Im Jahr 1857 kommt es zu einem verstörenden Zusammentreffen, denn drei ganz unterschiedliche Meisterwerke der Moderne erscheinen: Flauberts »Madame Bovary«, Baudelaires »Les Fleurs du Mal« und Stifters »Nachsommer«. Wolfgang Matz geht in seiner originellen Studie der Frage nach, wie in demselben historischen Augenblick drei verschiedene Autoren zu ihrem Werk finden, und wie drei verschiedene Bücher auf diesen Augenblick antworten. In seiner Darstellung, die Biographie und Ästhetik überblendet und in Nietzsche mündet, wird 1857 zu einem Schlüsseljahr der Moderne, gerade weil es so unterschiedliche ästhetische Konzepte hervorbrachte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2007In Linz beginnt's
Der dritte Mann: Wolfgang Matz ruft Kronzeugen der Moderne auf
Was ist die literarische Moderne? Und mit wem begann sie? Mit Baudelaire und Flaubert natürlich. Wolfgang Matz hat noch einen Dritten aufgetrieben, den bislang nur Nietzsche auf der Rechnung hatte: Stifter.
Modern konnte man schon in der Spätantike sein, wenn man sich von der Kultur der Älteren absetzen wollte. Ein regelrechtes Epochenbewusstsein wurde an den Begriff jedoch erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts geknüpft. Seither mangelt es nicht an Versuchen, "die Moderne" anhand literarischer Wegmarken zu datieren und ihren Beginn zwischen der entgrenzenden Romantik und dem wissenschaftlichen Naturalismus anzusiedeln.
Der Münchner Übersetzer und Publizist Wolfgang Matz hat sich jetzt entschlossen, den 150. Geburtstag der Moderne zu feiern, und beruft sich dabei auf das gemeinsame Erscheinungsjahr von Flauberts "Madame Bovary" und Baudelaires Gedichtband "Les Fleurs du mal". Matz nimmt noch Stifters "Nachsommer" (ebenfalls 1857) hinzu, der von der Initiation eines jungen Mannes in ein durch Bildung und Liebe geordnetes Leben berichtet - ein Überraschungscoup, weil Stifters Roman zwar zum europäischen Kanon zählt, aber als Portaltext der Moderne bislang kaum auffällig war.
Es empfiehlt sich, mit der Lektüre hinten anzufangen. Am Ende präsentiert Matz seinen Gewährsmann: Nietzsche hatte in "Menschliches, Allzumenschliches", direkt nach dem Deutsch-Französischen Krieg, den eminenten Einfluss Flauberts und Baudelaires auf die Dichtkunst der Gegenwart geltend gemacht und Stifter als einen der wenigen genannt, die in der deutschsprachigen Literatur fortdauernde Lektüre verdienten. Auch das entbehrte nicht der Provokation, war Stifter doch von der Kritik ins biedermeierliche Abseits gestellt worden.
Inspiriert von Nietzsches Prophetie, hat Matz den Autoren drei umfangreiche Kapitel gewidmet, in denen Werk und Vita in eine Dynamik gestellt werden, die geradezu zwangsläufig 1857 kulminiert - und schon um sich diesem teleologischen Sog zu entziehen, ist der Leser gut beraten, seine Lektüre rückwärts fortzusetzen. Da die Modernität Flauberts und Baudelaires inzwischen nicht mehr bewiesen, sondern allenfalls in Zitaten und Anekdoten lebendig gehalten werden muss, liegt das eigentliche Augenmerk der Monographie auf Stifter, als dessen Biograph der Autor bereits 1995 hervorgetreten ist.
