Napoleons Feldzug in Russland war eines der größten militärischen Desaster aller Zeiten und eine menschliche Tragödie von beispiellosen Ausmaßen. Für sein Epos über die Hybris eines Eroberers, den Wahnsinn des Krieges und einen der Wendepunkte der Weltgeschichte hat Adam Zamoyski eine Vielzahl von Augenzeugenberichten in französischer, russischer, deutscher, polnischer und italienischer Sprache ausgewertet. Als Leser hat man teil an den Überlegungen und Entscheidungen Napoleons, des Zaren Alexander I. und der militärischen Befehlshaber beider Seiten. Gleichzeitig kann man den Verlauf der Invasion, das Katz-und-Maus-Spiel der Strategen, die unheimlichen Tage im eroberten, aber brennenden Moskau, den unfassbar grauenvollen Rückzug der Grande Armée nachvollziehen. Nicht etwa nur der eisige Winter zwang die Franzosen in die Knie, sondern politische Fehleinschätzungen schon im Vorfeld des Feldzuges, strategische Fehler, widersprüchliches Handeln und die Unfähigkeit, Versorgung und Nachschub der Truppen zu sichern, führten die katastrophale Niederlage herbei: ein Muster, dem wir hier nicht zum letzten Mal in der Geschichte begegnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012Kälter als der Tod
Eine Million Opfer: zwei neue Bücher erforschen den grausam gescheiterten Feldzug Napoleons nach Russland im Jahr 1812
Der 6. Dezember 1812 war ein guter Tag zum Sterben in der Ebene westlich der weißrussischen Kleinstadt Molodetschno, auf halber Strecke zwischen Smolensk und Wilna, wo sich die Überlebenden der Grande Armée ein sicheres Quartier nach sechs Wochen Strapazen erhofften. Am Abend zuvor hatte sich ihr Anführer in aller Stille von seinen Generälen verabschiedet, um in der kaiserlichen Kutsche nach Paris vorauszufahren. Das Bulletin, das nach Napoleons Ankunft veröffentlicht werden sollte, lag schon bereit; es endete mit den Worten: "Die Gesundheit Seiner Majestät war nie besser."
Davon konnte bei seinen Truppen keine Rede sein. Am Morgen zeigte das Thermometer des Armeearztes Lagneau 37 Grad unter null. Als die Sonne über der Schneewüste aufging, sahen die um ihre Biwakfeuer gekrümmten Soldaten, wie das ganze Land bis zum Horizont rubinrot zu schimmern begann. Die Kälte hatte den Nebel in der Luft zu winzigen Eissplittern gefrieren lassen, die die Gesichter der Menschen und Tiere blutig schnitten, sobald der leiseste Windhauch ging. Der Speichel der Pferde fror an den Mäulern zu langen Eiszapfen, während die Marschierenden ihre vereisten Wimpern mit den Fingern zusammendrücken mussten, um wieder sehen zu können. Viele wurden schneeblind. Andere starben aufrecht an Baumstämmen und Kanonen, wo sie Wache gehalten oder eine Stütze gegen die Müdigkeit gesucht hatten.
Kollaps im Frost
Doch dieser Tod war nicht der schlimmste. Heinrich von Brandt, ein deutscher Hauptmann in der polnischen Weichsellegion des kaiserlichen Heeres, sah, wie Männer im Gehen von der Kälte buchstäblich niedergestreckt wurden. "Sie verlangsamten ihre Schritte, torkelten wie Betrunkene und fielen dann", wobei ihnen Blut aus Mund und Nase, Augen und Ohren lief. Andere gerieten in jenen Zustand des Außersichseins, für den in den Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts der Begriff des "Muselmanns" geprägt wurde - apathisch, empfindungslos, ausgezehrt, mit starren, leeren Augen, hatten sie jedes Gefühl für sich selbst und ihre Umgebung verloren. "In der Menge, in der sie in tiefstem Schweigen wie die Automaten mitliefen, konnte man sie sofort erkennen." Einige liefen geradewegs in die Lagerfeuer oder versuchten sogar, sich zum Schlafen hineinzulegen.
