Der Sommer 1789 ist herrlich warm und so schön, dass man die Hungersnot im vorangegangenen bitterkalten Winter leicht vergessen kann, zumindest in den Palästen. Im Volk aber wächst die Unzufriedenheit über die Willkür und Dekadenz der herrschenden Klassen, bis die drückende Hitze schließlich kaum mehr auszuhalten ist. Eines Nachts versammeln sich erste Gruppen in der Dunkelheit. Waffenarsenale werden gestürmt, Theaterrequisiten geplündert. Aus falschen Speeren werden echte Schlagstöcke. Die Kirchenglocken in Paris schlagen Alarm, doch zu spät: Am Morgen des 14. Juli hat sich die Menge bereits vor den Toren der Bastille versammelt - sie wird Europa für immer verändern. Éric Vuillard schildert die Geburtsstunde der französischen Revolution als bildreiches Panorama voller Miniaturen, die uns daran erinnern, dass Freiheit auch Gleichheit aller Menschen vor der Geschichte bedeutet.»Eine Liebeserklärung an die menschliche Vorstellungskraft in einem überwältigenden Text. Ein Buch mit emotionaler Kraft, das zugleich auch das Elend unserer Zivilisation spiegelt.« - Le Monde des Livres
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2019Das feine Händchen
des Zufalls
Ein Tag im Jahre 1789: Éric Vuillard
erzählt den „14. Juli“ tatsächlich noch einmal neu
VON JOSEPH HANIMANN
Wie betrachtet man mit der historischen Lupe ein Weitwinkelpanorama? Den Lesern von Éric Vuillard ist dieses Paradox zwischen Detailblick und Weitsicht bekannt. Europäischer Kolonialismus durch die Schlüssellochperspektive der Berliner Kongokonferenz, Wild-West-Mythos im traurigen Spiegel der Lebensgeschichte von Buffalo Bill oder, in seinem vorletzten Buch, die „Tagesordnung“ von Hitlers Aufstieg unter dem wohlwollenden Auge des deutschen Großbürgertums – das waren Themen, die Vuillard in seinen früheren Büchern mit seinem trockenen Erzählstil aus tausend Nebensächlichkeiten zum Gesamtbild zusammenfügte.
Doch die Französische Revolution? Nach Balzac, Victor Hugo, Jules Michelet, Anatole France und all den anderen möchte es einem so vorkommen, als sei auch das Nebensächlichste an ihr literarisch längst abgegrast. Wenn es dem Autor Vuillard dennoch gelingt, uns auf gut hundert Seiten noch einmal in den Bann der Ereignisse des 14. Juli 1789 zu ziehen, dann liegt das nicht zuletzt an seinem Gespür für exemplarische Situationen. Mit faktischer Präzision fesselt er uns ans Konkrete, mit spekulativer Weichzeichnung lässt er uns Langzeitgeschichte schnuppern. So sieht das vermeintlich Bekannte plötzlich nochmals anders aus. Denn bei Vuillard wird weder das „Volk“ noch die „Revolution“ oder das Wort „Liberté“ großgeschrieben. Immer ist das Banale mit dabei und hat der Zufall sein feines Händchen im Spiel.
