Produktdetails
- Verlag: Fischer, S
- ISBN-13: 9783100506061
- ISBN-10: 3100506065
- Artikelnr.: 24287895
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Im Märzsturm der Bauer
Europas Eruption nach W. J. Mommsen / Von Gerd Roellecke
Die ungewollte Revolution" macht ähnlich verlegen wie "das ungewollte Kind". In beiden Fällen kann man sich schlecht vorstellen, wie das passieren konnte, und vermutet Peinliches. Bei Mommsen erscheinen die bürgerlichen Liberalen denn auch als Leute, die sich die Eigenständigkeit ihrer Entscheidungen gleichsam von den Konservativen bescheinigen lassen mußten. Kein Jubelbuch zur schwarzrotgoldenen Hundertfünfzigjahrfeier also. Aber wie sind die Liberalen zu ihrem Kind gekommen?
Mommsen will die Geschichte der deutschen Revolution neu erzählen und ihre europäische Vernetzung zeigen. Tatsächlich hat er die unendlich verschlungenen Fäden der politischen Bewegungen bis 1850 meisterlich entwirrt. Die Modernisierung der Wirtschaft - freier Markt und industrielle Produktion - verlangten von Arbeitern, Gesellen und Bauern Disziplin und eine neue Selbstverantwortung, die sie als so belastend empfinden mußten wie heute die Ostdeutschen die Marktwirtschaft. Deshalb sind sie nicht nur gegen Ungerechtigkeiten aufgestanden, sondern auch gegen die Modernisierung der Wirtschaft. Diese richtige Beobachtung paßt nicht ins revolutionäre Weltbild, stützt jedoch Mommsens These, die Liberalen hätten die Revolution zwar getragen, aber eigentlich nicht gewollt.
Die fortschrittlichen Unternehmer mußten den Traditionalismus der Massen in der Tat als unvernünftigen Widerstand verstehen und dem "Pöbel" tief mißtrauen. Das würde auch den Kompromiß der Liberalen mit den Konservativen erklären: das Votum für die konstitutionelle Monarchie. Mit den Fürsten ließ sich besser Geschäfte machen als mit den Massen. Mommsen teilt allerdings die Annahme der Radikalen, "daß mit den dynastischen Gewalten Kompromisse auf die Dauer aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreichbar sein würden".
Die drei großen politischen Richtungen beschreibt er bestechend klar. Vor 1848 standen die Konservativen hinter den Fürsten und ihren Regierungen. Die Liberalen und die Radikalen waren in der Opposition, freilich mit unterschiedlichen Konzepten. Zwar wollten beide Volksvertretungen die nationale Einheit, aber die Liberalen mit den Fürsten, die Radikalen ohne die Fürsten. Die Notwendigkeit, zwischen den Revolutionären noch einmal auf der Basis von Regierung und Opposition zu unterscheiden, sorgt bis heute für Verwirrung. Die Liberalen wurden immer so, die Radikalen werden heute häufig "Demokraten" genannt. Demokraten waren die Liberalen indessen auch. Mommsen entscheidet sich für "radikale Demokraten". Ihnen gehört seine Sympathie, aber nicht sein unbestechlicher Blick.
Ganz selten wirkt er auf dem linken Auge etwas kurzsichtig. So etwa, als es in der Paulskirche um die Frage ging, ob das preußisch beherrschte Posen, in dem viele Deutsche wohnten, zum neuen Reich oder zu einem selbständigen Polen gehören sollte. Für die Selbständigkeit Polens einzutreten war natürlich gerecht und moralisch. Aber wenn Mommsen den Gegnern der linken Polen-Begeisterung vorhält, sie hätten keines der landläufigen Polen-Klischees ausgelassen, ist er nicht konsequent. Die Gegner hätten sich auf Mommsens klarsichtige Analyse der nationalen Bewegungen nach 1830 berufen können: In Polen ging es um die Vorherrschaft des grundbesitzenden alten Adels, weshalb die Bauern die polnische Nationalbewegung auch nur lau unterstützten. In seiner Gesamtwürdigung macht Mommsen eindrucksvoll deutlich, daß die Revolution von 1848 ein Moment in der Umstellung der gesamten europäischen Gesellschaft von einer feudalen zu einer liberalen Ordnung war.