Nun scheint er angetreten zu sein, um Stifters Selbstbild als "Nachgeborener", als nicht mehr in die Zeit Passender, zu korrigieren: An seiner Person interessiert ihn der Kontakt mit der "düsteren Großstadt" Wien, wo man mit Polizei und Prostitution fast so einfach in Kontakt kommen konnte wie in Paris; der Kampf gegen die christlich-moralischen Zwänge der dominierenden Kunstauffassung sowie die Nähe seines Erzählens zur französischen Tradition der Sittengeschichte. Im "Nachsommer" spürt er nicht mehr den Elementen des Bildungsromans nach, sondern der Melancholie als ihrem Subtext - einem Motiv also, dem Emma Bovary ebenso einprägsam verfallen war wie der Dichter des Spleen; statt der vielgeschmähten Handlungsarmut rücken die "Registrierung des Jetzt" und die Artifizialität des Sprachkunstwerks in den Mittelpunkt. Nun ist bekannt, dass der Liberale Stifter nach den ersten Kämpfen von 1848 ins ruhigere Linz zog und dort das "sanfte Gesetz" und "sittliche Offenbarung" zur pädagogischen Pflicht seines Schaffens erklärte - ein Ausweis von Modernität? Durchaus, meint Matz und führt den Leser zu überzeugenden Parallelstellen aus Frankreich. Denn in den voranstehenden Kapiteln zu Flaubert und Baudelaire macht er deutlich, dass diese eben gerade nicht durch Konformität mit ihrer Zeit Epoche machten, sondern durch erbitterte Renitenz gegen sie. Die Garantie ihrer Progressivität lag just in ihrer vehementen Fortschrittskritik, ihre Texte waren explizite Gegenbewegungen gegen die technischen und politischen Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts, das sie als Bedrohung empfanden. Moderne und Antimoderne konnten durchaus koexistieren: "Baudelaire war der Propagandist einer Kunst des modernen Lebens, er war nicht der Propagandist dieses modernen Lebens selbst."
Beim Durchgang durch die literarische Biographie der Franzosen legt Matz das Augenmerk auf "rückwärtsgewandte Impulse" und besonders auf den "ennui", in dem sich Langeweile, Melancholie und Abkehr vom ekelerregenden Alltag trafen. Selbst Antriebe wie Eros und Sexus erschienen den von ihm Befallenen als fade Nichtigkeiten einer abgestandenen Romantik. Um sich und die Kunst zu retten, floh man in die Arbeit am Stil und an der Stilisierung seiner selbst, wohl wissend, dass es um den Ruhm in der Nachwelt ging.
Von den Zeitgenossen sahen sie sich zu Recht missverstanden: Flaubert musste sich wegen Beleidigung von Moral und Religion vor Gericht verantworten, kam allerdings ungeschoren davon; Baudelaire wurde aus den gleichen Gründen angezeigt, musste eine Geldstrafe bezahlen und auf den Abdruck von sechs Gedichten verzichten. Letztlich geriet bei beiden der wertungslose Standpunkt der literarischen Darbietung zum Skandal und damit ebenjenes Prinzip, das ihren Erfolg als Vorreiter der Moderne ausmachte. Stifter wurde der Prozess von der Kritik gemacht, weil der "Nachsommer", gemessen an den Kriterien des Realismus, zu wirklichkeitsfremd wirken musste. Dass Stifter in der Hinwendung seines Helden zur Botanik und Geologie ein Manifest der Zeitkritik hinterlassen hatte, blieb vorerst ebenso unbemerkt wie die Tatsache, dass er die Langeweile des lernenden Wartens und der familiären Rituale in seinem Roman als Nobilitierung des Sinnhaften gegenüber modischen Zeitläuften konzipiert hatte.
Die partiellen Affinitäten, die den Zweiundfünfzigjährigen mit den beiden Sechsunddreißigjährigen aus Paris verbanden, blieben aber auch ihm selbst verborgen: Die geographische und kulturelle Distanz, die zwischen den Modernen lag, überwanden sie weder als Reisende noch als Lesende. Die Verbindung Paris-Linz, die Matz im ansonsten recht farblos bleibenden Jahr 1857 herstellen will, funktioniert nur über eine nachträgliche Modernisierung Stifters. Andersherum wäre es mehr als abwegig, die Modernität Flauberts oder Baudelaires mit Parallelen zu Stifter begründen zu wollen. Die französische Dominanz in der Konstituierung der Moderne fällt auf und gibt zu denken. Während "Les Fleurs du mal" und "Madame Bovary" schon im neunzehnten Jahrhundert auch auf Deutsch vorlagen, erschien die erste französische Übersetzung des "Nachsommers" im Jahr 2000.
ROMAN LUCKSCHEITER
Wolfgang Matz: "1857". Flaubert, Baudelaire, Stifter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 432 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der dritte Mann: Wolfgang Matz ruft Kronzeugen der Moderne auf
Was ist die literarische Moderne? Und mit wem begann sie? Mit Baudelaire und Flaubert natürlich. Wolfgang Matz hat noch einen Dritten aufgetrieben, den bislang nur Nietzsche auf der Rechnung hatte: Stifter.
Modern konnte man schon in der Spätantike sein, wenn man sich von der Kultur der Älteren absetzen wollte. Ein regelrechtes Epochenbewusstsein wurde an den Begriff jedoch erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts geknüpft. Seither mangelt es nicht an Versuchen, "die Moderne" anhand literarischer Wegmarken zu datieren und ihren Beginn zwischen der entgrenzenden Romantik und dem wissenschaftlichen Naturalismus anzusiedeln.
