Angehörigen zur Leichenerkennung kommen. Unter ihnen befinden sich der Schornsteinfeger Louis Petitanfant und dessen Schwester Louise, Kammerfrau. Diese bleibt vor einem Toten mit entstelltem Gesicht stehen und erkennt den Bruder. Auf dem Rückweg erinnert sie sich, wie sie als Kinder am Wasser mit Steinen, Schlamm und alten Brettern drei kleine Hütten gebaut und darin merkwürdig geformte Flusskiesel versteckt haben. Flussaufwärts standen ein paar Eschen, Glocken läuteten, es wurde Nacht, der Fluss war schon dunkel: Sie mussten nach Hause. Sie liefen und lachten, rangelten ein bisschen, lachten und liefen. Bei der Leichenschau hat man den Geschwistern ein Papier des Inhalts „Nach Prüfung des toten Körpers Nummer fünf …“ zum Unterzeichnen hingehalten. Sie konnten nicht schreiben.
Dichtung und Wahrheit arbeiten hier einander zu. Éric Vuillard malt Bilderbücher mit Worten und verschafft den Figuren ein psychologisches Profil, auf das sie damals noch keinen Anspruch hatten. Als Filmautor setzt er auch die Mittel von Zoom und Totale ein. Dabei spielt er locker mit dem Erzähler-Ich – „stellen wir uns einmal vor …“ – und tändelt mit absichtlich flapsigen Anachronismen. Der Genfer Bankier Jacques Necker, Finanzminister Ludwigs XVI., wird zum Junkie, der in jungen Jahren als Trader mit der englischen Staatsschuldlast spekulierte. Die Pariser Krämer und Handwerker hingegen treiben auf den Barrikaden „Intifada“.
Das Buch liest sich manchmal, als wäre es als Kommentar auf die Gelbwestenbewegung geschrieben worden. Dabei ist es schon vor zwei Jahren erschienen. Obwohl der Autor Vuillard sich mit Verlautbarungen über die politische Aktualität zurückhält, macht er in seinen Büchern aus seinen Sympathien kein Hehl. Sie gelten den Aufständischen gegen das etablierte System. Seine indirekte Antwort auf die Gelbwesten war in diesem Winter die vorgezogene Publikation seines neuen Buchs „La guerre des pauvres“ (Krieg der Armen) über den deutschen Bauernaufstand. Vorgeführt wird dort ein Volk armer Schlucker, das in den Predigten des Reformators Thomas Müntzer gelernt hat, dass es einen Zusammenhang geben müsse zwischen seinem eigenen Zorn und dem Zorn Gottes über den Zustand der Welt. Die Unzufriedenheit der Kleinen mit der Kleinheit ihres Loses ist bei Éric Vuillard ein unerschöpfliches Thema. Man müsste, schreibt er am Schluss von „14. Juli“, häufiger die Türen unserer lächerlichen Élysée-Paläste eintreten und wie die Revolutionäre damals Dekrete, Gesetze, Protokolle einfach aus dem Fenster werfen – „das wäre schön und lustig und erhebend“. Schön und lustig ist jedenfalls sein Buch, mit Präzision und Eleganz übersetzt.
In der Nahaufnahme sieht das
vermeintlich Bekannte
plötzlich nochmals anders aus
Éric Vuillards Roman über die Französische Revolution liest sich wie ein Kommentar auf die Gelbwesten. Dabei wurde er zwei Jahre zuvor geschrieben.
Foto: DPA
Éric Vuillard: 14. Juli. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 136 Seiten, 18 Euro.
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