Da will ein Pariser Tapetenfabrikant namens Réveillon im April 1789 den Lohn seiner Arbeiter senken – fünfzehn statt zwanzig Sous Tagesgeld reichten für sie doch auch, denn die Geschäftslage sei schwierig. Als der Salpeterfabrikant Henriot dasselbe verlangt, wird das Brummen abends in den Schenken lauter. Der Winter war hart, in Besançon, Pontoise, Amiens ist es schon zu Hungeraufständen gekommen. Wenige Tage vor Einberufung der Generalstände geht in Paris auf der Straße der Ruf nach Brot für zwei Sous in „Tod den Reichen!“ über. Und nachdem die Ordnungshüter die keifenden Frauen herablassend einfach nach Hause schicken wollen, ist es so weit. Das Anwesen Henriots und bald auch das von Réveillon werden verwüstet. Die Eindringlinge halten zunächst erstaunt inne vor so viel Schönheit, werden dann von einer Art Ekel und schließlich von der Wonne erfasst, alles kurz und klein zu schlagen. Inmitten der Scherben, des Rauchs und der fliegenden Pflastersteine geht ein rauschhaftes Selbstgefühl durch die Menge im Ausprobieren, wie weit man es treiben kann. „Welche Freude, den Wachen einen Hagel Steine zu schicken! Jede Freiheit nimmt diesen Weg.“
Die Revolution ist bei Vuillard das spontane Aufbäumen einer Stadt. Schuhputzer, Bettler, Kutscher, Tagelöhner, Studenten, vorwiegend junge Leute, halten es in der heißen Julinacht auf ihren Lagern nicht aus und schweifen durch die Straßen, ohne klares Ziel. Man ist aufgedreht, fühlt sich bedrängt. Gerüchte von nahenden Söldnerheeren gehen um. Einzelne Sätze von Camille Desmoulins oder Mirabeau sind bei der Menge hängen geblieben. Man pisst gegen Türen, schlägt dort ein Fenster ein, zerstört Herrschaftssymbole, sucht nach Waffen, plündert Paläste. Die Revolution hat kein verklärtes Gesicht. Auch kein besonders hässliches. Sie hat im Grunde gar kein Gesicht. Darin liegt Éric Vuillards Einwand gegen die großen Revolutionshistoriker wie Jules Michelet. Dieser habe der Revolution mit Einzelfiguren ein Gesicht angedichtet, und „mit einem fantastischen Taschenspielertrick wie der Teufel, der Jesus hoch oben auf den Tempel entführte“, der Nachwelt vorgemacht, diese aus dem Faubourg Saint-Antoine sich heranwälzende „ungeheure schwarze Masse“ habe Wortführer, Repräsentanten, erkennbare Züge gehabt.
So weit, so gut. Nur ist Vuillard nicht Historiker, sondern Schriftsteller. Wie macht man aus dem Kollektivsubjekt Paris, dieser „gigantischen Verdichtung aus Menschen, Tauben, Ratten, Asseln“, eine handelnde Figur? Hier liegt die eigentliche Stärke des Autors. In seinen Büchern gibt es eine Vielzahl von Personal, seitenlange Namensaufzählungen, massenhaft Requisiten. Das daraus entstehende Figurenmosaik hat zwar keine individuelle Geschichte, keine Identität, keine Psychologie. Aus der Masse des faktisch Auf- und Durchgezählten ergeben sich aber ergreifende Profile: Momente von kurz aufleuchtenden und gleich in die Anonymität zurückfallenden persönlichen Schicksalen. Das Ergebnis ist eine Art im Faktischen gespiegelte Psychologie. Ein Beispiel?
Nach dem Sturm auf Réveillons Stadthaus steigen zwei königliche Kommissare in die Katakomben hinab, wo die Leichen der dabei gefallenen Aufständischen verwahrt werden. Nachdem eine nach der anderen minutiös nach Todesursache und allfälligen Raubgegenständen in den Taschen inspiziert worden ist, lässt man die Angehörigen zur Leichenerkennung kommen. Unter ihnen befinden sich der Schornsteinfeger Louis Petitanfant und dessen Schwester Louise, Kammerfrau. Diese bleibt vor einem Toten mit entstelltem Gesicht stehen und erkennt den Bruder. Auf dem Rückweg erinnert sie sich, wie sie als Kinder am Wasser mit Steinen, Schlamm und alten Brettern drei kleine Hütten gebaut und darin merkwürdig geformte Flusskiesel versteckt haben. Flussaufwärts standen ein paar Eschen, Glocken läuteten, es wurde Nacht, der Fluss war schon dunkel: Sie mussten nach Hause. Sie liefen und lachten, rangelten ein bisschen, lachten und liefen. Bei der Leichenschau hat man den Geschwistern ein Papier des Inhalts „Nach Prüfung des toten Körpers Nummer fünf …“ zum Unterzeichnen hingehalten. Sie konnten nicht schreiben.
Dichtung und Wahrheit arbeiten hier einander zu. Éric Vuillard malt Bilderbücher mit Worten und verschafft den Figuren ein psychologisches Profil, auf das sie damals noch keinen Anspruch hatten. Als Filmautor setzt er auch die Mittel von Zoom und Totale ein. Dabei spielt er locker mit dem Erzähler-Ich – „stellen wir uns einmal vor …“ – und tändelt mit absichtlich flapsigen Anachronismen. Der Genfer Bankier Jacques Necker, Finanzminister Ludwigs XVI., wird zum Junkie, der in jungen Jahren als Trader mit der englischen Staatsschuldlast spekulierte. Die Pariser Krämer und Handwerker hingegen treiben auf den Barrikaden „Intifada“.
