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Bevor das Deutsche Reich in den Ersten Weltkrieg eintrat, hatte es den Neid der Völker auf sich gezogen - als wirtschaftlich boomende, kulturell und wissenschaftlich strahlende, sozial fortschrittliche, militärisch brillante Nation. Nach vier Jahren Krieg galt es als aggressiv, reaktionär, rechtsverachtend, schuldbeladen. Wie wurde es vom Musterschüler zum Paria Europas? Jörg Friedrich, bekannt für unorthodoxe Fragen an die Geschichte, wirft einen neuen, unverstellten Blick auf die Weltkriegsjahre 1914 bis 1918.
Was unterschied Deutschlands Verhalten im Krieg von dem der Versailler
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Produktbeschreibung
Bevor das Deutsche Reich in den Ersten Weltkrieg eintrat, hatte es den Neid der Völker auf sich gezogen - als wirtschaftlich boomende, kulturell und wissenschaftlich strahlende, sozial fortschrittliche, militärisch brillante Nation. Nach vier Jahren Krieg galt es als aggressiv, reaktionär, rechtsverachtend, schuldbeladen. Wie wurde es vom Musterschüler zum Paria Europas? Jörg Friedrich, bekannt für unorthodoxe Fragen an die Geschichte, wirft einen neuen, unverstellten Blick auf die Weltkriegsjahre 1914 bis 1918.

Was unterschied Deutschlands Verhalten im Krieg von dem der Versailler Siegermächte - von den kolonialistischen Briten, den revanchistischen Franzosen oder den rassistischen Amerikanern? Führten sie Krieg, um die Menschheit mit Völkerrecht und Demokratie zu beglücken? Achteten sie die Neutralität ihrer Nachbarn? Prüften sie ernsthaft Deutschlands Kompromissangebote oder setzten sie von Anfang an auf einen Unterwerfungsfrieden? Mit der ihm eigenen erzählerischen Kraft schildert Friedrich einen Zivilisationsbruch, der Europa über Nacht in ein Schlachtfeld verwandelte, auf dem Recht, Humanität, christliche Werte, politisches Augenmaß und wirtschaftliche Vernunft auf allen Seiten mit Füßen getreten wurden.
Autorenporträt
Jörg Friedrich, geboren 1944, erzielte mit seinem Buch über den Bombenkrieg gegen Deutschlands Städte einen Welterfolg: 'Der Brand' liegt in zwölf Sprachen vor. Auch der Folgeband 'Brandstätten' wurde zum Bestseller. Friedrichs umfangreiches Werk enthält Standardtitel zur NS-Zeit, die ihm internationale Auszeichnungen eintrugen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2014

Wenn sich der Qualmvorhang langsam hebt . . .
Es darf ab- und auch aufgerechnet werden: Jörg Friedrich inszeniert sprachgewaltig den Ersten Weltkrieg

Schon seit mehreren Monaten wird die öffentliche Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs von einem bemerkenswert breiten publizistischen Echo begleitet. Nachdem die Aufmerksamkeit sich zunächst, gewiss auch angestoßen von dem Bestseller des in Cambridge lehrenden Historikers Christopher Clark über "Die Schlafwandler", auf die Juli-Krise des Jahres 1914 und deren Vorgeschichte richtete, sind inzwischen mehrere Gesamtdarstellungen zum Ersten Weltkrieg gefolgt. Hierbei zeigt sich im Einzelnen das Gewicht leitender Vorannahmen, entscheiden letztlich doch genau sie darüber, was aus der Fülle des Geschehens überhaupt berücksichtigt und wie es dargestellt wird. Ein jüngeres Beispiel ist hierfür der Überblick des Freiburger Historikers Jörn Leonhard, der vor allem auf die globalen Dimensionen des Weltkriegs sowie die Eskalation der Gewalt in einem immer totaler werdenden Geschehen abhebt.

