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Mitte der achtziger Jahre begannen erste Bestrebungen, die Tönnies-Forschung zu institutionalisieren, als die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V. in Kiel und am Institut für Soziologie der Universität Hamburg die spätere Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle sich der Erschließung und Förderung des wissenschaftlichen Werkes des Nestors der deutschen Soziologie annahmen. Auf der Grundlage der geleisteten Vorarbeiten wurde eine Tönnies-Gesamtausgabe (TG) in 24 Bänden entworfen. In dieser kritischen Gesamtausgabe werden die veröffentlichten authentischen und autorisierten deutschen und fremdsprachigen…mehr

Produktbeschreibung
Mitte der achtziger Jahre begannen erste Bestrebungen, die Tönnies-Forschung zu institutionalisieren, als die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V. in Kiel und am Institut für Soziologie der Universität Hamburg die spätere Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle sich der Erschließung und Förderung des wissenschaftlichen Werkes des Nestors der deutschen Soziologie annahmen. Auf der Grundlage der geleisteten Vorarbeiten wurde eine Tönnies-Gesamtausgabe (TG) in 24 Bänden entworfen. In dieser kritischen Gesamtausgabe werden die veröffentlichten authentischen und autorisierten deutschen und fremdsprachigen Texte sowie Werke aus dem Nachlass, sofern sie die Form literarischer Selbständigkeit haben, aufgenommen. Die ersten 22 Bände der TG beinhalten die veröffentlichten Texte Tönnies', der 23. Band enthält Schriften aus dem Nachlass, der letzte Band die Gesamtregister und -verzeichnisse. Neben den edierten Texten enthalten die Bände Inhaltsverzeichnis(se), ein Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, einen Erläuterungs- und Variantenapparat sowie Personen-, Literatur- und Sachregister. Der editorische Bericht gibt knappe Auskunft über die Quellenlage, die Materialbeschaffenheit, den Autorisierungsgrad und die Autorenkorrekturen.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Modellbaukästen ausverkauft
Bei Tönnies sind für die Soziologie nur Ladenhüter zu holen / Von Christian Geyer

Zu den charmanten Rätseln der Soziologie gehört, daß sie sich bis heute nicht ganz klar über ihren Gegenstand geworden ist. Stefan Müller-Doohm hat zu Recht davor gewarnt, diese Verwirrung nur als Störung zu begreifen; gerade in ihrem beständigen Objektzweifel erhalte sich die Soziologie als "Reflexionswissenschaft". Resignation statt Reflexion kommt allerdings auf, wenn es mitunter so scheint, als gebe es in der soziologischen Theorieentwicklung kaum einen Fortschritt. Dieser Eindruck kann sich zum Beispiel einstellen, wenn man sich mit der Soziologie der dreißiger Jahre befaßt.

Die Gelegenheit liefert eine neue Gesamtausgabe. Nach Max Weber und Georg Simmel soll nun auch Ferdinand Tönnies mit einer auf vierundzwanzig Bände ausgelegten kritischen Gesamtedition bedacht werden, dessen zweiundzwanzigster als erster der Reihe soeben von Lars Clausen herausgegeben wurde. Er umfaßt die von Tönnies autorisierten Veröffentlichungen aus seinen letzten fünf Lebensjahren 1932 bis 1936. Tönnies, der zu Beginn der dreißiger Jahre der SPD beigetreten war, verlor als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus seine Professur. Dazu bemerkt der Herausgeber im Vorwort: "Von seiner Universität zu Kiel vertrieben, als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gestürzt, bei gestrichenen Pensionsansprüchen und verarmender Familie, unter wachsender Sorge für seine Schüler, wurde er vergessen gemacht. Sein ganzes Spätwerk rückt in diesen Schatten - zumal sein Jahrzehnte lang erarbeitetes letztes Buch ,Geist der Neuzeit', tapfer von Hans Buske in Leipzig noch 1935 verlegt und das Entree dieses Bandes."

