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Ein Debütroman über Identität, Migration, Außenseitertum, Weiblichkeit und die Frage nach dem Sein.Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin - das alles ist sie und gleichzeitig ist sie nichts davon. Bei der Erforschung des eigenen Identitätspluralismus sammelt sie Ebay-Anzeigen, die das Wort »russisch« enthalten, notiert Gespräche von Arbeitskolleg:innen, korrigiert Stellenaushänge, beobachtet russische Mütter in der Stadt und israelische Verwandte auf Facebook, besucht…mehr

Produktbeschreibung
Ein Debütroman über Identität, Migration, Außenseitertum, Weiblichkeit und die Frage nach dem Sein.Ksenia ist Russin, sie ist Deutsche, sie ist Jüdin, sie ist unter Zeugen Jehovas aufgewachsen, sie ist eine junge Frau, Mutter, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin - das alles ist sie und gleichzeitig ist sie nichts davon. Bei der Erforschung des eigenen Identitätspluralismus sammelt sie Ebay-Anzeigen, die das Wort »russisch« enthalten, notiert Gespräche von Arbeitskolleg:innen, korrigiert Stellenaushänge, beobachtet russische Mütter in der Stadt und israelische Verwandte auf Facebook, besucht arabische Läden, diskutiert mit einem Logopäden, dolmetscht in einer Psychotherapie für Flüchtlinge, erinnert sich immer wieder an einen traumatischen kindlichen Zustand von Orientierungslosigkeit und Fremdbestimmung, betastet misstrauisch ihren Körper und fragt sich nach einer Definition und dem Wert des eigenen Daseins.Ein schonungsloses Romandebüt in Form einer Prosacollage voll bissigemHumor und sezierenden Alltags- wie Selbstbeobachtungen.
Autorenporträt
SLATA ROSCHAL, geboren 1992 in Sankt Petersburg, ist eine deutsche Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern und das Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern. Bereits erschienen sind ihre Lyrikbände Wir verzichten auf das gelobte Land (Reinecke & Voß, 2019) und Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus (Hochroth Verlag, 2021). Aktuell promoviert sie an der LMU München in der Slawistik. 153 Formen des Nichtseins ist ihr Romandebüt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Sein oder nicht sein: Eine Frage, die mit ihrem Bezug auf Identität auch die Autorin Slata Roschal umgetrieben haben könnte, meint Rezensent Jan Drees. "153 Formen des Nichtseins" der Ich-Erzählerin würden so vor allem über Identitäten und Identitätsmarker erzählt, die die Figur nicht hat, sie werde entwickelt wie ein analoges Fotonegativ. Die Figur steht zwischen ziemlichen vielen Gruppen und Diskursen, das kann die Leser bisweilen etwas verwirrt zurücklassen, warnt der Rezensent, aber mehr und mehr Informationen würden uns im Lauf der Zeit gegeben. Das Thema Identität ist zwar allgegenwärtig, aber so spannend, so mit dem Anderen im Fokus, habe dies niemand so schön hinbekommen wie die Debütantin Roschal, ist sich Drees sicher.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2022

Abseits der Rechthaben-Falle
Slata Roschal und Elina Penner erzählen in ihren Debütromanen jeweils von russlanddeutscher Migration und religiöser Umorientierung

"Mit den Türken sind sie sich einig: Egal, was passiert, Hauptsache, die Kinder sind nicht schwul und heiraten keine Kartoffel. Alles andere kriegt man irgendwie hin." Die so denken, sind Ohnse, russlanddeutsche Mennoniten in Ostwestfalen, und die Romanfigur Nelli, die das hier mit einigem Abstand beobachtet, gehört ebenso dazu wie ihre Autorin Elina Penner. Sie, wir, ich und dann noch die Kartoffeln, die das schließlich lesen sollen - die Komplexität postmigrantischen Erzählens lebt von der Unmöglichkeit, sich selbst eindeutig zu verorten.

Zum einen stimmt ja, was Penner in der Danksagung zu ihrem Debütroman "Nachtbeeren" schreibt: "dass das Selbstverständliche in meiner Welt die Faszination der anderen ist". Die gilt es zu wecken, ohne die migrantischen Binnenwelten dabei exotisierend einem voyeuristischen Blick preiszugeben, sagen wir: im Stile von Deborah Feldmans "Unorthodox". Zum anderen aber ist auch ein strukturelles Rechthaben gegen die jeweils anderen zu vermeiden, wie es sich nur allzu leicht in die Erzählung einer Heldin in schwieriger, auch verletzender Umgebung einschleicht. Denn hier droht die Trivialität des Selbstidentischen und eines Freund-Feind-Schemas.

Wie kann Literatur eine derart anspruchsvolle Balance überhaupt leisten? Die Antwort lautet immer: in ihrer sprachlichen Form. Schon wenn das Erzählen auf mehrere Stimmen verteilt ist, man also nicht alles aus Sicht einer autornahen Instanz präsentiert bekommt, ist das der Qualität meist förderlich. Das ist das Erfolgsrezept von Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" (siehe obenstehende Rezension), und "Nachtbeeren" lässt neben der traumatisierten, anorektischen und überforderten Nelli auch deren gläubigen Sohn Jakob und den schwulen Bruder Eugen zu Wort kommen.