Die neue Studie des Historikers und Publizisten Jörg Friedrich, weithin bekannt wegen seines Buches über den Bombenkrieg gegen Deutschlands Städte im Zweiten Weltkrieg, hält sich in Distanz zu derartigen Überlegungen. Hier steht nicht die geschichtswissenschaftlich informierte Analyse des Ersten Weltkriegs im Vordergrund, sondern der selbstbewusst in der Tradition der großen Geschichtserzähler vertretene Anspruch, der Fülle der menschlichen Erfahrungen in all ihren tragischen Verquickungen gerecht werden zu wollen. Nun ist das Ansinnen, Geschichte erzählen zu wollen, mittlerweile auch dem geschichtswissenschaftlichen Betrieb keineswegs mehr so fremd - und doch wäre Friedrich eben nicht Friedrich, wenn er nicht ausdrücklich die szenische Erzählung des Weltkriegs in denkbar breiter Form ausmalen würde. So gibt er den zeitgenössischen Akteuren reichlich Raum, und er erteilt ihnen immer wieder ausführlich das Wort.

Das hält den Autor jedoch keineswegs davon ab, von seinem Schreibtisch kommentierend einzugreifen, darüber hinaus den Bezug zu früheren und späteren Entwicklungen zu suchen beziehungsweise klare Werturteile zu fällen. Offensichtlich soll der dabei immer wieder ins Spiel gebrachte Vergleich, gelegentlich auch der bewusst relativierende Vergleich - so etwa zwischen den Opfern der deutschen Greuel in Belgien und denen des fire bombing einer japanischen Stadt im April 1945 - seine Leser aus ihren "Gegenwartsklischees" lösen.

Nun, dass der Autor eine klare und zuweilen drastische Bildersprache bevorzugt, wusste man schon vorher, aber der Stoff des Weltkriegs liefert ihm dafür besonders reichhaltige Munition. Über weite Strecken des Buches setzt er diese einerseits für eine detailreiche Schilderung der Schlachten an den verschiedensten Fronten des Weltkriegs ein und führt sie damit oftmals dorthin, wo viele Leser sich kaum auskennen. Schleierhaft bleibt daher, warum dem Band keinerlei Abbildung und kaum nützliche Karten beigegeben worden sind - die wenigen, eher lieblos gezeichneten Karten am Ende des Bandes kompensieren dieses Defizit nicht.

Andererseits nutzt Friedrich seine eingehenden Schlachtendarstellungen, um ausgesprochen realistische Einblicke in das Sterben und Leiden der Soldaten an den Fronten sowohl des Bewegungs- als auch des Stellungskrieges zu bieten. So verdeutlicht er überzeugend, wie sehr die unzulängliche und kaum zu bewerkstelligende Hygiene in den Schützengräben Wundverletzungen zu einer wahren Geißel machte und den Massentod unzähliger Soldaten hervorrief. Gelegentlich rückt er den Dingen und den Menschen sehr nah auf den Leib und verfolgt etwa die Wirkungen von eintretenden Geschossen in den menschlichen Körper bis an den Punkt, wo sie wie eine "wildgewordenen Fräse" die Gedärme zerfetzten.

Ungeachtet dieser eindringlichen, teilweise um einen literarischen Stil bemühten Passagen sticht jedoch etwas anderes ins Auge. Denn schon in seiner umfänglichen Deutung der Juli-Krise tritt ein grundsätzliches, eher geschichtspolitisches Unterfangen des Autors zum Vorschein, geht es Friedrich doch darum, die deutsche Reichsleitung als den eher naiven und ungelenken denn als den treibenden Partner der schlingernden Wiener Politik herauszustellen, während die französische Politik sich "an eine Gesellschaftsklasse in den Ostausläufern Europas" angelehnt habe, die man noch "vor 120 Jahren begeistert geköpft hatte", hier den zarischen Adel. An weiteren Stellen des Buches würzt er die Botschaft mit Passagen, in denen er die deutschen Belgien-Greuel gegen die Grausamkeiten der russischen Angreifer in Ostpreußen aufrechnet oder eben auch mit wiederholten Hinweisen darauf aufwartet, wie sehr die Entente in Griechenland im Grunde gegen einen neutralen Staat brutale Machtpolitik angewandt habe, während sie im Falle Belgiens vorgeblich zur Wiederherstellung seiner Neutralität in den Krieg gezogen sei.