Mommsens Darstellung ist eine um so größere Leistung, als seine theoretischen Sonden alles andere als zuverlässig sind. Das beginnt beim Revolutionsbegriff. "Ein entschlossener Übergang zu einem konstitutionellen Regiment gemäß den liberalen Vorstellungen", schreibt er, "hätte Preußen resistent gegen revolutionäre Entwicklungen gemacht." Stimmt, aber nur so, wie man keine Pocken mehr bekommt, wenn man einmal welche gehabt hat. Der "Übergang zu einem konstitutionellen Regiment" wäre schon die Revolution gewesen, weil er die Legitimationsgrundlagen der Politik ausgetauscht hätte. Für Mommsen gehört zur Revolution allerdings so etwas wie ein Druck der Massen. Dieser Ansicht kann man sein. Nur muß man dann den revolutionären Druck von unpolitischen Massenhysterien abgrenzen können. Dafür fehlt es Mommsen jedoch an Begriffen. Das soziologisch klingende Vokabular, das er verwendet, ist scheinpräzise und orientiert sich in Wirklichkeit an der feudalistischen Unterscheidung zwischen Adel, Bürgern und Bauern. "Unterbürgerlich" ist seine Lieblingskategorie. Einige Male kommt auch "unterbäuerlich" vor. Wie leer diese Worte sind, erkennt man, wenn man das Bürgertum "unteradlig" nennt.
Eine theoretische Strukturierung dessen, was Mommsen für revolutionäres Potential hält, wäre um so notwendiger gewesen, als er treffend betont, die "Unterschichten" hätten häufig altständische Fürsorgeforderungen erhoben. Solche Forderungen konnte niemand mehr erfüllen. Waren die Massen also revolutionär oder reaktionär? Mommsen deckt den Unterschied mit "sozialem Protest" zu und schreibt: "Die Protesthaltung der unterbürgerlichen Schichten . . . verlieh der Politik des bürgerlichen Liberalismus . . . großenteils ihre Schubkraft."
Daß die Märzstürme von 1848 der Massen bedurften, ist natürlich richtig, gilt aber für alle Stürme. Wie war das Verhältnis zwischen den "Bürgerlichen" und den "Unterbürgerlichen"? Waren die "Bürgerlichen" Trittbrettfahrer, oder haben sie den "Unterbürgerlichen" die Richtung gewiesen? Woher nahmen die "Unterbürgerlichen" den Mut zum Protest, und warum verließ er sie wieder? Mommsen hat die Geschichte der Revolution glänzend erzählt, aber nicht so viel erklärt, wie der Titel seines Buches verspricht.
Wolfgang J. Mommsen: "1848 - Die ungewollte Revolution". Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830-1849. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 334 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Europas Eruption nach W. J. Mommsen / Von Gerd Roellecke
Die ungewollte Revolution" macht ähnlich verlegen wie "das ungewollte Kind". In beiden Fällen kann man sich schlecht vorstellen, wie das passieren konnte, und vermutet Peinliches. Bei Mommsen erscheinen die bürgerlichen Liberalen denn auch als Leute, die sich die Eigenständigkeit ihrer Entscheidungen gleichsam von den Konservativen bescheinigen lassen mußten. Kein Jubelbuch zur schwarzrotgoldenen Hundertfünfzigjahrfeier also. Aber wie sind die Liberalen zu ihrem Kind gekommen?
Mommsen will die Geschichte der deutschen Revolution neu erzählen und ihre europäische Vernetzung zeigen. Tatsächlich hat er die unendlich verschlungenen Fäden der politischen Bewegungen bis 1850 meisterlich entwirrt. Die Modernisierung der Wirtschaft - freier Markt und industrielle Produktion - verlangten von Arbeitern, Gesellen und Bauern Disziplin und eine neue Selbstverantwortung, die sie als so belastend empfinden mußten wie heute die Ostdeutschen die Marktwirtschaft. Deshalb sind sie nicht nur gegen Ungerechtigkeiten aufgestanden, sondern auch gegen die Modernisierung der Wirtschaft. Diese richtige Beobachtung paßt nicht ins revolutionäre Weltbild, stützt jedoch Mommsens These, die Liberalen hätten die Revolution zwar getragen, aber eigentlich nicht gewollt.
Die fortschrittlichen Unternehmer mußten den Traditionalismus der Massen in der Tat als unvernünftigen Widerstand verstehen und dem "Pöbel" tief mißtrauen. Das würde auch den Kompromiß der Liberalen mit den Konservativen erklären: das Votum für die konstitutionelle Monarchie. Mit den Fürsten ließ sich besser Geschäfte machen als mit den Massen. Mommsen teilt allerdings die Annahme der Radikalen, "daß mit den dynastischen Gewalten Kompromisse auf die Dauer aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreichbar sein würden".