Dabei setzt der Roman auch auf Genreelemente: Die Handlung kommt in Gang, als Jakob seinen Vater auf mehrere Toppits-Gefrierbeutel verteilt in der Kühltruhe findet. Nun müssen die Onkel ran, und im weiteren Verlauf lernt man dann so einiges über die "in Tupperware konservierte" Sprache des Plautdietsch, die Auffassungen der Community zu Politik und Leben, Rezepte mit Schwarzem Nachtschatten, das Angebot im Mix Markt, die Gottesdienste und Helene Fischer (Ohnse Loyna). Es entsteht das Bild eines letztlich doch recht beschränkten Milieus: "Ohnse Menschen beklagen gerne die Zustände in der Welt und lachen sofort danach. Aber das kann der Ostwestfale an sich ja auch ganz gut" - Exotismusgefahr gebannt!

Nun gibt es in diesem Frühjahr noch einen zweiten Debütroman mit russlanddeutschem Hintergrund. Slata Roschals "153 Formen des Nichtseins" setzt die autofiktionale Geschichte einer jungen Frau namens Ksenia aus 153 kurzen Abschnitten zusammen. Neben erzählenden Miniaturen finden sich darunter Dialoge und Briefe, neben Einkaufslisten und Traumprotokollen stehen Kleinanzeigen, Social-Media-Einträge, ein Konferenzbericht, ein Fragebogen, Notizzettel sowie Liedgut und andere Texte der Zeugen Jehovas, zu denen die Familie jüdischer Herkunft im Zuge der Übersiedlung nach Deutschland konvertiert. Ksenia muss sich also nicht nur von tief verankerten russlanddeutschen Maßstäben emanzipieren (eine Frau müsse etwa die Phase ihrer Schönheit und Jugend nutzen, um einen wohlhabenden Mann zu angeln), sondern sich auch aus einer Sekte lösen. Früh ist sie als Ehefrau und Mutter ge- und auch überfordert, was insbesondere ihr Studium der Literaturwissenschaften in München und die ersten Schritte einer Laufbahn als Schriftstellerin verkompliziert ("da half kein Migrationshintergrund, kein gutes Porträtfoto").

All das schlägt sich in Sprache nieder. Roschal gelingt das Kunststück, sämtliche Facetten im Ich ihrer Figur mitsprechen zu lassen, und zwar nicht nacheinander, sondern in jedem einzelnen Abschnitt. Mitunter streiten in einem einzigen Satz emanzipatorischer Zukunftsentwurf und Reste religiöser Weltsicht miteinander; die von den Eltern gelernte Sorge um das wirtschaftliche Auskommen bleibt in den prekären Stipendienphasen präsent. Ihre neu erworbene akademische Intellektualität erlaubt Ksenia, sich von den konservativen Altbeständen etwas zu distanzieren, während diese ihre Gegenwart weiterhin mit existenzieller Wucht aufladen.

Roschals Prosa wirkt auf den ersten Blick einfach, fast alltäglich. Sie ist zugänglich, mitunter ergreifend, und doch praktiziert sie jene Vielstimmigkeit, die der große russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin bei Dostojewski gefunden hatte, und macht sie fruchtbar für die relevanten Diskurse unserer Gegenwart. Denn es ist ja nicht zuletzt das weibliche postmigrantische Subjekt, das auf diese Weise in seiner Komplexität zur Sprache kommt. Und die tut dem Diskurs so gut wie der Literatur.

Roschals Prosa hat enormen Zug: "Während wir uns anzogen, kam die Erzieherin raus, fragte vorsichtig und geheimnisvoll, warum wir kein Schweinefleisch äßen, aus religiösen Gründen bestimmt. Jüdische Wurzeln, sagte ich, und sie fragte fasziniert, ob wir zur Synagoge gingen, und die ganzen Feste, wir würden ja dann auch kein Weihnachten feiern, nicht, und ich, Wir sind nur bisschen Juden." Wo weniger gute Literatur aus der gut gemeinten, aber oftmals verletzenden Neugier der Durchschnittsdeutschen einen Vorwurf machen und damit in die Rechthaben-Falle tappen würde, verhindert Ksenias verblüffende Antwort das Zementieren vermeintlicher Identitäten, das in solchen Fällen von beiden Seiten droht. "Wir sind nur bisschen Juden" - das hat man so in deutschsprachiger Literatur noch nicht gelesen! Identität wird dabei nicht geleugnet, sondern in die Vielfalt dessen hineingestellt, was wir alle, mit welchem Hintergrund auch immer, realistischerweise immer sind, nämlich dies, jenes und einiges in Querung.

Das betrifft vor allem auch das Trauma, den bösen Zwilling der Identität. Roschals Roman leugnet Probleme und Defizite nicht, im Gegenteil fordert uns jeder Abschnitt ja eindringlich auf, die spezifische Form des Nichtseins zu finden, auf die er verweist. Und doch, wie großartig: 153 Formen des Nichtseins statt eines identitätsbegründenden Traumas! Und ist nicht jedes Sein ein beschränktes? In der Vielfalt der Abwesenheiten eröffnen sich demnach immer auch Möglichkeitsräume, die in die Zukunft weisen.

Und das tut dieser Roman insgesamt. Während man sich bei Penners "Nachtbeeren" am Ende dann doch fragt, ob die Handlung tatsächlich der Schwere der Probleme angemessen ist, die zuvor in Gestalt Nellis aufgerufen wurden, findet Roschals Roman in seiner überraschenden Struktur und seiner vielstimmigen Prosa eine überzeugende Lösung dafür, wie eine literarisch anspruchsvolle, diskursiv komplexe und zugleich sehr gut lesbare Erzählliteratur heute aussehen kann. MORITZ BASSLER

Elina Penner: "Nachtbeeren". Roman.

Aufbau Verlag, Berlin. 248 S., geb., 22,- Euro.

Slata Roschal: "153 Formen des Nichtseins". Roman.

Homunculus Verlag, Erlangen 2022. 176 S., Abb., geb., 22,- Euro.

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