Das Buch liest sich manchmal, als wäre es als Kommentar auf die Gelbwestenbewegung geschrieben worden. Dabei ist es schon vor zwei Jahren erschienen. Obwohl der Autor Vuillard sich mit Verlautbarungen über die politische Aktualität zurückhält, macht er in seinen Büchern aus seinen Sympathien kein Hehl. Sie gelten den Aufständischen gegen das etablierte System. Seine indirekte Antwort auf die Gelbwesten war in diesem Winter die vorgezogene Publikation seines neuen Buchs „La guerre des pauvres“ (Krieg der Armen) über den deutschen Bauernaufstand. Vorgeführt wird dort ein Volk armer Schlucker, das in den Predigten des Reformators Thomas Müntzer gelernt hat, dass es einen Zusammenhang geben müsse zwischen seinem eigenen Zorn und dem Zorn Gottes über den Zustand der Welt. Die Unzufriedenheit der Kleinen mit der Kleinheit ihres Loses ist bei Éric Vuillard ein unerschöpfliches Thema. Man müsste, schreibt er am Schluss von „14. Juli“, häufiger die Türen unserer lächerlichen Élysée-Paläste eintreten und wie die Revolutionäre damals Dekrete, Gesetze, Protokolle einfach aus dem Fenster werfen – „das wäre schön und lustig und erhebend“. Schön und lustig ist jedenfalls sein Buch, mit Präzision und Eleganz übersetzt.
In der Nahaufnahme sieht das
vermeintlich Bekannte
plötzlich nochmals anders aus
Éric Vuillards Roman über die Französische Revolution liest sich wie ein Kommentar auf die Gelbwesten. Dabei wurde er zwei Jahre zuvor geschrieben.
Foto: DPA
Éric Vuillard: 14. Juli. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 136 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Zufalls
Ein Tag im Jahre 1789: Éric Vuillard
erzählt den „14. Juli“ tatsächlich noch einmal neu
VON JOSEPH HANIMANN
Wie betrachtet man mit der historischen Lupe ein Weitwinkelpanorama? Den Lesern von Éric Vuillard ist dieses Paradox zwischen Detailblick und Weitsicht bekannt. Europäischer Kolonialismus durch die Schlüssellochperspektive der Berliner Kongokonferenz, Wild-West-Mythos im traurigen Spiegel der Lebensgeschichte von Buffalo Bill oder, in seinem vorletzten Buch, die „Tagesordnung“ von Hitlers Aufstieg unter dem wohlwollenden Auge des deutschen Großbürgertums – das waren Themen, die Vuillard in seinen früheren Büchern mit seinem trockenen Erzählstil aus tausend Nebensächlichkeiten zum Gesamtbild zusammenfügte.
Doch die Französische Revolution? Nach Balzac, Victor Hugo, Jules Michelet, Anatole France und all den anderen möchte es einem so vorkommen, als sei auch das Nebensächlichste an ihr literarisch längst abgegrast. Wenn es dem Autor Vuillard dennoch gelingt, uns auf gut hundert Seiten noch einmal in den Bann der Ereignisse des 14. Juli 1789 zu ziehen, dann liegt das nicht zuletzt an seinem Gespür für exemplarische Situationen. Mit faktischer Präzision fesselt er uns ans Konkrete, mit spekulativer Weichzeichnung lässt er uns Langzeitgeschichte schnuppern. So sieht das vermeintlich Bekannte plötzlich nochmals anders aus. Denn bei Vuillard wird weder das „Volk“ noch die „Revolution“ oder das Wort „Liberté“ großgeschrieben. Immer ist das Banale mit dabei und hat der Zufall sein feines Händchen im Spiel.