Vor diesem biographischen Hintergrund ist es von einiger Delikatesse, daß Tönnies gerade mit seinem einflußreich gewordenen Früh- und Hauptwerk "Gemeinschaft und Gesellschaft" in unfreiwillige Nähe zu deutschnationalen Ideologien rückte und entsprechend instrumentalisiert werden konnte. Diese Monographie von 1887 ist der einzige Text, der in einem späteren Band der kritischen Gesamtausgabe auch historisch-kritisch herausgegeben werden soll. Kaum ein Begriffspaar war für die Entwicklung soziologischer Theoriebildung im ersten Drittel unseres Jahrhunderts bedeutsamer als "Gemeinschaft und Gesellschaft". Aber Tönnies' Stern sank in dem Maße, wie sich die deutsche Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg von der spekulativen Kultursoziologie abwandte und - beeinflußt von der amerikanischen Methode - die empirische Sozialforschung in den Vordergrund rückte. Von der Antinomie "Gemeinschaft - Gesellschaft", so urteilte René König 1955, sei "nicht einmal ein Trümmerhaufen, sondern eine einzige große Unklarheit" übriggeblieben, die mit "Geschichte und Wirklichkeit" nichts zu tun habe.

Leider versäumt es das Vorwort der ansonsten mustergültigen Edition des späten Tönnies, die fachliche Situation der dreißiger Jahre näher in den Blick zu nehmen. Dies wäre nicht nur Tönnies' wissenssoziologischer Einordnung gut bekommen, es hätte zugleich mit frappierender Deutlichkeit ans Licht gebracht, wie sich die Bilder der Soziologie von heute und damals bei allen unterschiedlichen Schattierungen doch gleichen. Dieser Befund, den das Vorwort der Gesamtausgabe ausspart, ergibt sich um so deutlicher etwa aus der Lektüre jener Festschrift, die zu Tönnies' achtzigstem Geburtstag 1935 herausgegeben und vor zehn Jahren im Frankfurter Keip Verlag nachgedruckt wurde. Hier hat Leopold von Wiese Worte zur Lage des Faches gefunden, die in leichter Abwandlung auch 1998 geschrieben sein könnten. So trug von Wiese angesichts der Grundlagenkrise des Faches ein hellsichtiges Plädoyer für die soziologische Theorie vor. Er warnte davor, durch überhastete "Flucht in die sicheren Bezirke" der damals schon aus dem Boden schießenden Bindestrich-Soziologien den "Eindruck der Solidität und Lebensnähe" erkaufen zu wollen.

Nun ist Ferdinand Tönnies sicherlich kein Soziologe, der dazu neigte, den theoriefeindlichen Tendenzen seiner Zeit nachzugeben. Sein Verdienst um das Fach könnte man gerade darin sehen, daß er es sich konsequent versagte, die Flucht in die "sicheren Bezirke" der Disziplin anzutreten. Gleichwohl wird man seinen Theorieansatz heute nicht ohne weiteres einen durchgängig soziologischen nennen wollen; seine eher sozialpsychologische, namentlich bewußtseinsphilosophische, in der Konsequenz voluntaristische Ausrichtung macht ihn streckenweise zu einem schwer lesbaren Spekulierer, der - so der Eindruck aus dem vorliegenden Band der Gesamtausgabe - gerade in seinen letzten Schaffensjahren nicht frei war von der Neigung, seitenweise in rechthaberischem Ton mit pädagogischem Pathos historisches und philosophisches Handbuchwissen vorzutragen. Auf den Hobbes- und Spinozaforscher Tönnies, der sich auf Schopenhauer beruft, trifft in besonderer Weise zu, was Leopold von Wiese eben nicht nur als Chance, sondern auch als Risiko der europäischen Soziologie erkannte: Für Europa gilt, "daß hier die Soziologie in enger Verschwisterung mit Geschichts- und Kulturphilosophie entstanden ist, daß aber diese beiden Gebiete - bei allem Fesselnden und gedanklich Großartigen, das sie teilweise bieten - Tummelplätze für die Bekundung von Überzeugungen, Glaubenssätzen und subjektiven Schauungen sind".

So hat Tönnies in seinen letzten Jahren nicht nur harte empirische Arbeiten wie jene über den "Selbstmord von Männern in Preussen 1884 bis 1914" verfaßt, sondern immer wieder auch Abhandlungen mit einem moralischen Wirkungswillen bis hin zum Tendenziösen. Dazu gehören "Sitte und Freiheit", "Das Dasein des Theaters" oder auch "Die Lebenssumme", welche mit den Worten anhebt: "Auf Grund meiner Lebenserfahrung empfehle ich jungen Männern und Frauen dringend . . .". Nicht erst in der Schrift "Mein Verhältnis zur Soziologie" verfährt der berühmte Gelehrte bemerkenswert unsouverän mit seinen Kritikern. Akribisch zieht er in dieser Schrift die Summe seines Schaffens, doch dahinter wird ebenso wie in früheren Werken ein selbsterzeugter Rechtfertigungsdruck von ungeheurem Ausmaß sichtbar, der sich in hochgradig gedrechselten Formulierungen entlädt wie: "So gelangte ich zu dem Bemühen", "denn bald gestaltete sich mir die Verallgemeinerung", "die Meinung, daß ich einer solchen Denkungsart fähig wäre, hat mich von jeher lächeln, wenn nicht lachen gemacht".