Der Münchner Übersetzer und Publizist Wolfgang Matz hat sich jetzt entschlossen, den 150. Geburtstag der Moderne zu feiern, und beruft sich dabei auf das gemeinsame Erscheinungsjahr von Flauberts "Madame Bovary" und Baudelaires Gedichtband "Les Fleurs du mal". Matz nimmt noch Stifters "Nachsommer" (ebenfalls 1857) hinzu, der von der Initiation eines jungen Mannes in ein durch Bildung und Liebe geordnetes Leben berichtet - ein Überraschungscoup, weil Stifters Roman zwar zum europäischen Kanon zählt, aber als Portaltext der Moderne bislang kaum auffällig war.
Es empfiehlt sich, mit der Lektüre hinten anzufangen. Am Ende präsentiert Matz seinen Gewährsmann: Nietzsche hatte in "Menschliches, Allzumenschliches", direkt nach dem Deutsch-Französischen Krieg, den eminenten Einfluss Flauberts und Baudelaires auf die Dichtkunst der Gegenwart geltend gemacht und Stifter als einen der wenigen genannt, die in der deutschsprachigen Literatur fortdauernde Lektüre verdienten. Auch das entbehrte nicht der Provokation, war Stifter doch von der Kritik ins biedermeierliche Abseits gestellt worden.
Inspiriert von Nietzsches Prophetie, hat Matz den Autoren drei umfangreiche Kapitel gewidmet, in denen Werk und Vita in eine Dynamik gestellt werden, die geradezu zwangsläufig 1857 kulminiert - und schon um sich diesem teleologischen Sog zu entziehen, ist der Leser gut beraten, seine Lektüre rückwärts fortzusetzen. Da die Modernität Flauberts und Baudelaires inzwischen nicht mehr bewiesen, sondern allenfalls in Zitaten und Anekdoten lebendig gehalten werden muss, liegt das eigentliche Augenmerk der Monographie auf Stifter, als dessen Biograph der Autor bereits 1995 hervorgetreten ist.
Nun scheint er angetreten zu sein, um Stifters Selbstbild als "Nachgeborener", als nicht mehr in die Zeit Passender, zu korrigieren: An seiner Person interessiert ihn der Kontakt mit der "düsteren Großstadt" Wien, wo man mit Polizei und Prostitution fast so einfach in Kontakt kommen konnte wie in Paris; der Kampf gegen die christlich-moralischen Zwänge der dominierenden Kunstauffassung sowie die Nähe seines Erzählens zur französischen Tradition der Sittengeschichte. Im "Nachsommer" spürt er nicht mehr den Elementen des Bildungsromans nach, sondern der Melancholie als ihrem Subtext - einem Motiv also, dem Emma Bovary ebenso einprägsam verfallen war wie der Dichter des Spleen; statt der vielgeschmähten Handlungsarmut rücken die "Registrierung des Jetzt" und die Artifizialität des Sprachkunstwerks in den Mittelpunkt. Nun ist bekannt, dass der Liberale Stifter nach den ersten Kämpfen von 1848 ins ruhigere Linz zog und dort das "sanfte Gesetz" und "sittliche Offenbarung" zur pädagogischen Pflicht seines Schaffens erklärte - ein Ausweis von Modernität? Durchaus, meint Matz und führt den Leser zu überzeugenden Parallelstellen aus Frankreich. Denn in den voranstehenden Kapiteln zu Flaubert und Baudelaire macht er deutlich, dass diese eben gerade nicht durch Konformität mit ihrer Zeit Epoche machten, sondern durch erbitterte Renitenz gegen sie. Die Garantie ihrer Progressivität lag just in ihrer vehementen Fortschrittskritik, ihre Texte waren explizite Gegenbewegungen gegen die technischen und politischen Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts, das sie als Bedrohung empfanden. Moderne und Antimoderne konnten durchaus koexistieren: "Baudelaire war der Propagandist einer Kunst des modernen Lebens, er war nicht der Propagandist dieses modernen Lebens selbst."
Beim Durchgang durch die literarische Biographie der Franzosen legt Matz das Augenmerk auf "rückwärtsgewandte Impulse" und besonders auf den "ennui", in dem sich Langeweile, Melancholie und Abkehr vom ekelerregenden Alltag trafen. Selbst Antriebe wie Eros und Sexus erschienen den von ihm Befallenen als fade Nichtigkeiten einer abgestandenen Romantik. Um sich und die Kunst zu retten, floh man in die Arbeit am Stil und an der Stilisierung seiner selbst, wohl wissend, dass es um den Ruhm in der Nachwelt ging.