Da will ein Pariser Tapetenfabrikant namens Réveillon im April 1789 den Lohn seiner Arbeiter senken – fünfzehn statt zwanzig Sous Tagesgeld reichten für sie doch auch, denn die Geschäftslage sei schwierig. Als der Salpeterfabrikant Henriot dasselbe verlangt, wird das Brummen abends in den Schenken lauter. Der Winter war hart, in Besançon, Pontoise, Amiens ist es schon zu Hungeraufständen gekommen. Wenige Tage vor Einberufung der Generalstände geht in Paris auf der Straße der Ruf nach Brot für zwei Sous in „Tod den Reichen!“ über. Und nachdem die Ordnungshüter die keifenden Frauen herablassend einfach nach Hause schicken wollen, ist es so weit. Das Anwesen Henriots und bald auch das von Réveillon werden verwüstet. Die Eindringlinge halten zunächst erstaunt inne vor so viel Schönheit, werden dann von einer Art Ekel und schließlich von der Wonne erfasst, alles kurz und klein zu schlagen. Inmitten der Scherben, des Rauchs und der fliegenden Pflastersteine geht ein rauschhaftes Selbstgefühl durch die Menge im Ausprobieren, wie weit man es treiben kann. „Welche Freude, den Wachen einen Hagel Steine zu schicken! Jede Freiheit nimmt diesen Weg.“
Die Revolution ist bei Vuillard das spontane Aufbäumen einer Stadt. Schuhputzer, Bettler, Kutscher, Tagelöhner, Studenten, vorwiegend junge Leute, halten es in der heißen Julinacht auf ihren Lagern nicht aus und schweifen durch die Straßen, ohne klares Ziel. Man ist aufgedreht, fühlt sich bedrängt. Gerüchte von nahenden Söldnerheeren gehen um. Einzelne Sätze von Camille Desmoulins oder Mirabeau sind bei der Menge hängen geblieben. Man pisst gegen Türen, schlägt dort ein Fenster ein, zerstört Herrschaftssymbole, sucht nach Waffen, plündert Paläste. Die Revolution hat kein verklärtes Gesicht. Auch kein besonders hässliches. Sie hat im Grunde gar kein Gesicht. Darin liegt Éric Vuillards Einwand gegen die großen Revolutionshistoriker wie Jules Michelet. Dieser habe der Revolution mit Einzelfiguren ein Gesicht angedichtet, und „mit einem fantastischen Taschenspielertrick wie der Teufel, der Jesus hoch oben auf den Tempel entführte“, der Nachwelt vorgemacht, diese aus dem Faubourg Saint-Antoine sich heranwälzende „ungeheure schwarze Masse“ habe Wortführer, Repräsentanten, erkennbare Züge gehabt.
So weit, so gut. Nur ist Vuillard nicht Historiker, sondern Schriftsteller. Wie macht man aus dem Kollektivsubjekt Paris, dieser „gigantischen Verdichtung aus Menschen, Tauben, Ratten, Asseln“, eine handelnde Figur? Hier liegt die eigentliche Stärke des Autors. In seinen Büchern gibt es eine Vielzahl von Personal, seitenlange Namensaufzählungen, massenhaft Requisiten. Das daraus entstehende Figurenmosaik hat zwar keine individuelle Geschichte, keine Identität, keine Psychologie. Aus der Masse des faktisch Auf- und Durchgezählten ergeben sich aber ergreifende Profile: Momente von kurz aufleuchtenden und gleich in die Anonymität zurückfallenden persönlichen Schicksalen. Das Ergebnis ist eine Art im Faktischen gespiegelte Psychologie. Ein Beispiel?
Nach dem Sturm auf Réveillons Stadthaus steigen zwei königliche Kommissare in die Katakomben hinab, wo die Leichen der dabei gefallenen Aufständischen verwahrt werden. Nachdem eine nach der anderen minutiös nach Todesursache und allfälligen Raubgegenständen in den Taschen inspiziert worden ist, lässt man die Angehörigen zur Leichenerkennung kommen. Unter ihnen befinden sich der Schornsteinfeger Louis Petitanfant und dessen Schwester Louise, Kammerfrau. Diese bleibt vor einem Toten mit entstelltem Gesicht stehen und erkennt den Bruder. Auf dem Rückweg erinnert sie sich, wie sie als Kinder am Wasser mit Steinen, Schlamm und alten Brettern drei kleine Hütten gebaut und darin merkwürdig geformte Flusskiesel versteckt haben. Flussaufwärts standen ein paar Eschen, Glocken läuteten, es wurde Nacht, der Fluss war schon dunkel: Sie mussten nach Hause. Sie liefen und lachten, rangelten ein bisschen, lachten und liefen. Bei der Leichenschau hat man den Geschwistern ein Papier des Inhalts „Nach Prüfung des toten Körpers Nummer fünf …“ zum Unterzeichnen hingehalten. Sie konnten nicht schreiben.