Allzu deutlich meint man angesichts solcher Verrenkungen zu spüren, wie Tönnies sich gelegentlich gerade dadurch im freien Fluß der Gedanken behindert, daß er sich an seine eigene Bedeutung klammern möchte. Ihm fehlt dann gleichsam das epische Grundvertrauen in die allmähliche Verfertigung der Gedanken, so daß es manchmal so aussieht, als müsse er auf lexikalische Versatzstücke zurückgreifen, die, wie in der Monographie über den "Begriff der Neuzeit", durchweg ohne rechten Esprit ineinandergeschoben werden. So verbleibt der Erkenntnisgewinn nicht selten in den enzyklopädischen Grenzen einer Fleißarbeit. Warum kann es sich Tönnies nicht verkneifen, in beinahe jedem Kapitel wieder bei Adam und Eva anzufangen? Warum verzichtet er nicht auf die Fülle der damit verbundenen Altklügeleien? Es rumpelt im Magen, wenn der Appetit auf die Neuzeit kapitelweise mit schwer verdaulichen Allerweltsweisheiten gestillt werden soll. So wird einem unter der Überschrift "Bedeutung und Bedingtheit des menschlichen Denkens" vor aller Einsicht in die Neuzeit erst einmal umständlich die Welt des Kopfes erklärt: "Die denkenden und wollenden Menschen sind tatsächlich die Urheber ihrer eigenen Werke, also auch der Arten ihres Zusammenlebens in ökonomischer, politischer und geistig-moralischer Hinsicht. Alles ist bedingt durch den menschlichen Verstand, also durch den Grad seiner Entwicklung, durch die Art und Kraft des Wollens der handelnden Menschen, durch die Stärke ihrer Einsicht oder deren Mangelhaftigkeit."

Erstaunlich ist weniger, daß der angestrengte Wille zur naturwissenschaftlich inspirierten exakten Klassifizierung bei Tönnies auch zu Trivialitäten führt. Vielmehr überrascht der unfreiwillig komische Hang des Systematikers zu exzessiver Plauderei. So werden im "Begriff der Neuzeit" kapitelweise abgezirkelte Definitionen von "Herr und Untertan", "sozialen Samtschaften und sozialen Verbänden", "Kürwille und Wesenwille" geboten; während gleichzeitig unter dem Stichwort "Der weibliche und der männliche Geist in Mittelalter und Neuzeit" freischwebend etwas vom Pferd erzählt wird. Wie an anderen Stellen wird auch hier geschichtlich Kontingentes umstandslos mit der "richtigen Erkenntnis des menschlichen Wesens" identifiziert, so daß Tönnies die neuzeitliche Geschlechterbeziehung am Ende so beschreibt, "daß die weibliche Natur mehr ein passives, duldendes, die männliche mehr ein aktives, positiv wirkendes Wesen darstellt". Skurril klingt es wohl nicht erst für die Ohren des heutigen Lesers, wenn sich der zeitbedingte Chauvinismus mit devoter Wissenschaftsgläubigkeit und religiöser Unmusikalität paart. Dann kommt es zur Behauptung eines Dualismus zwischen "weiblicher und kindlicher Gläubigkeit" einerseits und einer "klaren und männlichen Erkenntnis der Einheit der Natur und ihrer Gesetzlichkeit" andererseits.

Der Band macht die relevanten Varianten der Textfassungen zugänglich; Tönnies' Quellen werden gewissenhaft überprüft, Überlieferung und Textbefund klug kommentiert. Der Ehrgeiz, jedweden ungewohnt erscheinenden Begriff durch eine Fußnote des Herausgebers zu erklären, wirkt bisweilen etwas überzogen. Unter den soziologischen Einsichten, welche die geduldige Lektüre schenkt, befindet sich am Ende auch diese: daß nicht jeder verdiente Gründervater der Zunft auch schon jener Riese ist, auf dessen Schultern man zu höheren Einsichten gelangt. Aber wer möchte der Klassikerexegese ihren Wert absprechen, nur weil sie hin und wieder zur Entzauberung ihrer Helden führt?