So endete der Russlandfeldzug der Großen Armee, der gut fünf Monate zuvor mit schmetternden Fanfaren und blendender Siegeszuversicht am Grenzfluss Njemen - der deutschen Memel - begonnen hatte. Es war die größte Truppenkonzentration, die die Welt bis dahin gesehen hatte, und die internationalste: Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Österreicher und Schweizer dienten in ihren Reihen. Dazu kamen die Kontingente der deutschen Verbündeten Napoleons: Preußen, Sachsen, Hannoveraner, Württemberger, Bayern, Hessen, Westfalen und andere mehr. Von den (je nach Zählung) fünf- bis sechshunderttausend Mann, die Ende Juni den Njemen oder weiter südlich den Bug überschritten, stammte nur etwa die Hälfte aus Frankreich selbst. Die wenigsten von ihnen kamen zurück.
Die Hauptarmee, die von Moskau über Smolensk und die Beresina zurückgeflutet war und dabei laufend Verstärkungen aufgesogen hatte, zählte Ende Dezember noch zwanzigtausend Kämpfer. Bei den zur Flankendeckung aufgestellten Hilfskorps, zu denen die Preußen unter dem Kommando Yorcks und die Österreicher unter Schwarzenberg zählten, gab es etwa doppelt so viele Überlebende. Hunderttausend Soldaten fielen in russische Gefangenschaft, aus der ein Fünftel von ihnen zurückkehrte.
Das war alles: ungefähr achtzigtausend Mann und ein paar tausend Zivilisten, die wie der Dichter Stendhal mit ins Zarenreich gezogen waren und wieder rechtzeitig ihre Koffer gepackt hatten. Den Rest - vierhunderttausend Erschossene, Zerstückelte, Erfrorene, am Typhus Erstickte, dazu dreihunderttausend russische Soldaten und ebenso viele Zivilisten, insgesamt eine Million Tote - deckte die russische Erde. Es war "der erstaunlichste Eselstritt, den der Zufall je einem Sterblichen versetzt hat", wie der britische Historiker Adam Zamoyski den österreichischen Feldherrn Schwarzenberg zitiert, und im Grunde ist der analytische Ertrag von Zamoyskis 700Seiten-Buch über den Untergang der Grande Armée mit diesem Zitat auch schon ausgeschöpft.
Heer an Erinnerungen
Was aber durchaus kein Schaden ist. Denn Zamoyski hat nicht vor, das Heer der wissenschaftlichen Studien zum Thema um eine weitere zu vermehren. Ihm geht es darum, das Geschehen, mit allen seinen strategischen Voraussetzungen und politischen Konsequenzen, so genau wie möglich nachzuerzählen - vor allem anhand der Berichte von Zeitgenossen, die es auf beiden Seiten in Hülle und Fülle gibt. Denn so gut wie jeder Offizier und schreibkundige Rekrut, dem nicht zwischen Moskau und Wilna die Finger abfroren (was Hunderten widerfuhr), hat Erinnerungen an die Katastrophe hinterlassen, von russischen und französischen Generälen bis hin zu dem Maurer Jakob Walter, der mit dem 4. württembergischen Infanterieregiment von Ellwangen zum Kreml und wieder zurück marschierte.
In diesen klug ausgewählten und montierten Beschreibungen liegt die Qualität des Buchs, zumal dort, wo Zamoyski die Erfahrungen der kämpfenden Truppen einander gegenüberstellt. So ließ Napoleon vor der Schlacht bei Borodino vor seinem Zelt das Porträt des einjährigen Königs von Rom ausstellen, seines Sohns und Thronfolgers, während die Russen eine Prozession mit der Ikone der Muttergottes von Smolensk durch ihre Reihen schickten. Vier Wochen später erholten sich Kutusows Truppen im Feldlager von Tarutino von ihrer Niederlage, während die Franzosen im ausgebrannten Moskau um die Weine, Juwelen und Seidenstoffe aus den Palästen des Adels stritten, statt sich mit warmer Kleidung einzudecken und ihre Pferde mit rutschfesten Hufeisen zu beschlagen. Mehr als vom Gegner wurde die Grande Armée von ihrer eigenen Überheblichkeit bezwungen - und von den Illusionen Napoleons, der an den Friedenswillen des Zaren und an die Beständigkeit des schönen Wetters glaubte, bis es zu spät war.