Von den Zeitgenossen sahen sie sich zu Recht missverstanden: Flaubert musste sich wegen Beleidigung von Moral und Religion vor Gericht verantworten, kam allerdings ungeschoren davon; Baudelaire wurde aus den gleichen Gründen angezeigt, musste eine Geldstrafe bezahlen und auf den Abdruck von sechs Gedichten verzichten. Letztlich geriet bei beiden der wertungslose Standpunkt der literarischen Darbietung zum Skandal und damit ebenjenes Prinzip, das ihren Erfolg als Vorreiter der Moderne ausmachte. Stifter wurde der Prozess von der Kritik gemacht, weil der "Nachsommer", gemessen an den Kriterien des Realismus, zu wirklichkeitsfremd wirken musste. Dass Stifter in der Hinwendung seines Helden zur Botanik und Geologie ein Manifest der Zeitkritik hinterlassen hatte, blieb vorerst ebenso unbemerkt wie die Tatsache, dass er die Langeweile des lernenden Wartens und der familiären Rituale in seinem Roman als Nobilitierung des Sinnhaften gegenüber modischen Zeitläuften konzipiert hatte.
Die partiellen Affinitäten, die den Zweiundfünfzigjährigen mit den beiden Sechsunddreißigjährigen aus Paris verbanden, blieben aber auch ihm selbst verborgen: Die geographische und kulturelle Distanz, die zwischen den Modernen lag, überwanden sie weder als Reisende noch als Lesende. Die Verbindung Paris-Linz, die Matz im ansonsten recht farblos bleibenden Jahr 1857 herstellen will, funktioniert nur über eine nachträgliche Modernisierung Stifters. Andersherum wäre es mehr als abwegig, die Modernität Flauberts oder Baudelaires mit Parallelen zu Stifter begründen zu wollen. Die französische Dominanz in der Konstituierung der Moderne fällt auf und gibt zu denken. Während "Les Fleurs du mal" und "Madame Bovary" schon im neunzehnten Jahrhundert auch auf Deutsch vorlagen, erschien die erste französische Übersetzung des "Nachsommers" im Jahr 2000.
ROMAN LUCKSCHEITER
Wolfgang Matz: "1857". Flaubert, Baudelaire, Stifter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 432 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2007Bösen Engeln will ich gleichen
Flaubert, Baudelaire, Stifter: Wolfgang Matz liest die großen Bücher des Jahres 1857
Es gibt im Feld der Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung Bücher, deren Reichtum und Gedankendichte aus der Energie erwachsen, mit der sie ein unerreichbares Ziel verfolgen. Der Übersetzer, Autor und Lektor Wolfgang Matz hat jetzt ein solches Buch geschrieben. Es heißt „1857”, und sein Untertitel – „Flaubert, Baudelaire, Stifter” – will nicht als schlichte Reihung von Autorennamen gelesen werden. Er verspricht die Entfaltung einer historischen Konstellation: Im Jahr 1857 erschienen in Paris Gustave Flauberts Roman „Madame Bovary”, Charles Baudelaires Gedichtband „Fleurs du Mal” und im ungarischen Pest Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer”.
Dass die Jahreszahl 1857 diese drei Werke verbindet, sagt Wolfgang Matz, mag damals Zufall gewesen sein – im Rückblick lässt sich aus dem zufälligen Datum der doppelte Ursprung der literarischen Moderne herauslesen. Sie war nicht nur ein Kind der französischen Literatur, die auf dem Weg von Stendhal zu Balzac die napoleonische Welt verließ, die mehr und mehr die Großstadt, die technisch-industrielle Zivilisation, die dämonischen Seiten der Zirkulation und des Geldes, des Finanz- und Kreditwesens entdeckte – und ein Provinzleben, zu dessen a priori die Existenz der Metropole gehörte. Nein, die literarische Moderne hatte neben ihrer Hauptstadt Paris eine zweite Heimat: die deutschsprachige Literatur nach Goethe.
Stifters „Nachsommer”, so will Matz zeigen, war kein epigonaler Nachzügler des Bildungsromans aus dem 18. Jahrhundert. Er war nicht anders als der Roman Flauberts und die Lyrik Baudelaires ein Kind der sozialen und technischen Modernisierung, und er gewann wie die Werke der Franzosen seine Modernität aus der polemischen Konsequenz, mit der er das Unbehagen des 19. Jahrhunderts an sich selbst zum Ausdruck brachte. In Stifters „Nachsommer” treibt dieses Unbehagen den Roman in eine hermetische Künstlichkeit, die sich ihrer selbst bewusst ist, und den Helden in künstliche Paradiese, die schaudern machen und denen der Franzosen ebenbürtig ist.