Ferdinand Tönnies: "Gesamtausgabe". Band 22: 1932-1936 - Geist der Neuzeit, Schriften, Rezensionen. Herausgegeben von Lars Clausen. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1998. 612 S., geb., 368,- DM.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

Kälbermarsch für eine gläubige Mehrheit
Ferdinand Tönnies Ansichten über den Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung und Religion sind heute womöglich noch aktueller als zur Zeit, da sie erstmals publiziert wurden
„Ist’s aber die Wahrheit, dass die Dirne nicht ist Jungfrau gefunden, soll man sie heraus vor die Tür ihres Vaters führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen, darum dass sie eine Torheit in Israel begangen und in ihres Vaters Haus gehurt hat; und sollst das Böse von dir tun.” So raue Sitten wie in 5. Moses 22.20 kennt man allenfalls aus der Fernsehberichterstattung über das Sexualstrafrecht islamischer Länder. Die evangelische Jubiläumsbibel plaziert sie 1963 als „Gesetze zum Schutz von Verleumdeten und Vergewaltigten” neben die Heiligung des Eigentums des Nächsten und der göttlichen Ordnung in der Natur.
Über die Todesstrafe an der entjungferten Tochter und deren Exekution durch die Nachbarschaft denkt man freilich im Zeitalter der Kondomautomaten an jeder Tankstelle anders als in Gesellschaften, denen Fortpflanzung und Erbregelungen im Übergang von gemeinwirtschaftlichen Familien-, Clan- und Stammesstrukturen in staatliche Rechtsinstitute hohe Vermögenswerte darstellen.
In säkularen Staaten sind aus Religionsgesetzen weithin Meinungsnuancen geworden. Religionen werden von der öffentlichen Meinung überholt, wie der weitblickende Sozialforscher Ferdinand Tönnies in seinem Buch „Zur Kritik der Öffentlichen Meinung” 1922 prognostiziert hat. Es ist jetzt als Band 14 von 24 geplanten Bänden einer Gesamtausgabe der Schriften neu erschienen. Tönnies (1855 bis 1936) zählte zur Soziologengeneration, die sich mit Philosophen der Aufklärung, dann mit Zeitgenossen ihrer jüngeren Jahre – Marx, Darwin, Nietzsche –, mit dem militärisch-industriellen Aufstieg Europas und seiner Dekadenz auseinanderzusetzen hatte.
In seinem Hauptwerk, „Gemeinschaft und Gesellschaft” (1887) stellt Tönnies mehr affektive soziale Formen den zwecksetzenden gegenüber. In ihrer Polarität bestimmen sie die Ordnung des Ganzen. Er bemerkt schon früh die Zusammenhänge von Religion und öffentlicher Meinung.
1992 wollte Tönnies in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs Begriffe klären, um Irrwege zu meiden, auch einen Appell an die Gebildeten richten, die öffentliche Meinung zu respektieren. Diese wenigen, die sich über die Jahrtausende als Priester, Gelehrte, Erzieher, Künstler von der großen Mehrheit nährten, waren stets gezwungen, Regungen der Menge zu beobachten. „Volkes Stimme” „Gottes Stimme” – wie bei Hesiod und dem älteren Herodot – oder bloß Gefühl, Faulheit, Aufsässigkeit? Der Verlust an direkter Rede durch die Schrift, die „sich überall herumtreibt und selber nicht weiß, zu wem sie reden soll” (Phaidros) vertiefte die Abstände zwischen dem „vulgären Publikum” und denen, die nach der Schrift redeten. „Publik” kam im 17. Jahrhundert in die deutsche Sprache. Der „peuple” der französischen Republik sträubte die Federn der deutschen Gebildeten, weil er Köpfe rollen ließ.
Gerade weil Religion aus individuellen Ängsten zu kollektiven Bekenntnissen sich zusammenbraut, also keine ein für allemal gültige Festigkeit der öffentlichen Meinung garantiert, ist das System Tönnies’ auch achtzig Jahre nach der Erstausgabe von hohem Interesse. Im ersten Teil des Buches gibt der Autor leicht fassliche Begriffe für öffentliche Meinung vor, wenn er von festen, flüssigen und gasförmigen Aggregatzuständen spricht, als hätte er die Beschleunigung der Funkmedien vorausgedacht. Bei den 250 Seiten empirischer Beobachtungen des zweiten Teils geht es dann aber vorwiegend um soziologische Strukturen und Hierarchien und die Folgerungen für die „Macht der Öffentlichen Meinung”, „Mehrheit und Menge” sowie Faktoren des Staatslebens in den USA, England, Frankreich und Deutschland. Hier empfiehlt es sich, den Lektürevorschlägen des Mitherausgebers Alexander Deichsel zu folgen, während der dritte Teil des Buches über „Besondere Fälle der Öffentlichen Meinung” ohne die peniblen Helfer des wissenschaftlichen Apparates „arg verflossen” wäre.