Ob der Korse, wie Zamoyski etwas freihändig mutmaßt, an einem Versagen der Hypophyse litt, was sein Übergewicht und seine Lethargie erklären würde, oder ob er bloß vom dauernden Kriegführen genug hatte - jedenfalls war Napoleon in entscheidenden Momenten seines Feldzugs nicht auf dem Posten. Bei Borodino vergab er die Chance, die Armee Kutusows zu zerschlagen, in Moskau verschwand er wochenlang in der Versenkung, und auf dem Rückzug ließ er bei Krasny die Nachhut seines treuesten Gefolgsmanns Ney schmählich im Stich.
Dennoch gelang es den russischen Truppen nie, die Franzosen im offenen Gefecht zu besiegen. Beim Übergang über die Beresina, der bis heute als Inbild der französischen Niederlage gilt, zogen in Wahrheit die Russen den Kürzeren, weil sie die Chance verpassten, Napoleon und seine Marschälle gefangen zu nehmen. Für die Soldaten und Zivilisten, die auf den Pontonbrücken bei Studenka zertrampelt wurden oder im eisigen Fluss ertranken, war das kein Trost; aber es erklärt immerhin, warum Frankreich 1813 und 1814 jeweils seine letzten Reserven gegen die vereinigten Russen, Preußen und Österreicher mobilisierte, statt auf einen Verhandlungsfrieden zu hoffen.
Bis zu den Vernichtungsschlachten des 1. und 2. Weltkriegs, bis zu Stalingrad und der Somme war die Niederlage der Grande Armée der Inbegriff des militärischen Debakels - und ein Lehrstück darüber, "wie Hybris am Ende von ihrer Nemesis eingeholt wird" (Zamoyski). Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, das Ergebnis des Feldzugs der russischen Kriegskunst gutzuschreiben. Außer Leo Tolstoi: In "Krieg und Frieden" verwendet er einen beträchtlichen Teil seiner epischen Energie darauf, den Sieg über Napoleon auf die besonderen Eigenschaften des russischen Volkes und seines Feldherrn Kutusow zurückzuführen: seine Tapferkeit, sein Gottvertrauen, seine Fähigkeit, abzuwarten und den Winter die Arbeit des Tötens verrichten zu lassen. Bei Tolstoi ist Kutusow nicht der faule, verlotterte Weiberheld, als den ihn seine Untergebenen stets dargestellt haben, sondern der Russe schlechthin.
Langer, bitterer Sieg
Das alles, sagt jetzt Dominic Lieven, Professor für russische Geschichte in London, ist reine Erfindung. Ja, mehr noch: Es ist heillos verkürzt! Denn der "lange, bittere, aber am Ende siegreiche Weg von Wilna im Dezember 1812 bis nach Paris im März 1814" spiele bei Tolstoi keine Rolle. Um diesen Gedanken näher auszuführen, hat sich Lieven in das zaristische Militärwesen des frühen 19. Jahrhunderts vertieft, die Schlachtfelder von Borodino, Großgörschen, Bautzen, Kulm und Leipzig persönlich abgelaufen und ein weiteres 700-Seiten-Buch geschrieben, das von Details zu Gefechtsverläufen und Charakterbildern russischer Granden strotzt (wobei ihm dennoch die von Zamoyski gelieferte Pointe entgeht, dass Rostoptschin, der fanatisch antifranzösische Gouverneur von Moskau, in seiner Toilette eine Bronzebüste von Napoleon stehen hatte, die "niedrigsten Funktionen" diente, sprich: als Klobürste in Gebrauch war).
Alexander I., der russische Zar, so Lievens These, hat Napoleon nicht zufällig besiegt, er hatte einen großen Plan. Das klingt zunächst plausibel oder wenigstens interessant, aber je mehr das Buch voranschreitet, desto deutlicher merkt man, dass sein Autor einer Einbildung aufgesessen ist. Denn Alexander wollte, wie jeder absolutistische Herrscher, vor allem seinen Thron retten, und als sich ihm nach 1812 die Gelegenheit bot, im Verein mit den Herrschern Preußens und Österreichs die Spuren der Französischen Revolution in Europa zu tilgen, hat er sie ergriffen. Weil aber die These nicht greift, hängen auch Lievens Kriegsschilderungen in der Luft; ihre besseren Passagen kann man als Fortsetzung zu Zamoyskis Erzählung lesen, ihre schlechteren muss man überspringen.