Dichtung und Wahrheit arbeiten hier einander zu. Éric Vuillard malt Bilderbücher mit Worten und verschafft den Figuren ein psychologisches Profil, auf das sie damals noch keinen Anspruch hatten. Als Filmautor setzt er auch die Mittel von Zoom und Totale ein. Dabei spielt er locker mit dem Erzähler-Ich – „stellen wir uns einmal vor …“ – und tändelt mit absichtlich flapsigen Anachronismen. Der Genfer Bankier Jacques Necker, Finanzminister Ludwigs XVI., wird zum Junkie, der in jungen Jahren als Trader mit der englischen Staatsschuldlast spekulierte. Die Pariser Krämer und Handwerker hingegen treiben auf den Barrikaden „Intifada“.
Das Buch liest sich manchmal, als wäre es als Kommentar auf die Gelbwestenbewegung geschrieben worden. Dabei ist es schon vor zwei Jahren erschienen. Obwohl der Autor Vuillard sich mit Verlautbarungen über die politische Aktualität zurückhält, macht er in seinen Büchern aus seinen Sympathien kein Hehl. Sie gelten den Aufständischen gegen das etablierte System. Seine indirekte Antwort auf die Gelbwesten war in diesem Winter die vorgezogene Publikation seines neuen Buchs „La guerre des pauvres“ (Krieg der Armen) über den deutschen Bauernaufstand. Vorgeführt wird dort ein Volk armer Schlucker, das in den Predigten des Reformators Thomas Müntzer gelernt hat, dass es einen Zusammenhang geben müsse zwischen seinem eigenen Zorn und dem Zorn Gottes über den Zustand der Welt. Die Unzufriedenheit der Kleinen mit der Kleinheit ihres Loses ist bei Éric Vuillard ein unerschöpfliches Thema. Man müsste, schreibt er am Schluss von „14. Juli“, häufiger die Türen unserer lächerlichen Élysée-Paläste eintreten und wie die Revolutionäre damals Dekrete, Gesetze, Protokolle einfach aus dem Fenster werfen – „das wäre schön und lustig und erhebend“. Schön und lustig ist jedenfalls sein Buch, mit Präzision und Eleganz übersetzt.
In der Nahaufnahme sieht das
vermeintlich Bekannte
plötzlich nochmals anders aus
Éric Vuillards Roman über die Französische Revolution liest sich wie ein Kommentar auf die Gelbwesten. Dabei wurde er zwei Jahre zuvor geschrieben.
Foto: DPA
Éric Vuillard: 14. Juli. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 136 Seiten, 18 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit diesem schmalen Büchlein geht Eric Vuillards Konzept, geschichtliche Ereignisse literarisch erzählend darzustellen, endlich mal auf, freut sich Rezensentin Claudia Mäder, die von Büchern Vuillards auch schon ganz schön genervt war. Es geht um den Tag 1789, an dem wütende Pariser die Bastille stürmten. Es gibt in den Archiven Listen, die die Namen der Eroberer und der Toten festhalten, wer sie waren, weiß man allerdings nicht mehr. Und hier setzt Vuillard an, so Mäder, er gibt diesen Menschen, dem Schumacher und dem Wasserträger, den Pierres und Richards, eine Stimme, ein Leben, indem er ihre Geschichte imaginiert. Das funktioniert für die Rezensentin prächtig, weil Vuillard dabei immer zwischen der Menge und dem Einzelnen hin und her schneidet und so die Fragilität des revolutionären Subjekts, das jederzeit in der Masse untergehen zu droht, unterstreicht. Dennoch kann Mäder das Buch nur halb empfehlen, den Vuillards Schwarzweißmalerei bei den Sozialschichten - hier die schurkischen Reichen, dort die engelhaften Armen, empfindet sie als "brachial-populistisch".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2019Einfach alles zerschmettern?
Kampfgeschrei im Ohr, Gestank von Schweiß und Kot in der Nase: Éric Vuillard schildert in seinem Roman "14. Juli" drastisch die Revolution - mit fragwürdiger Moral für die Gegenwart.
