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In der Geschichte der deutschen Literatur gilt Georg Büchner als singuläre Erscheinung. Kaum ein anderer politischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hat auf die Nachwelt eine so unvergleichliche Wirkung ausgeübt. Seit dem Naturalismus haben sich zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Deutschland, aber auch in Österreich und in der Schweiz mit dem Vormärzdichter, seinem Leben und seinem Werk produktiv auseinander gesetzt. Einen ebenso hervorragenden Rang nimmt Büchner in der Theater-geschichte ein. Seine Dramen sind längst dem klassisch-modernen Repertoire einverleibt. In der…mehr

Produktbeschreibung
In der Geschichte der deutschen Literatur gilt Georg Büchner als singuläre Erscheinung. Kaum ein anderer politischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hat auf die Nachwelt eine so unvergleichliche Wirkung ausgeübt. Seit dem Naturalismus haben sich zahlreiche Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Deutschland, aber auch in Österreich und in der Schweiz mit dem Vormärzdichter, seinem Leben und seinem Werk produktiv auseinander gesetzt. Einen ebenso hervorragenden Rang nimmt Büchner in der Theater-geschichte ein. Seine Dramen sind längst dem klassisch-modernen Repertoire einverleibt. In der Literaturwissenschaft zählt er zu den - unter verschiedensten Aspekten - meist-behandelten Autoren. Seine Rezeptionsgeschichte ist jedoch nicht nur ein wichtiges Kapitel der literarischen, sondern auch der politischen Entwicklung Deutschlands. Sein Name ist mit den Revolutionsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso verknüpft wie mit den Anfängen der Sozialdemokratie, mit dem Übergang vom Kaiserreich zur Republik wie mit Widerstand und Exil im "Dritten Reich", mit der Teilung wie mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Seit den 1970er Jahren sind zwar einige Textsammlungen und Studien zur Wirkungsgeschichte Büchners erschienen, eine umfassende Dokumentation seiner literarischen und politischen Rezeption in der Moderne fehlt jedoch bisher. Der Herausgeber schließt mit diesem auf drei Bände konzipierten Werk diese Lücke, der erste Band umfasst den Zeitraum von 1875 bis 1945
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2004

Selbstgespräch mit Büchner
Dokumentation zur Rezeptionsgeschichte eines Klassikers
Warum eigentlich ist die nach wie vor wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur nach Georg Büchner benannt? Gewiss, es gibt Goethe-Medaillen, es gibt einen Schiller-Preis, der einmal von staatstragender Bedeutung war, einen Kleist-Preis, einen Lessing-Preis und auch einen Herder-Preis. Und es gibt den Breitbach-Preis, der am höchsten dotiert ist. Aber keine von diesen Auszeichnungen reicht in ihrer Bedeutung an diesen einen heran, der einem im Alter von dreiundzwanzig Jahren verstorbenen Dichter mit einem ausgesprochen schmalen Œuvre gewidmet ist.
Gewiss, man wird pragmatische Gründe dafür finden: den Umstand vor allem, dass der Preis 1923 vom Volksstaat Hessen unter den Namen eines hessischen Dichters gestiftet wurde und dann nach dem Krieg in die Hände der Deutschen Akademie gelegt wurde. Und doch kommt der Entscheidung für Georg Büchner als Patron längst auch eine symbolische Bedeutung zu: Denn dieser Dichter ist der einzige Klassiker, mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg alle leben konnten, die Linken wie die Rechten, die Fortschrittlichen wie die Konservativen - mit „Lenz”, mit „Dantons Tod”, mit „Woyzeck” -, schon weil seine späte Klassik so offensichtlich viel von der Moderne vorausnahm.
Es mag durchaus sein, dass es in der deutschen Literaturgeschichte keinen Schriftsteller gibt, der von seinen nachgeborenen Kollegen nach 1945 so intensiv rezipiert wurde wie eben Georg Büchner. Diesen Eindruck legen jedenfalls die drei Bände nahe, die der Grazer Germanist Dietmar Goltschnigg unter dem Titel „Georg Büchner und die Moderne” seit 2001 veröffentlicht hat. Der jüngste, gerade erschienene Band beschäftigt sich mit der Zeit von 1980 bis 2002 und hat allein schon achthundert Seiten. Der kleinere Teil dieses Buchs stellt wiederum die Rezeption systematisch dar, löst sie auf in einzelne Interessen, Perioden, Motive, von Christa Wolfs Büchner-Preisrede im Jahr 1980 über Stiftung und schnellem Ende des von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki aus Enttäuschung propagierten „Alternativen Büchnerpreises” im Jahr 1989. Im Hin und Her zwischen politischer und sozialer Entwicklung und der literarischen Rezeption entsteht so das Bild einer literarischen Rezeption, in der sich Gesellschaft über sich selbst verständigt - und die erste Überraschung dieses Projekts besteht darin, dass diese Verständigung funktioniert und dass sie lebendig bleibt.
Der andere Teil besteht aus einer Sammlung einschlägiger Werke und Passagen. Auch die Lektüre dieser 150 Stücke ist ebenso verblüffend wie belehrend, weil sie sich in deutlichen Entwicklungslinien präsentiert. In dieser Zeitspanne erfährt Georg Büchner eine Wandlung vom emphatischen Zeitgenosse - und nicht zuletzt vom sentimentalen Weggefährten auf seiner Wanderung durch die deutsche Provinz - zu einem intellektuellen, historischen Widerpart gegenwärtiger Literatur. Er wandelt sich von einem Bannerträger der fortschrittlichen - aufständischen, radikal moralisierenden Gesinnung - zum Repräsentanten einer geradezu naturwissenschaftlich ambitionierten Bereitschaft, Gefühlszustände auszuloten, ethische Dilemmata durchzudenken, Ideologien auf den Grund zu gehen. Wurde Büchner zu Beginn der achtziger Jahre, etwa von Reto Hänny, noch gebraucht, um mit der Parole „Friede den Hütten, Krieg den Palästen” allerhand „Gegengewalt” zu rechtfertigen, so dient derselbe Satz im Jahr 1990 dem ostdeutschen Dichter Volker Braun, um der Verzweiflung Ausdruck zu verleihen, die in ihm die drohende Verwestlichung der Ostens auslöst. Und acht Jahre später rechnete schließlich Elfriede Jelinek mit der Revolution ab, indem sie auf Büchners Danton rekurriert, dergestalt, dass „die Menschen stets versagen, indem sie sich selbst nichts versagen”. Das sagt sie, weil sie weiß, dass man über Büchner nicht sprechen kann, ohne über die Guillotine zu reden.
Nach 1990 lässt das kollegiale, nachschaffende und umschaffende Interesse der Schriftsteller am Werk Georg Büchners deutlich nach. Offenbar muss sich niemand mehr gegen die Klassik zur Wehr setzen. Das kann man bedauern, weil damit auch der Klassik weniger Gegenwart beschieden ist. Aber es liegt auch eine Chance darin: Das größte Erstaunen bei der Lektüre dieses Bandes liegt in der Erkenntnis, dass auch die Schriftsteller offenbar klüger geworden sind.
THOMAS STEINFELD
DIETMAR GOLTSCHNIGG (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen und Kommentare. Band 3: 1980 - 2002. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2004. 780 S., 79,- Euro.
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