Was also lernen wir aus dem Martyrium der Großen Armee, was feiern wir im Herbst 2012? Vielleicht nur die ewige Wahrheit des Satzes, den Napoleon nach seiner Rückkehr aus Russland gebetsmühlenartig wiederholte und als dessen Schöpfer er in die Sprüchesammlungen einging: "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt." Dafür mussten Hunderttausende sterben. Die Geschichte besitzt einen Humor, an dem man erfrieren kann.
ANDREAS KILB
Adam Zamoyski: "1812. Napoleons Feldzug in Russland". Aus dem Englischen von Ruth Keen, Verlag C. H. Beck, 720 Seiten, 29,95 Euro. Dominic Lieven: "Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa". Aus dem Englischen von Helmut Ettinger, Bertelsmann-Verlag, 763 Seiten, 34 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Million Opfer: zwei neue Bücher erforschen den grausam gescheiterten Feldzug Napoleons nach Russland im Jahr 1812
Der 6. Dezember 1812 war ein guter Tag zum Sterben in der Ebene westlich der weißrussischen Kleinstadt Molodetschno, auf halber Strecke zwischen Smolensk und Wilna, wo sich die Überlebenden der Grande Armée ein sicheres Quartier nach sechs Wochen Strapazen erhofften. Am Abend zuvor hatte sich ihr Anführer in aller Stille von seinen Generälen verabschiedet, um in der kaiserlichen Kutsche nach Paris vorauszufahren. Das Bulletin, das nach Napoleons Ankunft veröffentlicht werden sollte, lag schon bereit; es endete mit den Worten: "Die Gesundheit Seiner Majestät war nie besser."
Davon konnte bei seinen Truppen keine Rede sein. Am Morgen zeigte das Thermometer des Armeearztes Lagneau 37 Grad unter null. Als die Sonne über der Schneewüste aufging, sahen die um ihre Biwakfeuer gekrümmten Soldaten, wie das ganze Land bis zum Horizont rubinrot zu schimmern begann. Die Kälte hatte den Nebel in der Luft zu winzigen Eissplittern gefrieren lassen, die die Gesichter der Menschen und Tiere blutig schnitten, sobald der leiseste Windhauch ging. Der Speichel der Pferde fror an den Mäulern zu langen Eiszapfen, während die Marschierenden ihre vereisten Wimpern mit den Fingern zusammendrücken mussten, um wieder sehen zu können. Viele wurden schneeblind. Andere starben aufrecht an Baumstämmen und Kanonen, wo sie Wache gehalten oder eine Stütze gegen die Müdigkeit gesucht hatten.
Kollaps im Frost
Doch dieser Tod war nicht der schlimmste. Heinrich von Brandt, ein deutscher Hauptmann in der polnischen Weichsellegion des kaiserlichen Heeres, sah, wie Männer im Gehen von der Kälte buchstäblich niedergestreckt wurden. "Sie verlangsamten ihre Schritte, torkelten wie Betrunkene und fielen dann", wobei ihnen Blut aus Mund und Nase, Augen und Ohren lief. Andere gerieten in jenen Zustand des Außersichseins, für den in den Vernichtungslagern des 20. Jahrhunderts der Begriff des "Muselmanns" geprägt wurde - apathisch, empfindungslos, ausgezehrt, mit starren, leeren Augen, hatten sie jedes Gefühl für sich selbst und ihre Umgebung verloren. "In der Menge, in der sie in tiefstem Schweigen wie die Automaten mitliefen, konnte man sie sofort erkennen." Einige liefen geradewegs in die Lagerfeuer oder versuchten sogar, sich zum Schlafen hineinzulegen.