Es ist unschwer zu erkennen, wer bei dieser Verwandlung des Zufallsdatums 1857 in eine symbolische Chiffre die Hauptlast der These trägt: Adalbert Stifter. Denn während Flaubert und Baudelaire seit 150 Jahren als Heroen jener „modernité” gelten, deren Begriff Baudelaire selbst 1863 auf Zeitungspapier im Essay über Constantin Guys als „peintre de la vie moderne” entwickelte, spielt in der Wirkungsgeschichte Stifters ein ganz anderer Begriff die Hauptrolle: Biedermeier. Das weiß Wolfgang Matz, und er ist gut gerüstet, die Bindung Stifters an ein idyllisierendes, um die Klischees bürgerlicher Behäbigkeit zentriertes Biedermeier-Bild zu lockern. Im Jahr 1995 hat er die Biographie „Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge” vorgelegt, im Jahre 2005 die Monographie „Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters”. In beiden Büchern versprechen die Titel nicht zu viel: Sie betreiben, was man die „Entharmlosung” Stifters nennen könnte. Und am Ende steht ein eindeutiger Befund: Das „sanfte Gesetz”, das Stifter propagierte, taugt als Generalschlüssel weder für sein Leben noch für sein Werk. Die Neigung zum Klassischen, Objektiven, Beruhigten, Gebändigten und Gemäßigten überwölbt den Abgrund seiner literarisch äußerst produktiven Obsession für das Motiv des vertanen Lebens.
Die in den letzten Jahrzehnten – nicht nur von Matz selbst, sondern auch von Essayisten wie Leopold Federmair („Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie”, 2005) vorangetriebene Entidyllisierung Stifters geht in „1857” ein: das Doppelleben, das der aus dem böhmischen Flecken Oberplan stammende Provinzler in der Großstadt Wien führt, in die er 1826 zum Jurastudium kommt; seine Lebens- und Liebesunordnung der dreißiger Jahre, die von der Goethe-Idolatrie verdeckte Befruchtung durch die Lektüren Jean Pauls, E.T.A. Hoffmanns, Ludwig Tiecks oder Achim von Arnims.
Nicht nur biographisch, sondern auch literarisch nähert Matz Stifter den Regionen des Unheimlichen an: die Erzählungen der vierziger Jahre – etwa „Der Hochwald”, „Der Waldgänger”, „Das alte Siegel” – erweisen sich als Vorschule des Unglücks, der Treulosigkeit, des Liebesverrats und der Einsamkeit. Und als unheimlich erweist sich auch der Reaktionär Stifter, der im Mai 1848 Wien für immer verlässt, sich vor den revolutionären Unruhen in die Provinzstadt Linz zurückzieht, dort Schulrat wird und den „Nachsommer” schreibt.
Welche Verbindungslinien führen von diesem Autor in Linz, den im Paris des Jahres 1857 niemand kennt und dessen „Nachsommer” erst im Jahr 2000 ins Französische übersetzt werden wird, in die Welt Flauberts und Baudelaires, und wie lassen sich diese Verbindungslinien sichtbar machen? Wolfgang Matz hat sich für eine Methode entschieden, die ihn ehrt, weil sie seiner These den denkbar größten Widerstand entgegensetzt. Er stellt gerade nicht, was leicht denkbar wäre, im „Nachsommer” diejenigen Motive heraus, von denen sich aus leicht Brücken nach Paris schlagen lassen.
Wenn in Stifters Roman über den Kupferstich als Reproduktionsmedium diskutiert oder die Gründung eines Kleidermuseums erwogen wird, ließen sich leicht Brücken zu den Kunstkritiken und Erörterungen der Mode schlagen, die bei Baudelaire hinter den „Fleurs du Mal” stehen. Und ebenso leicht ließe sich die Darstellung der Provinz in „Madame Bovary” aus der Perspektive der Langeweile vorstellen, die Generationen von Lesern über der im „Nachsommer” dargestellten Welt haben liegen sehen.