Damit nimmt das Aufrechnen jedoch keineswegs ein Ende. Denn auch die Opfer des unbegrenzten deutschen U-Boot-Krieges und die Versenkung des Passagierdampfers Lusitania werden den fast 800 000 Hungertoten im Deutschen Reich gegenübergestellt, die Opfer der alliierten Blockade wurden. Wohl am deutlichsten aber fallen die Belgien-Passagen des Buches aus: Belgien sei eben kein wirklich neutraler Staat gewesen, sondern nur ein neutralisierter Staat, konstatiert Friedrich und ergänzt polemisch, so seien halt die ehemaligen "Kongo-Schänder" in kürzester Zeit zum poor little Belgium mutiert.

Mit provokativen Aufregern dieser Art zielt er offensichtlich auf ein Publikum, das schon immer wusste, dass im Ersten Weltkrieg sämtliche Mächte Schuld auf sich geladen haben. Bedauerlich ist dabei, dass darüber der wichtigste Vorzug des Buches in den Hintergrund gerät, denn es berichtet weit ausführlicher als sonst üblich über die Ost- und Südostfronten des Weltkriegs. Indem Friedrich diese Kapitel an den Anfang des Buches stellt, um erst weit später auf die Westfronten überzublenden, erinnert er mit Recht an einen entscheidenden und weiter zu prüfenden Sachverhalt. Denn im Osten und Südosten Europas vermochten die deutschen Truppen mit ihren Verbündeten tatsächlich mehrere wichtige Siege zu erringen, was zugleich eine entscheidende Erklärung dafür anbietet, warum im Westen trotz der für beide Seiten erkennbaren Aussichtslosigkeit, im Stellungskrieg auch nur minimale Gewinne zu erzielen, ein Kompromissfrieden ausblieb.

Obwohl die These eines engen Beziehungsgeflechts zwischen den Ost- und Westfronten nicht grundstürzend neu ist, gelingt es Friedrich durch seine Erzählung, genau diesen Sachverhalt in den Mittelpunkt zu rücken. Umso bedauerlicher ist es, dass er ihn gleichzeitig mit einem dichten Teppich aus Schlachtenbeschreibungen und doch eher selbstverliebten Sprachbildern ("langsam hebt sich der Qualmvorhang über dem Schlachtfeld") beziehungsweise Sentenzen ("für den Philosophen ist die Illusion der Normalzustand") so zudeckt, dass die Westfront dann tatsächlich nur noch als ein "tragisches Epos von der Sinnverlassenheit des Menschen" erscheint. Dem Ganzen wird außerdem unterschwellig eine geschichtspolitische Melodie mitgegeben, welche das politische und militärische Versagen der Führung vor allem in den Entente-Mächten betont, ohne dabei die innenpolitischen Kontexte und Konflikte dieser Länder auch nur ansatzweise zu würdigen. Eine solche Deutung liegt in der Logik eines Geschichtsdenkens begründet, das schon im Untertitel den Weltkrieg als einen "Weg nach Versailles" markiert. "Wer siegt, rechnet ab", heißt es in der Mitte des Buches. Ob man für diese grundlegende Erkenntnis noch weitere 500 Seiten fortfahren muss, bleibt den Lesern überlassen.

CHRISTOPH CORNELISSEN

Jörg Friedrich: 14/18. Der Weg nach Versailles. Propyläen Verlag, Berlin 2014. 1072 S., 34,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In die Vollen langt Jörg Friedrich mit seinem opulenten Weltkriegsepos 14/18, das alle Register des unmittelbaren Erzählens zieht, bemerkt Rezensent Gustav Seibst: Mal vergegenwärtigt er mit den Mitteln der "klassischen Thriller-Literatur", mal nutzt er die erlebte Rede, mal klingt er gar wie Camus. Stilistisch kommt Seibt auf seine Kosten, wenn der Autor nicht nur die Schlachten des Ersten Weltkriegs nacherzählt, sondern auch die moralischen Kämpfe nachinszeniert, die sie begleiteten. Das scheint dem Rezensenten allerdings auch das Problem des Buches, denn der große Gewinn dermeisten neuen Publikationen besteht in Seibst Augen gerade darin, die Schuldfragen etwas hinter sich zu lassen, und die Unfähigkeit der Akteure, sich in andere hineinzuversetzen, deutlich zu machen. "Friedrich dürfte der letzte Historiker sein", schreibt Seibt, "der nach alter Weise und nach Herzenslust aufrechnet".