So endete der Russlandfeldzug der Großen Armee, der gut fünf Monate zuvor mit schmetternden Fanfaren und blendender Siegeszuversicht am Grenzfluss Njemen - der deutschen Memel - begonnen hatte. Es war die größte Truppenkonzentration, die die Welt bis dahin gesehen hatte, und die internationalste: Italiener, Spanier, Portugiesen, Polen, Österreicher und Schweizer dienten in ihren Reihen. Dazu kamen die Kontingente der deutschen Verbündeten Napoleons: Preußen, Sachsen, Hannoveraner, Württemberger, Bayern, Hessen, Westfalen und andere mehr. Von den (je nach Zählung) fünf- bis sechshunderttausend Mann, die Ende Juni den Njemen oder weiter südlich den Bug überschritten, stammte nur etwa die Hälfte aus Frankreich selbst. Die wenigsten von ihnen kamen zurück.
Die Hauptarmee, die von Moskau über Smolensk und die Beresina zurückgeflutet war und dabei laufend Verstärkungen aufgesogen hatte, zählte Ende Dezember noch zwanzigtausend Kämpfer. Bei den zur Flankendeckung aufgestellten Hilfskorps, zu denen die Preußen unter dem Kommando Yorcks und die Österreicher unter Schwarzenberg zählten, gab es etwa doppelt so viele Überlebende. Hunderttausend Soldaten fielen in russische Gefangenschaft, aus der ein Fünftel von ihnen zurückkehrte.
Das war alles: ungefähr achtzigtausend Mann und ein paar tausend Zivilisten, die wie der Dichter Stendhal mit ins Zarenreich gezogen waren und wieder rechtzeitig ihre Koffer gepackt hatten. Den Rest - vierhunderttausend Erschossene, Zerstückelte, Erfrorene, am Typhus Erstickte, dazu dreihunderttausend russische Soldaten und ebenso viele Zivilisten, insgesamt eine Million Tote - deckte die russische Erde. Es war "der erstaunlichste Eselstritt, den der Zufall je einem Sterblichen versetzt hat", wie der britische Historiker Adam Zamoyski den österreichischen Feldherrn Schwarzenberg zitiert, und im Grunde ist der analytische Ertrag von Zamoyskis 700Seiten-Buch über den Untergang der Grande Armée mit diesem Zitat auch schon ausgeschöpft.
Heer an Erinnerungen
Was aber durchaus kein Schaden ist. Denn Zamoyski hat nicht vor, das Heer der wissenschaftlichen Studien zum Thema um eine weitere zu vermehren. Ihm geht es darum, das Geschehen, mit allen seinen strategischen Voraussetzungen und politischen Konsequenzen, so genau wie möglich nachzuerzählen - vor allem anhand der Berichte von Zeitgenossen, die es auf beiden Seiten in Hülle und Fülle gibt. Denn so gut wie jeder Offizier und schreibkundige Rekrut, dem nicht zwischen Moskau und Wilna die Finger abfroren (was Hunderten widerfuhr), hat Erinnerungen an die Katastrophe hinterlassen, von russischen und französischen Generälen bis hin zu dem Maurer Jakob Walter, der mit dem 4. württembergischen Infanterieregiment von Ellwangen zum Kreml und wieder zurück marschierte.
In diesen klug ausgewählten und montierten Beschreibungen liegt die Qualität des Buchs, zumal dort, wo Zamoyski die Erfahrungen der kämpfenden Truppen einander gegenüberstellt. So ließ Napoleon vor der Schlacht bei Borodino vor seinem Zelt das Porträt des einjährigen Königs von Rom ausstellen, seines Sohns und Thronfolgers, während die Russen eine Prozession mit der Ikone der Muttergottes von Smolensk durch ihre Reihen schickten. Vier Wochen später erholten sich Kutusows Truppen im Feldlager von Tarutino von ihrer Niederlage, während die Franzosen im ausgebrannten Moskau um die Weine, Juwelen und Seidenstoffe aus den Palästen des Adels stritten, statt sich mit warmer Kleidung einzudecken und ihre Pferde mit rutschfesten Hufeisen zu beschlagen. Mehr als vom Gegner wurde die Grande Armée von ihrer eigenen Überheblichkeit bezwungen - und von den Illusionen Napoleons, der an den Friedenswillen des Zaren und an die Beständigkeit des schönen Wetters glaubte, bis es zu spät war.