Es ist Frühling in Paris. Die Löhne sind gesunken, die Steuern gestiegen, und in den Vororten weicht die Angst vor zunehmender Armut einer Wut auf die ausweglos erscheinenden Verhältnisse nach der Finanzkrise. Längst haben sich lautstarke Gruppen in der Hauptstadt versammelt, protestieren gegen soziale Ungerechtigkeit und die Dekadenz der Eliten, zerstören und plündern im Namen des Volkes. Die Rebellion plant den Umsturz, geht aufs Ganze und wird Europa für immer verändern, denn wir befinden uns im Jahr 1789. Irgendwann brüllen die Ersten "Es lebe der Dritte Stand!" und gehen damit für immer in die Geschichte ein.
"So begann am 28. April 1789 die Revolution", heißt es lapidar im neuen, schmalen Büchlein des französischen Schriftstellers und Filmemachers Éric Vuillard, dem spätestens seit seinem Erfolg mit "Die Tagesordnung" auch in Deutschland große Aufmerksamkeit zuteilwird. Diesem vor zwei Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Buch über die Vorbereitungen zur Machtergreifung Hitlers ging in Frankreich mit "14. Juli" bereits eines über die Machtergreifung des französischen Volkes voraus, das nun mit etwas Verspätung auch auf Deutsch erscheint und wirken muss, als wäre es das Buch der Stunde. Doch sein Autor, mit dem Finger zugleich am Puls der Zeit und in der Wunde, hat damit etwas vorgelegt, das über die Aktualität tagespolitscher Ereignisse weit hinausweist und kein bloßer Beitrag zur Debatte um die "Gelbwesten" avant la lettre ist.
Dieser 14. Juli, der als französischer Nationalfeiertag noch heute der Erstürmung der Bastille gedenkt, dem wirkmächtigen Beginn der Französischen Revolution, zeigt "eine Stadt, die ein Volk ist", in Aufruhr. Während in den Gefängnissen "Schuldhäftlinge" einsitzen, die sich ihr Brot nicht mehr leisten können, leben Königs auf Pump und verprassen den Staatshaushalt. Die angehäuften Spiel- und anderen Schulden wachsen sich zum Staatsbankrott aus, einem "Rennen Richtung Abgrund", das sich die kleinen Leute nicht mehr bieten lassen und notfalls mit "der Gewalt der Bajonette" zu beenden gedenken.
Zwar tauchen am Rande neben dem Marquis de Mirabeau oder Camille Desmoulins auch Danton und Napoleon auf, doch geht es Vuillard ausdrücklich um die Lebensumstände der Armen, um die von der Geschichtsschreibung Übersehenen oder Marginalisierten. Das Genre der prominent besetzten Heldengeschichte wird hier für den Feinwaschgang auf links gedreht und danach neu gesampelt. Wo nach Walter Benjamin Geschichte immer die Geschichte der Sieger ist, rückt Vuillard in seiner Aneinanderreihung von historischen Episoden und Anekdoten die anonym Gebliebenen in den Fokus. Diese Miniaturen, Vuillards Markenzeichen, erzählen nur ausschnittsweise und unternehmen gar nicht erst den Versuch, das große Ganze abzubilden, sondern werfen Schlaglichter, liefern Momentaufnahmen und erzielen ihre Unmittelbarkeit durch häufige Szenenwechsel. Erst die Konzentration aufs Detail, auf die Kleidung und Körper der Figuren, lässt diese lebendig werden, legt ihnen im Wind wehende Schals um oder gerippte Strümpfe an, lässt ihre Hälse "Blut pissen" und die geschundenen Leiber von Fliegen und Krähen zerfressen.
Dieses punktuelle, rhapsodische Erzählen, das mal wie ein dokumentarisch erfassendes Kameraauge in der Halbtotalen an der Szenerie vorbeifährt und mal in der Großaufnahme ganz nah dran ist - man merkt diesem wie allen Texten Vuillards den Filmemacher an -, zieht sofort in seinen Bann. Wir sehen sämtliche Details, den Dreck in den Straßen, die zerlumpten Armen, haben das Dröhnen der Glocken und des Kampfgeschreis im Ohr, den Gestank von Schweiß und Kot in der Nase. Was die Historiographie über die Jahrhunderte kondensiert hat, wird in diesem bunten Geschichtskonfetti wieder erfahrbar als erlebte und durchlittene Erfahrung von Individuen.