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2014

Schuld und Demütigung
Auf dem Weg nach Versailles: Jörg Friedrichs Weltkriegsbuch übt sich in Deutschlandverstehertum
Im Gedenkkalender zu 1914 ist die Juli-Krise vorbei. Wer im Netz einen der vielen weiterlaufenden Kalender zum 100-Jahr-Erinnern verfolgt, beispielsweise den Twitter-Account „1914Tweets“, ist längst mit den deutschen Truppen in Belgien und an der Marne. Inzwischen erscheinen erste wissenschaftliche Bilanzen zur Literatur über den Kriegsausbruch. Auf der Internet-Seite „H Soz u Kult“ ist seit dem 30. Juli eine ausgezeichnete Sammelrezension von Andreas Rose abrufbar. Ebenso lesenswert ist ein Beitrag von Andreas Kießling in der August-Nummer der Zeitschrift Mittelweg 36 unter dem Titel „Vergesst die Schulddebatte!“.
  Rose wie Kießling müssen sich mit dem vor allem in Zeitungsbeiträgen verbreiteten Vorwurf an Christopher Clark auseinandersetzen, dieser relativiere in seinem Buch „Die Schlafwandler“ die „Hauptschuld“ des Deutschen Reichs am Kriegsausbruch. Sie ist also doch zurückgekehrt, die alte Schuldfrage. Dabei hatte Clark den deutschen Beitrag zur Krise nicht kleingeredet, auch wenn sein Ansatz, die Krise als polyzentrischen, interaktiven Vorgang zu entwickeln, die Schuldfrage methodisch hinter sich lässt.
  Offenbar fällt es schwer, sich „Schuld“ oder „Verantwortung“ anders als quantitativ vorzustellen. Dann wird sie zum Kuchen, der umso schneller aufgezehrt wird, je mehr davon ein Stück bekommen. Doch erkennt schon eine einfache moralische Überlegung, dass ein Verbrechen nicht deshalb kleiner wird, weil fünf Personen gleichzeitig versuchen es zu begehen. Und Schuld setzt jedenfalls in politischen Zusammenhängen volle Übersicht zu Umständen und Folgen von Entscheidungen voraus. Ein Hauptgewinn der Forschungen der letzten Jahre, die nun bilanziert werden, besteht im Nachweis der unterschiedlichen Wahrnehmungen der Krise bei den Akteuren. Allen gemeinsam war eine dramatische Unfähigkeit, sich in die Lage der anderen Parteien hineinzuversetzen und die Welt mit deren Augen zu sehen. Wir kennen dieses Problem heute im Streit ums „Russlandverstehertum“.
  In den wissenschaftlichen Bilanzen kommt eins der bei deutschen Lesern erfolgreichsten Bücher zum Weltkrieg bisher nicht vor: Jörg Friedrichs monumentaler Schmöker „14/18“ mit dem richtunggebenden Untertitel „Der Weg nach Versailles“. Zwar wird der Versailler Friede nur summarisch auf wenigen Seiten abgehandelt, doch bleibt der Moment der moralischen Demütigung Deutschlands der Fluchtpunkt von Friedrichs Erzählung. Damit reaktiviert sein streckenweise blendend geschriebenes Epos jene Emotionen, die die Schuldfrage zum Leidwesen einiger Historiker noch über die pädagogischen Absichten heutiger selbstkritischer Historie hinaus hartnäckig am Leben erhalten. Anders gesagt: Friedrich dürfte der letzte Historiker sein, der nach alter Weise und nach Herzenslust aufrechnet. Damit reinszeniert er die moralischen Kämpfe, der die blutigen Weltkriegsschlachten von Anfang an begleitete.
  Man muss erläutern, wie Friedrich, der seit seinem Luftkriegsbuch zum Zweiten Weltkrieg („Der Brand“) als politisch inkorrekter Debattenstifter agiert, erzählt. Friedrich hat die Gabe leiblicher Vergegenwärtigung, er kann Situationen mit Mitteln, die er klassischer Thriller-Literatur abgeschaut hat, fühlbar machen. Am glänzendsten gelingt ihm das bei Randthemen wie der deutschen Sabotage in amerikanischen Rüstungsfirmen, die er mit Eric-Ambler-Kühle darstellt, oder beim Bericht von der angeblichen „spanischen“ Grippe, die 1917 von amerikanischen Soldaten nach Europa eingeschleppt wurde und mehr Tote kostete als der ganze Weltkrieg zusammen. Friedrichs wenige Seiten dazu sind meisterlich; hier klingt er nach dem Camus der „Pest“.