Es ist geradezu frappierend zu sehen, mit welcher Konsequenz Wolfgang Matz diese Methode einer vergleichenden Lektüre ausschlägt. Ja, wenn er die Begegnung Heinrichs mit der ihm noch unbekannten Natalie in der „King Lear”-Aufführung im „Nachsommer” interpretiert, dann beschreibt er zwar die Figur Stifters mit eben den Worten, mit denen Baudelaire im Gedicht „A une passante”
die aus dem Großstadtgewühl auftauchende anonyme Passantin beschreibt. Aber er lässt mit keinem Sterbenswörtchen verlauten, dass er hier eine Überblendung vornimmt und versagt sich jeden expliziten Vergleich zwischen der Romanpassage und dem Gedicht.
Und was im Detail gilt, gilt für das gesamte Buch. Seine These, „Madame Bovary”, die „Fleurs du Mal” und der „Nachsommer”, bildeten gemeinsam die Ursprungskonstellation der literarischen Moderne, führt es in strenger Trennung der Untersuchungsgegenstände vor. Drei große literarisch-biographische Porträts bilden das Zentrum des Buches: mit größtmöglichem Respekt vor ihrer jeweiligen Eigenart, nicht auf eine Schnittmenge des Gemeinsamen hin werden Flaubert, Baudelaire und Stifter darin dargestellt. Nie verliert Matz dabei seine These aus den Augen, aber sie wird durch diese Grundentscheidung zu einem Horizont, der immer da ist, aber nie erreichbar.
Gewiss, es gibt Analogien zwischen dem Hass und der Verachtung der bürgerlichen Gegenwart, die der Modernität Flauberts und Baudelaires den Charakter der Negation und Rebellion aufprägen, und Stifters Bildern der bedrohten Individualität und des Staatsdienstes. Aber diese Nähe wird vom Formgesetz und dem, was man das ästhetische Klima der Prosa im „Nachsommer”, nennen könnte, sogleich wieder in die Distanz gerückt. Der Begriff von Modernität, der für alle drei Autoren in gleicher Weise zuständig wäre, weicht zurück, während der Leser mit Matz auf ihn zuschreitet.
Ungeduldig wird der Leser dabei aber nicht. Denn die vielleicht dem Ethos des Lektors entspringende Treue zum Besonderen, mit der Matz die Werke seiner Protagonisten liest, trägt reiche Früchte. Man lese nur die subtilen Aufschlüsselungen der paradoxen Erzählerstimmen in „Madame Bovary” und im „Nachsommer” oder die Passagen, in denen Matz im Blick auf die „Fleurs du Mal” eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen dem Lob der modernen Lebens, das Baudelaires Freunde gern sangen, und dessen Lob der rücksichtslosen, großen Kunst. Wie gesagt: dem Zurückweichen des Horizonts, den es anstrebt, verdankt dieses Buch sein Gelingen.
LOTHAR MÜLLER
WOLFGANG MATZ: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 432 Seiten, 22,90 Euro.
Gustave Flaubert Foto: Roger–Viollet
Adalbert Stifter Foto: Scherl
Charles Baudelaire Foto: Roger–Viollet
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Flaubert, Baudelaire, Stifter: Wolfgang Matz liest die großen Bücher des Jahres 1857
Es gibt im Feld der Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung Bücher, deren Reichtum und Gedankendichte aus der Energie erwachsen, mit der sie ein unerreichbares Ziel verfolgen. Der Übersetzer, Autor und Lektor Wolfgang Matz hat jetzt ein solches Buch geschrieben. Es heißt „1857”, und sein Untertitel – „Flaubert, Baudelaire, Stifter” – will nicht als schlichte Reihung von Autorennamen gelesen werden. Er verspricht die Entfaltung einer historischen Konstellation: Im Jahr 1857 erschienen in Paris Gustave Flauberts Roman „Madame Bovary”, Charles Baudelaires Gedichtband „Fleurs du Mal” und im ungarischen Pest Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer”.
Dass die Jahreszahl 1857 diese drei Werke verbindet, sagt Wolfgang Matz, mag damals Zufall gewesen sein – im Rückblick lässt sich aus dem zufälligen Datum der doppelte Ursprung der literarischen Moderne herauslesen. Sie war nicht nur ein Kind der französischen Literatur, die auf dem Weg von Stendhal zu Balzac die napoleonische Welt verließ, die mehr und mehr die Großstadt, die technisch-industrielle Zivilisation, die dämonischen Seiten der Zirkulation und des Geldes, des Finanz- und Kreditwesens entdeckte – und ein Provinzleben, zu dessen a priori die Existenz der Metropole gehörte. Nein, die literarische Moderne hatte neben ihrer Hauptstadt Paris eine zweite Heimat: die deutschsprachige Literatur nach Goethe.