Doch Vuillard ist ein Sohn der Postmoderne, lehnt allwissende Erzählinstanzen ab und glaubt mit Jean-François Lyotard nicht mehr an die "großen Erzählungen" der Moderne, die uns absolute Erklärungen der Geschichte liefern wollen, sondern verfolgt eine selbstreflexive Geschichtspoetologie, die an der Vorstellung von objektiver Historiographie rüttelt. Daher hält die Erzählinstanz das Geschehen ständig an, betritt kommentierend die Szene und macht den Vorhang wieder zu. Vuillard thematisiert in einem stetigen Reflexionsprozess das Erzählen als Illusionsmaschine, macht damit den Konstruktionscharakter jedes Narrativs transparent und hebt so mit Anklängen an Hayden White die "Fiktion des Faktischen" hervor.
Das historische Präsens nimmt uns, das kennen wir aus unseren Geschichtsbüchern, nicht nur mit an die Schauplätze epochaler Ereignisse, sondern eröffnet bei Vuillard einen Raum für das Nachdenken darüber, wie wir eigentlich erzählen, was wir als auswählenswert und für tradierungswürdig befinden. Und wenn wir ernst nehmen, wie Vuillard in der "Tagesordnung" ebenso wie in seinen früheren Büchern "Kongo" und "Traurigkeit der Erde" über die Auswirkungen der Geschichte auf unsere Gegenwart oder Parallelen zu ihr aufmerksam macht, kann man schon verwundert darüber sein, dass "14. Juli" in ungebrochen revolutionärer Rhetorik - und à la Édouard Louis' Forderung nach dem "Zerschmettern" der Bourgeoisie - auf den letzten beiden Seiten dem Aufstand das Wort redet: "Man müsste, wenn die Ordnung uns erbittert, die Türen unserer lächerlichen Elysée-Paläste eintreten, man müsste die Schubladen öffnen, die Scheiben mit Steinen einschmeißen und die Papiere aus dem Fenster werfen. Dekrete, Gesetze, Protokolle, einfach alles! Das wäre schön und lustig und erhebend."
BASTIAN REINERT
Éric Vuillard: "14. Juli". Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 136 S.,
geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kampfgeschrei im Ohr, Gestank von Schweiß und Kot in der Nase: Éric Vuillard schildert in seinem Roman "14. Juli" drastisch die Revolution - mit fragwürdiger Moral für die Gegenwart.
Es ist Frühling in Paris. Die Löhne sind gesunken, die Steuern gestiegen, und in den Vororten weicht die Angst vor zunehmender Armut einer Wut auf die ausweglos erscheinenden Verhältnisse nach der Finanzkrise. Längst haben sich lautstarke Gruppen in der Hauptstadt versammelt, protestieren gegen soziale Ungerechtigkeit und die Dekadenz der Eliten, zerstören und plündern im Namen des Volkes. Die Rebellion plant den Umsturz, geht aufs Ganze und wird Europa für immer verändern, denn wir befinden uns im Jahr 1789. Irgendwann brüllen die Ersten "Es lebe der Dritte Stand!" und gehen damit für immer in die Geschichte ein.
"So begann am 28. April 1789 die Revolution", heißt es lapidar im neuen, schmalen Büchlein des französischen Schriftstellers und Filmemachers Éric Vuillard, dem spätestens seit seinem Erfolg mit "Die Tagesordnung" auch in Deutschland große Aufmerksamkeit zuteilwird. Diesem vor zwei Jahren mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Buch über die Vorbereitungen zur Machtergreifung Hitlers ging in Frankreich mit "14. Juli" bereits eines über die Machtergreifung des französischen Volkes voraus, das nun mit etwas Verspätung auch auf Deutsch erscheint und wirken muss, als wäre es das Buch der Stunde. Doch sein Autor, mit dem Finger zugleich am Puls der Zeit und in der Wunde, hat damit etwas vorgelegt, das über die Aktualität tagespolitscher Ereignisse weit hinausweist und kein bloßer Beitrag zur Debatte um die "Gelbwesten" avant la lettre ist.
Dieser 14. Juli, der als französischer Nationalfeiertag noch heute der Erstürmung der Bastille gedenkt, dem wirkmächtigen Beginn der Französischen Revolution, zeigt "eine Stadt, die ein Volk ist", in Aufruhr. Während in den Gefängnissen "Schuldhäftlinge" einsitzen, die sich ihr Brot nicht mehr leisten können, leben Königs auf Pump und verprassen den Staatshaushalt. Die angehäuften Spiel- und anderen Schulden wachsen sich zum Staatsbankrott aus, einem "Rennen Richtung Abgrund", das sich die kleinen Leute nicht mehr bieten lassen und notfalls mit "der Gewalt der Bajonette" zu beenden gedenken.