Ob der Korse, wie Zamoyski etwas freihändig mutmaßt, an einem Versagen der Hypophyse litt, was sein Übergewicht und seine Lethargie erklären würde, oder ob er bloß vom dauernden Kriegführen genug hatte - jedenfalls war Napoleon in entscheidenden Momenten seines Feldzugs nicht auf dem Posten. Bei Borodino vergab er die Chance, die Armee Kutusows zu zerschlagen, in Moskau verschwand er wochenlang in der Versenkung, und auf dem Rückzug ließ er bei Krasny die Nachhut seines treuesten Gefolgsmanns Ney schmählich im Stich.
Dennoch gelang es den russischen Truppen nie, die Franzosen im offenen Gefecht zu besiegen. Beim Übergang über die Beresina, der bis heute als Inbild der französischen Niederlage gilt, zogen in Wahrheit die Russen den Kürzeren, weil sie die Chance verpassten, Napoleon und seine Marschälle gefangen zu nehmen. Für die Soldaten und Zivilisten, die auf den Pontonbrücken bei Studenka zertrampelt wurden oder im eisigen Fluss ertranken, war das kein Trost; aber es erklärt immerhin, warum Frankreich 1813 und 1814 jeweils seine letzten Reserven gegen die vereinigten Russen, Preußen und Österreicher mobilisierte, statt auf einen Verhandlungsfrieden zu hoffen.
Bis zu den Vernichtungsschlachten des 1. und 2. Weltkriegs, bis zu Stalingrad und der Somme war die Niederlage der Grande Armée der Inbegriff des militärischen Debakels - und ein Lehrstück darüber, "wie Hybris am Ende von ihrer Nemesis eingeholt wird" (Zamoyski). Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, das Ergebnis des Feldzugs der russischen Kriegskunst gutzuschreiben. Außer Leo Tolstoi: In "Krieg und Frieden" verwendet er einen beträchtlichen Teil seiner epischen Energie darauf, den Sieg über Napoleon auf die besonderen Eigenschaften des russischen Volkes und seines Feldherrn Kutusow zurückzuführen: seine Tapferkeit, sein Gottvertrauen, seine Fähigkeit, abzuwarten und den Winter die Arbeit des Tötens verrichten zu lassen. Bei Tolstoi ist Kutusow nicht der faule, verlotterte Weiberheld, als den ihn seine Untergebenen stets dargestellt haben, sondern der Russe schlechthin.
Langer, bitterer Sieg
Das alles, sagt jetzt Dominic Lieven, Professor für russische Geschichte in London, ist reine Erfindung. Ja, mehr noch: Es ist heillos verkürzt! Denn der "lange, bittere, aber am Ende siegreiche Weg von Wilna im Dezember 1812 bis nach Paris im März 1814" spiele bei Tolstoi keine Rolle. Um diesen Gedanken näher auszuführen, hat sich Lieven in das zaristische Militärwesen des frühen 19. Jahrhunderts vertieft, die Schlachtfelder von Borodino, Großgörschen, Bautzen, Kulm und Leipzig persönlich abgelaufen und ein weiteres 700-Seiten-Buch geschrieben, das von Details zu Gefechtsverläufen und Charakterbildern russischer Granden strotzt (wobei ihm dennoch die von Zamoyski gelieferte Pointe entgeht, dass Rostoptschin, der fanatisch antifranzösische Gouverneur von Moskau, in seiner Toilette eine Bronzebüste von Napoleon stehen hatte, die "niedrigsten Funktionen" diente, sprich: als Klobürste in Gebrauch war).
Alexander I., der russische Zar, so Lievens These, hat Napoleon nicht zufällig besiegt, er hatte einen großen Plan. Das klingt zunächst plausibel oder wenigstens interessant, aber je mehr das Buch voranschreitet, desto deutlicher merkt man, dass sein Autor einer Einbildung aufgesessen ist. Denn Alexander wollte, wie jeder absolutistische Herrscher, vor allem seinen Thron retten, und als sich ihm nach 1812 die Gelegenheit bot, im Verein mit den Herrschern Preußens und Österreichs die Spuren der Französischen Revolution in Europa zu tilgen, hat er sie ergriffen. Weil aber die These nicht greift, hängen auch Lievens Kriegsschilderungen in der Luft; ihre besseren Passagen kann man als Fortsetzung zu Zamoyskis Erzählung lesen, ihre schlechteren muss man überspringen.