Mit Hinweis auf die vierte und fünfte Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft” (1887) im Vorwort rät der Autor 1922 abschließend den Geist des Wahren, Schönen und Guten in der Volksgemeinschaft zu erkennen, lobt zur Reform der Presse das Stiftungsmodell eines Amerikaners, Ferdinand Hansen, und kritisiert die „Lügenpresse” von Reuters, Havas, Northcliffe, wie vor ihm Jean Jaures, Bertrand Russell und andere, – gleichzeitig mit ihm ein gewisser Hitler im Dunst Münchner Bierkeller. Aus diesem stiegen die schwarzen Vögel der nächsten Katastrophe. Sie terrorisierten die konsternierte Öffentlichkeit als politische Religion. Diese schloss Tönnies aus.
Achtzig Jahre nach Tönnies’ „Kritik” sind die rituellen und ritualisierenden Gemeinsamkeiten von Religion, Politik und Öffentlicher Meinung unübersehbar. Die anderen Weltreligionen okkupieren die „flüchtigen” wie die „festen” Meinungen der Christenheit. Medienpräsenz wie -konsum sind durch elektronische Steuerungskunst zum quasireligiösen Zwang geworden. Aktualität vermehrt ihn permanent. Selbst der Pontifex Maximus einer Milliarde römischer Katholiken betritt diese Brücke. Zahllose Meinungsforscher sammeln „flüssige und gasförmige” Aggregate der Volkssprachen, um sie als statistische Beweise schriftlich zu ehren. Das Ritual exekutiert – nicht der Glaube, nicht die Meinung. Wer sich dem Ritual nicht unterwirft, gilt als asozial.
HARRY
PROSS
FERDINAND TÖNNIES: Gesamtausgabe. Im Auftrag der Ferdinand-Tönnies- Gesellschaft hrsg. von Lars Clausen. Band 14: Kritik der öffentlichen Meinung, hrsg. von Alexander Deichsel, Rolf Fechner, Rainer Waßner. De Gruyter Verlag, Berlin, New York 2002. 804 Seiten, 248 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Stefan Breuer bespricht diesen Band zusammen mit Band 22 der Tönnies-Gesamtausgabe und weist darauf hin, dass es sich hierbei um die beiden ersten Bände einer auf 24 angelegten Gesamtausgabe des Soziologen handelt. In seiner Kritik unterscheidet er nicht genau zwischen den Inhalten der beiden Bände - er nutzt sie eher, um anhand des in den Büchern vorgestellten Materials ein Porträt des zu Unrecht vergessenen Soziologen zu skizzieren. Den monumentalen Plan der Ausgabe im Rücken möchte er vor allem darlegen, dass Tönnies mehr ist als der "Verfasser eines einzigen Werkes", nämlich des Buches "Gemeinschaft und Gesellschaft", das Tönnies heute als einen irrationalen Verehrer der "Gemeinschaft" dastehen lasse. Glaubt man Breuer, liegen die Dinge wesentlich komplizierter. Der Rezensent lobt zunächst die ungeheure Spannweite von Tönnies` Denken, der sowohl über Hegels Naturrechtslehre als auch über englische Weltpolitik Substanzielles zu sagen wisse und dabei die unterschiedlichsten Denker in sich aufnehme. Auch "die einzigartige Kombination von Illusionslosigkeit im Großen und Pragmatismus und Reformbereitschaft im Kleinen" weiß Breuer zu loben. Ein irrationales Gemeinschaftsdenken finde man bei Tönnies vor allem im Ersten Weltkrieg, dem er zuerst skeptisch, dann aber immer affirmativer gegenübergestanden habe. In der gemeinsamen Kriegsanstrengung des Volkes habe er so etwas wie einen Staatssozialismus heraufdämmern sehen. Später aber, so zeigt Breuer, gewinnen der Liberalismus und der Begriff der "Gesellschaft" gegen jenen der Gemeinschaft wieder Boden bei Tönnies.

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