  Im Übrigen liebt Friedrich den Wechsel der Perspektiven: Mal gibt er den allwissenden Erzähler, der an wichtigen Wendepunkten weiß, wie man alles hätte besser machen können. Noch am 25. Juli 1914 hätte Deutschland Österreich-Ungarn zurückpfeifen können, und alles wäre gut gewesen. Oder Deutschland hätte im Frühjahr 1918 auf seine letzte Offensive verzichten, Elsass-Lothringen und Belgien ohne weiter Umstände zurückgeben sollen, um seinen großen Sieg im Osten zu verwerten. Friedrich agiert in solchen Momenten wie ein machtvoller Schicksalsgott, der seinen Lesern das schönste Geschichtsgefühl schenkt, die Mitwisserschaft der Zeiten.
  An anderen Stellen greift er zum Mittel der „erlebten Rede“, er kriecht in die Haut der Akteure. um ihre Standpunkte halb von innen zu reproduzieren; Standpunkte werden zu Charakterfragen. In Kombination mit dem allwissenden Erzählerstandpunkt erscheinen die Akteure dabei leicht als Dummköpfe oder als Heuchler.
  Friedrichs stilistisch hartgekochte Kühle ist nur gespielt. Mit der Verbindung von Übersicht und Personenzeichnung reinszeniert er die moralische Propaganda-Schlacht des Weltkriegs; zuweilen wird auch für den heutigen Leser fühlbar, wie empörend es sich für Deutsche angefühlt haben mag, dass ihnen in Belgien das Abhacken von Kinderhänden vorgeworfen wurde: War das nicht genau das Verbrechen gewesen, das dem belgischen Königshaus in seiner Kolonie Kongo vorgeworfen worden war? Deutschland hatte in Belgien 6500 Zivilopfer auf dem Gewissen – Friedrich erinnert an die nahezu 800 000 Toten, die die alliierte Seeblockade in Deutschland verursacht haben soll: mehr Zivilopfer, als der Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg kostete.
  Amerika, das sich über die angekündigte Versenkung des Waffen transportierenden Passagierkreuzers „Lusitania“ erregte, wurde schwerreich durch Rüstungsexporte an England und Frankreich – galt sein Kriegseintritt der Wahrung des Völkerrechts oder nicht doch eher der Rettung seiner Schuldner? Das sind alte Fragen, die die Deutschen schon in den zwanziger Jahren aufregten, nachdem sie, auch unter dem Druck einer nach dem Waffenstillstand fortgesetzten, somit eindeutig völkerrechtswidrigen Blockade, den Versailler Kriegsschuldparagrafen unterzeichnet hatten.
  Er ist also der wahre Fluchtpunkt von Friedrichs auf moralistische Weise antimoralistischer Erzählung. Wer sich ihr aussetzt, lernt verstehen, warum die Kriegsschuldfrage zum Leidwesen der internationalen Forschung immer noch lebt: Vermutlich war die moralische Demütigung bei Kriegsende schlimmer als alle Reparationen. Diese stellten sich schnell als verhandelbar heraus, während man über Schmach zwischen erhitzten Kriegsparteien schlecht reden kann. Auch hier wäre die Kunst hilfreich, sich in die Gegenseite hineinzuversetzen, und zwar empathisch.
  Friedrich schließt mit der Überlegung, dass Deutschland 1918 durch den Wegfall der russischen Bedrohung strategisch besser dastand als 1914. Die Gefahr der Einkreisung war erst einmal gebannt. Das aber hatte auch das erschöpfte, panische Frankreich verstanden.   
GUSTAV SEIBT
  
  
  
  
  
Jörg Friedrich:
14/18. Der Weg nach
Versailles. Propyläen Verlag, Berlin 2014. 1073 Seiten, 34,99 Euro.
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"Friedrich hat die Gabe leiblicher Vergegenwärtigung, er kann Situationen mit Mitteln, die er klassischer Thriller-Literatur abgeschaut hat, fühlbar machen." Gustav Seibt Süddeutsche Zeitung 20140908