Was also lernen wir aus dem Martyrium der Großen Armee, was feiern wir im Herbst 2012? Vielleicht nur die ewige Wahrheit des Satzes, den Napoleon nach seiner Rückkehr aus Russland gebetsmühlenartig wiederholte und als dessen Schöpfer er in die Sprüchesammlungen einging: "Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt." Dafür mussten Hunderttausende sterben. Die Geschichte besitzt einen Humor, an dem man erfrieren kann.
ANDREAS KILB
Adam Zamoyski: "1812. Napoleons Feldzug in Russland". Aus dem Englischen von Ruth Keen, Verlag C. H. Beck, 720 Seiten, 29,95 Euro. Dominic Lieven: "Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa". Aus dem Englischen von Helmut Ettinger, Bertelsmann-Verlag, 763 Seiten, 34 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Meisterstück der Geschichtsschreibung", verkündet Rezensent Cord Aschenbrenner und stimmt damit in die Hymne der bisherigen Rezensenten ein. Wie Adam Zamoyski hier die Machtpolitik Frankreichs und Russlands aus Sicht beider Länder beschreibt, wie er zugleich den Krieg aus der Perspektive von oben (Generäle) und unten (einfache Soldaten) beschreibt, das ringt dem Rezensenten höchste Bewunderung ab. Er mochte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, was nicht zuletzt auch am "sprachlichen Können" des polnisch-amerikanischen Historikers und seiner Übersetzer lag.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Längst ist der Londoner Historiker zum Meistererzähler für die Epoche avanciert. (...) der erste Band ist mit seinen Nahaufnahmenwohl der berührendste."
Spiegel
"Seit langer Zeit hat sich keine so glänzende historische Darstellung mehr auf eine deutsche Bestsellerliste verirrt."
Denis Scheck, Der Tagesspiegel, 3. Juni 2012
"Zamoyski verwebt die Unzahl persönlicher Tragödien und die fast unerträgliche Leidensgeschichte einer Armee zur meisterhaften Gesamtdarstellung."
hb, Wiener Zeitung, 22. Mai 2012
"Was von nationalen Geschichtsschreibungen lange mystifiziert und verbogen wurde, rückt Adam Zamoyski gerade. '1812' ist ein großes Werk, unbestechlich im Urteil und unübertrefflich in der Darbietung."
Günter Müchler, Deutschlandfunk, 20. Februar 2012
"Vor allem (...) erzählt er mit einer literarischen Intensität vom Schicksal der einfachen Soldaten, die einem beim Lesen schier das Herz zerreißt."
Pallasch, September 2012
"Es dürfte auf lange Sicht das Standardwerk zum Krieg von 1812 bleiben."
Klaus-Jürgen Bremm, literaturkritik.de, August 2012
Spiegel
"Seit langer Zeit hat sich keine so glänzende historische Darstellung mehr auf eine deutsche Bestsellerliste verirrt."
Denis Scheck, Der Tagesspiegel, 3. Juni 2012
"Zamoyski verwebt die Unzahl persönlicher Tragödien und die fast unerträgliche Leidensgeschichte einer Armee zur meisterhaften Gesamtdarstellung."
hb, Wiener Zeitung, 22. Mai 2012
"Was von nationalen Geschichtsschreibungen lange mystifiziert und verbogen wurde, rückt Adam Zamoyski gerade. '1812' ist ein großes Werk, unbestechlich im Urteil und unübertrefflich in der Darbietung."
Günter Müchler, Deutschlandfunk, 20. Februar 2012
"Vor allem (...) erzählt er mit einer literarischen Intensität vom Schicksal der einfachen Soldaten, die einem beim Lesen schier das Herz zerreißt."
Pallasch, September 2012
"Es dürfte auf lange Sicht das Standardwerk zum Krieg von 1812 bleiben."
Klaus-Jürgen Bremm, literaturkritik.de, August 2012