Zwar tauchen am Rande neben dem Marquis de Mirabeau oder Camille Desmoulins auch Danton und Napoleon auf, doch geht es Vuillard ausdrücklich um die Lebensumstände der Armen, um die von der Geschichtsschreibung Übersehenen oder Marginalisierten. Das Genre der prominent besetzten Heldengeschichte wird hier für den Feinwaschgang auf links gedreht und danach neu gesampelt. Wo nach Walter Benjamin Geschichte immer die Geschichte der Sieger ist, rückt Vuillard in seiner Aneinanderreihung von historischen Episoden und Anekdoten die anonym Gebliebenen in den Fokus. Diese Miniaturen, Vuillards Markenzeichen, erzählen nur ausschnittsweise und unternehmen gar nicht erst den Versuch, das große Ganze abzubilden, sondern werfen Schlaglichter, liefern Momentaufnahmen und erzielen ihre Unmittelbarkeit durch häufige Szenenwechsel. Erst die Konzentration aufs Detail, auf die Kleidung und Körper der Figuren, lässt diese lebendig werden, legt ihnen im Wind wehende Schals um oder gerippte Strümpfe an, lässt ihre Hälse "Blut pissen" und die geschundenen Leiber von Fliegen und Krähen zerfressen.
Dieses punktuelle, rhapsodische Erzählen, das mal wie ein dokumentarisch erfassendes Kameraauge in der Halbtotalen an der Szenerie vorbeifährt und mal in der Großaufnahme ganz nah dran ist - man merkt diesem wie allen Texten Vuillards den Filmemacher an -, zieht sofort in seinen Bann. Wir sehen sämtliche Details, den Dreck in den Straßen, die zerlumpten Armen, haben das Dröhnen der Glocken und des Kampfgeschreis im Ohr, den Gestank von Schweiß und Kot in der Nase. Was die Historiographie über die Jahrhunderte kondensiert hat, wird in diesem bunten Geschichtskonfetti wieder erfahrbar als erlebte und durchlittene Erfahrung von Individuen.
Doch Vuillard ist ein Sohn der Postmoderne, lehnt allwissende Erzählinstanzen ab und glaubt mit Jean-François Lyotard nicht mehr an die "großen Erzählungen" der Moderne, die uns absolute Erklärungen der Geschichte liefern wollen, sondern verfolgt eine selbstreflexive Geschichtspoetologie, die an der Vorstellung von objektiver Historiographie rüttelt. Daher hält die Erzählinstanz das Geschehen ständig an, betritt kommentierend die Szene und macht den Vorhang wieder zu. Vuillard thematisiert in einem stetigen Reflexionsprozess das Erzählen als Illusionsmaschine, macht damit den Konstruktionscharakter jedes Narrativs transparent und hebt so mit Anklängen an Hayden White die "Fiktion des Faktischen" hervor.
Das historische Präsens nimmt uns, das kennen wir aus unseren Geschichtsbüchern, nicht nur mit an die Schauplätze epochaler Ereignisse, sondern eröffnet bei Vuillard einen Raum für das Nachdenken darüber, wie wir eigentlich erzählen, was wir als auswählenswert und für tradierungswürdig befinden. Und wenn wir ernst nehmen, wie Vuillard in der "Tagesordnung" ebenso wie in seinen früheren Büchern "Kongo" und "Traurigkeit der Erde" über die Auswirkungen der Geschichte auf unsere Gegenwart oder Parallelen zu ihr aufmerksam macht, kann man schon verwundert darüber sein, dass "14. Juli" in ungebrochen revolutionärer Rhetorik - und à la Édouard Louis' Forderung nach dem "Zerschmettern" der Bourgeoisie - auf den letzten beiden Seiten dem Aufstand das Wort redet: "Man müsste, wenn die Ordnung uns erbittert, die Türen unserer lächerlichen Elysée-Paläste eintreten, man müsste die Schubladen öffnen, die Scheiben mit Steinen einschmeißen und die Papiere aus dem Fenster werfen. Dekrete, Gesetze, Protokolle, einfach alles! Das wäre schön und lustig und erhebend."
BASTIAN REINERT
Éric Vuillard: "14. Juli". Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. 136 S.,
geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main