Die drei großen politischen Richtungen beschreibt er bestechend klar. Vor 1848 standen die Konservativen hinter den Fürsten und ihren Regierungen. Die Liberalen und die Radikalen waren in der Opposition, freilich mit unterschiedlichen Konzepten. Zwar wollten beide Volksvertretungen die nationale Einheit, aber die Liberalen mit den Fürsten, die Radikalen ohne die Fürsten. Die Notwendigkeit, zwischen den Revolutionären noch einmal auf der Basis von Regierung und Opposition zu unterscheiden, sorgt bis heute für Verwirrung. Die Liberalen wurden immer so, die Radikalen werden heute häufig "Demokraten" genannt. Demokraten waren die Liberalen indessen auch. Mommsen entscheidet sich für "radikale Demokraten". Ihnen gehört seine Sympathie, aber nicht sein unbestechlicher Blick.
Ganz selten wirkt er auf dem linken Auge etwas kurzsichtig. So etwa, als es in der Paulskirche um die Frage ging, ob das preußisch beherrschte Posen, in dem viele Deutsche wohnten, zum neuen Reich oder zu einem selbständigen Polen gehören sollte. Für die Selbständigkeit Polens einzutreten war natürlich gerecht und moralisch. Aber wenn Mommsen den Gegnern der linken Polen-Begeisterung vorhält, sie hätten keines der landläufigen Polen-Klischees ausgelassen, ist er nicht konsequent. Die Gegner hätten sich auf Mommsens klarsichtige Analyse der nationalen Bewegungen nach 1830 berufen können: In Polen ging es um die Vorherrschaft des grundbesitzenden alten Adels, weshalb die Bauern die polnische Nationalbewegung auch nur lau unterstützten. In seiner Gesamtwürdigung macht Mommsen eindrucksvoll deutlich, daß die Revolution von 1848 ein Moment in der Umstellung der gesamten europäischen Gesellschaft von einer feudalen zu einer liberalen Ordnung war.
Mommsens Darstellung ist eine um so größere Leistung, als seine theoretischen Sonden alles andere als zuverlässig sind. Das beginnt beim Revolutionsbegriff. "Ein entschlossener Übergang zu einem konstitutionellen Regiment gemäß den liberalen Vorstellungen", schreibt er, "hätte Preußen resistent gegen revolutionäre Entwicklungen gemacht." Stimmt, aber nur so, wie man keine Pocken mehr bekommt, wenn man einmal welche gehabt hat. Der "Übergang zu einem konstitutionellen Regiment" wäre schon die Revolution gewesen, weil er die Legitimationsgrundlagen der Politik ausgetauscht hätte. Für Mommsen gehört zur Revolution allerdings so etwas wie ein Druck der Massen. Dieser Ansicht kann man sein. Nur muß man dann den revolutionären Druck von unpolitischen Massenhysterien abgrenzen können. Dafür fehlt es Mommsen jedoch an Begriffen. Das soziologisch klingende Vokabular, das er verwendet, ist scheinpräzise und orientiert sich in Wirklichkeit an der feudalistischen Unterscheidung zwischen Adel, Bürgern und Bauern. "Unterbürgerlich" ist seine Lieblingskategorie. Einige Male kommt auch "unterbäuerlich" vor. Wie leer diese Worte sind, erkennt man, wenn man das Bürgertum "unteradlig" nennt.
Eine theoretische Strukturierung dessen, was Mommsen für revolutionäres Potential hält, wäre um so notwendiger gewesen, als er treffend betont, die "Unterschichten" hätten häufig altständische Fürsorgeforderungen erhoben. Solche Forderungen konnte niemand mehr erfüllen. Waren die Massen also revolutionär oder reaktionär? Mommsen deckt den Unterschied mit "sozialem Protest" zu und schreibt: "Die Protesthaltung der unterbürgerlichen Schichten . . . verlieh der Politik des bürgerlichen Liberalismus . . . großenteils ihre Schubkraft."
Daß die Märzstürme von 1848 der Massen bedurften, ist natürlich richtig, gilt aber für alle Stürme. Wie war das Verhältnis zwischen den "Bürgerlichen" und den "Unterbürgerlichen"? Waren die "Bürgerlichen" Trittbrettfahrer, oder haben sie den "Unterbürgerlichen" die Richtung gewiesen? Woher nahmen die "Unterbürgerlichen" den Mut zum Protest, und warum verließ er sie wieder? Mommsen hat die Geschichte der Revolution glänzend erzählt, aber nicht so viel erklärt, wie der Titel seines Buches verspricht.
Wolfgang J. Mommsen: "1848 - Die ungewollte Revolution". Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830-1849. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 334 S., geb., 39,80 DM.
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