Stifters „Nachsommer”, so will Matz zeigen, war kein epigonaler Nachzügler des Bildungsromans aus dem 18. Jahrhundert. Er war nicht anders als der Roman Flauberts und die Lyrik Baudelaires ein Kind der sozialen und technischen Modernisierung, und er gewann wie die Werke der Franzosen seine Modernität aus der polemischen Konsequenz, mit der er das Unbehagen des 19. Jahrhunderts an sich selbst zum Ausdruck brachte. In Stifters „Nachsommer” treibt dieses Unbehagen den Roman in eine hermetische Künstlichkeit, die sich ihrer selbst bewusst ist, und den Helden in künstliche Paradiese, die schaudern machen und denen der Franzosen ebenbürtig ist.
Es ist unschwer zu erkennen, wer bei dieser Verwandlung des Zufallsdatums 1857 in eine symbolische Chiffre die Hauptlast der These trägt: Adalbert Stifter. Denn während Flaubert und Baudelaire seit 150 Jahren als Heroen jener „modernité” gelten, deren Begriff Baudelaire selbst 1863 auf Zeitungspapier im Essay über Constantin Guys als „peintre de la vie moderne” entwickelte, spielt in der Wirkungsgeschichte Stifters ein ganz anderer Begriff die Hauptrolle: Biedermeier. Das weiß Wolfgang Matz, und er ist gut gerüstet, die Bindung Stifters an ein idyllisierendes, um die Klischees bürgerlicher Behäbigkeit zentriertes Biedermeier-Bild zu lockern. Im Jahr 1995 hat er die Biographie „Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge” vorgelegt, im Jahre 2005 die Monographie „Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters”. In beiden Büchern versprechen die Titel nicht zu viel: Sie betreiben, was man die „Entharmlosung” Stifters nennen könnte. Und am Ende steht ein eindeutiger Befund: Das „sanfte Gesetz”, das Stifter propagierte, taugt als Generalschlüssel weder für sein Leben noch für sein Werk. Die Neigung zum Klassischen, Objektiven, Beruhigten, Gebändigten und Gemäßigten überwölbt den Abgrund seiner literarisch äußerst produktiven Obsession für das Motiv des vertanen Lebens.
Die in den letzten Jahrzehnten – nicht nur von Matz selbst, sondern auch von Essayisten wie Leopold Federmair („Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie”, 2005) vorangetriebene Entidyllisierung Stifters geht in „1857” ein: das Doppelleben, das der aus dem böhmischen Flecken Oberplan stammende Provinzler in der Großstadt Wien führt, in die er 1826 zum Jurastudium kommt; seine Lebens- und Liebesunordnung der dreißiger Jahre, die von der Goethe-Idolatrie verdeckte Befruchtung durch die Lektüren Jean Pauls, E.T.A. Hoffmanns, Ludwig Tiecks oder Achim von Arnims.
Nicht nur biographisch, sondern auch literarisch nähert Matz Stifter den Regionen des Unheimlichen an: die Erzählungen der vierziger Jahre – etwa „Der Hochwald”, „Der Waldgänger”, „Das alte Siegel” – erweisen sich als Vorschule des Unglücks, der Treulosigkeit, des Liebesverrats und der Einsamkeit. Und als unheimlich erweist sich auch der Reaktionär Stifter, der im Mai 1848 Wien für immer verlässt, sich vor den revolutionären Unruhen in die Provinzstadt Linz zurückzieht, dort Schulrat wird und den „Nachsommer” schreibt.
Welche Verbindungslinien führen von diesem Autor in Linz, den im Paris des Jahres 1857 niemand kennt und dessen „Nachsommer” erst im Jahr 2000 ins Französische übersetzt werden wird, in die Welt Flauberts und Baudelaires, und wie lassen sich diese Verbindungslinien sichtbar machen? Wolfgang Matz hat sich für eine Methode entschieden, die ihn ehrt, weil sie seiner These den denkbar größten Widerstand entgegensetzt. Er stellt gerade nicht, was leicht denkbar wäre, im „Nachsommer” diejenigen Motive heraus, von denen sich aus leicht Brücken nach Paris schlagen lassen.
Wenn in Stifters Roman über den Kupferstich als Reproduktionsmedium diskutiert oder die Gründung eines Kleidermuseums erwogen wird, ließen sich leicht Brücken zu den Kunstkritiken und Erörterungen der Mode schlagen, die bei Baudelaire hinter den „Fleurs du Mal” stehen. Und ebenso leicht ließe sich die Darstellung der Provinz in „Madame Bovary” aus der Perspektive der Langeweile vorstellen, die Generationen von Lesern über der im „Nachsommer” dargestellten Welt haben liegen sehen.
Es ist geradezu frappierend zu sehen, mit welcher Konsequenz Wolfgang Matz diese Methode einer vergleichenden Lektüre ausschlägt. Ja, wenn er die Begegnung Heinrichs mit der ihm noch unbekannten Natalie in der „King Lear”-Aufführung im „Nachsommer” interpretiert, dann beschreibt er zwar die Figur Stifters mit eben den Worten, mit denen Baudelaire im Gedicht „A une passante”
die aus dem Großstadtgewühl auftauchende anonyme Passantin beschreibt. Aber er lässt mit keinem Sterbenswörtchen verlauten, dass er hier eine Überblendung vornimmt und versagt sich jeden expliziten Vergleich zwischen der Romanpassage und dem Gedicht.
Und was im Detail gilt, gilt für das gesamte Buch. Seine These, „Madame Bovary”, die „Fleurs du Mal” und der „Nachsommer”, bildeten gemeinsam die Ursprungskonstellation der literarischen Moderne, führt es in strenger Trennung der Untersuchungsgegenstände vor. Drei große literarisch-biographische Porträts bilden das Zentrum des Buches: mit größtmöglichem Respekt vor ihrer jeweiligen Eigenart, nicht auf eine Schnittmenge des Gemeinsamen hin werden Flaubert, Baudelaire und Stifter darin dargestellt. Nie verliert Matz dabei seine These aus den Augen, aber sie wird durch diese Grundentscheidung zu einem Horizont, der immer da ist, aber nie erreichbar.
Gewiss, es gibt Analogien zwischen dem Hass und der Verachtung der bürgerlichen Gegenwart, die der Modernität Flauberts und Baudelaires den Charakter der Negation und Rebellion aufprägen, und Stifters Bildern der bedrohten Individualität und des Staatsdienstes. Aber diese Nähe wird vom Formgesetz und dem, was man das ästhetische Klima der Prosa im „Nachsommer”, nennen könnte, sogleich wieder in die Distanz gerückt. Der Begriff von Modernität, der für alle drei Autoren in gleicher Weise zuständig wäre, weicht zurück, während der Leser mit Matz auf ihn zuschreitet.
Ungeduldig wird der Leser dabei aber nicht. Denn die vielleicht dem Ethos des Lektors entspringende Treue zum Besonderen, mit der Matz die Werke seiner Protagonisten liest, trägt reiche Früchte. Man lese nur die subtilen Aufschlüsselungen der paradoxen Erzählerstimmen in „Madame Bovary” und im „Nachsommer” oder die Passagen, in denen Matz im Blick auf die „Fleurs du Mal” eine scharfe Grenzlinie zieht zwischen dem Lob der modernen Lebens, das Baudelaires Freunde gern sangen, und dessen Lob der rücksichtslosen, großen Kunst. Wie gesagt: dem Zurückweichen des Horizonts, den es anstrebt, verdankt dieses Buch sein Gelingen.
LOTHAR MÜLLER
WOLFGANG MATZ: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 432 Seiten, 22,90 Euro.
Gustave Flaubert Foto: Roger–Viollet
Adalbert Stifter Foto: Scherl
Charles Baudelaire Foto: Roger–Viollet
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rundum gelungen findet Martin Krumbolz diesen Essay von Wolfgang Matz über drei Meisterwerke der Moderne, die allesamt im Jahr 1857 erschienen sind. Die Auswahl der Texte hat ihn zunächst überrascht, leuchtet es doch nicht unmittelbar ein, was Flauberts "Madame Bovary", Baudelaires "fleurs du mal" und Stifters "Nachsommer" außer dem Erscheinungsjahr substanziell gemein ist. Dies zu zeigen, scheint ihm der Clou von Matz' Buch. Er unterstreicht den biografischen Ansatz, der bei allen drei Autoren nur rare Freuden und zahlreiche Aporien ans Licht bringt, deren ästhetischer Ertrag sich in den behandelten Meisterwerken niederschlägt. Deutlich wird für Krumbolz, dass Flaubert, Baudelaire und Stifter bei allen inhaltlichen und stilistischen Unterschieden ein ähnliches Konzept von Modernität zugrunde liegt, in dem die Kunst und der Widerstand gegen die bürgerliche Gesellschaft, das System ökonomischer Verwertung, das Diktat des Betriebs eine zentrale Rolle spielen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH