15 Jahre lang, von 1910 bis 1924 hat Erich Mühsam, der berühmteste deutsche Anarchist sein Leben festgehalten ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber und niemals langweilig. Was diese Tagebücher so fesselnd macht, ist der wache Blick des Weltveränderers. Mühsam wollte Anarchie praktisch ausprobieren. Anarchie hieß für ihn: Leben ohne moralische Scheuklappen, ohne Rücksicht auf Konventionen und er bewies, dass es geht. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart.
Mühsam Tagebuch ist ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt, es erscheint in 15 Bänden und zugleich als Online-Edition. Die gewissenhaft edierten Textbände werden im Netz unter begleitet von einem Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namenregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien, Suchfunktionen so entsteht eine historisch kritische Ausgabe!
Mühsam Tagebuch ist ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt, es erscheint in 15 Bänden und zugleich als Online-Edition. Die gewissenhaft edierten Textbände werden im Netz unter begleitet von einem Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namenregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien, Suchfunktionen so entsteht eine historisch kritische Ausgabe!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2019Unerwünschtem Publikum wollte er die Leviten lesen
Es ist vollbracht: Die Tagebücher des anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam sind mit dem fünfzehnten Band vollständig ediert. Sie sind Lesegenuss und permanente Mahnung.
Vor acht Jahren erschien der erste Band von Erich Mühsams Tagebüchern, mit dem fünfzehnten ist die Reihe nun abgeschlossen - planmäßig. Welches philologisch-editorische Vorhaben könnte das von sich behaupten (oder welches Großprojekt überhaupt in Deutschland)? Also gebührt erst einmal Respekt den beiden Herausgebern Chris Hirte und Conrad Piens, die jedem einzelnen Band konzise Nachbemerkungen beigaben, dem letzten jetzt sogar deren zwei, wenn auch das schönste Addendum die Nachbemerkung zum vorletzten war, die mit einem Gedicht Mühsams namens "Die Pflicht" aus der Gefängniszeit endete, dessen Schlussstrophe lautet: "Ich schwur den Kampf. Darf ich ihn fliehn? / Noch leb ich - wohlig oder hart. / Kein Tod soll mich der Pflicht entziehn - / und meine Pflicht heißt: Gegenwart!" In Hirte und Piens hat Mühsam postum zwei ebenso pflichtversessene Kämpfer für sein Werk gefunden. Sie haben ihn der Gegenwart zurückgegeben.
Denn man liest diese vor 109 Jahren begonnenen und vor 95 Jahren beendeten Tagebuchnotate nicht vorrangig als Chronik der Zeitspanne von 1910 bis 1924 mit all ihren politischen und gesellschaftlichen Umstürzen in Deutschland, sondern als anderthalb Jahrzehnte währendes Selbstporträt der politischen und privaten Wandlungen des Schriftstellers Erich Mühsam. Eines Schriftstellers, der sich als Anarchist begriff, aber über eine Sprachgewalt und -eleganz verfügte, die man in abstrakter Vorstellung kaum zusammenbringen kann, aber hier eben konkret vor sich hat. Zudem genährt von einer Neugier auf die Umgebung, die immer geistesgegenwärtig ist und als solche von berückend-bedrückender Aktualität. Nicht, dass etwa die Weimarer Republik dieser Einträge zur Folie würde für die heutige Bundesrepublik. Aber der Tagebuchverfasser wird in seiner Vehemenz und Akribie zum Muster eines kritischen Kommentators. Und auch wenn Mühsam die erste deutsche Republik nicht gerettet hat - es auch gar nicht gewollt hätte -, wird unsere zweite nicht dadurch besser, dass es seinesgleichen nicht mehr gibt. Im Gegenteil.
Erich Mühsam hat für seine Überzeugungen teuer bezahlt. Die letzten fünfeinhalb Jahre Tagebuch, dem Umfang nach sogar die Hälfte des gesamten Konvoluts, entstanden in Haft. Nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik im Mai 1919 wurde er als einer deren führender Intellektuellen angeklagt und zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt - zur Höchststrafe unter allen Beschuldigten, wenn man davon absieht, dass prominente Weggefährten beim gewaltsamen Sturz der Räterepublik ermordet (Gustav Landauer) oder nach kurzem Prozess exekutiert wurden (Eugen Leviné). Der letzte Eintrag im letzten Band der Tagebücher ist der kürzeste überhaupt: "Vormittag 10œ Uhr. Frei!" Es war der 20. Dezember 1924, und Mühsam profitierte davon, dass angesichts der bevorstehenden Amnestie, die den Beteiligten am Hitler-Putsch vom 9. November 1923 zuteilwerden sollte, auch die linken politischen Häftlinge aus ihrer Haft entlassen wurden. Im Abschlussband der Tagebücher drehen sich Mühsams Gedanken immer wieder um das absehbare politische Gegengeschäft.
Ihn interessierte dabei, verständlicherweise, die eigene Freilassung so sehr, dass ihm die der Rechtsradikalen nur recht war. Zumal Mühsam verkannt hat, was Deutschland mit den Nazis erwuchs: "Tatsächlich sind die Völkischen, nachdem sie sich mal mit dem parlamentarischen Humbug eingelassen haben, lächerlich zahm geworden, und es ist sicher anzunehmen, daß die Hitlerjacken in Zukunft keine Regierung mehr verhaften werden, sondern nur noch Juden totschlagen und republikanische Weiber mit Lysol besprengen werden." Diese spöttische Bemerkung sollte sich furchtbar rächen, als der atheistische Sohn jüdischer Eltern 1933 bald nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wieder verhaftet und 1934 im KZ ermordet wurde.
Natürlich liest man seine Tagebücher vor diesem Hintergrund, und eine Bemerkung wie die vom 4. August 1924 über den tödlichen Verkehrsunfall eines jungen Bekannten, "man könnte meinen, das Schicksal hätte von den Menschen gelernt, ungerecht und infam zu handeln", ist gerade angesichts der eigenen Zukunft Mühsams herzzerreißend. Andererseits kokettierte der Revolutionär gern mit einem gewaltsamen Tod, so etwa am 28. April 1924: "mir wäre der Galgen für meine Überzeugung viel erwünschter als der Tod durch Herzschlag in dieser öden Burg." Das war allerdings nicht leichtfertig geschrieben. Mühsams Gesundheit hatte in der Haft gelitten, seine Sorge, in Gefangenschaft zu sterben, war groß.
Die sich daran anknüpfenden existentialistischen Bemerkungen sind ebenso eindrucksvoll wie die beiläufigen Psychogramme seiner Mithäftlinge. In der bayerischen Festung Niederschönenfeld saßen als politische Häftlinge nur Linke ein (die Rechten waren in Landsberg inhaftiert), aber zwischen Mühsam und einigen seiner Genossen herrschte gegenseitige Antipathie. Regelrechte Porträts aufzuschreiben, verkniff sich der Diarist am Ende, weil er die abermalige Beschlagnahmung seiner Tagebücher fürchtete, wie er sie bereits einmal erlebt hatte. Trotzdem ist der Text der Notate höchst entschieden und stilistisch ausgefeilt - als hätte Mühsam einem unerwünschten Publikum die Leviten lesen wollen. Er selbst betrachtete das Konvolut der Tagebücher als seinen größten literarischen Schatz. Man kann ihm darin nur beipflichten. Und nicht zuletzt seine Witwe Zenzl bewundern, die den Großteil irgendwie durch die einem Freigeist wie Mühsam denkbar feindlichen Zeitläufte gebracht hat. Das war ein eigenes Abenteuer.
ANDREAS PLATTHAUS
Erich Mühsam: "Tagebücher". Band 15: 1924.
Hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 340 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist vollbracht: Die Tagebücher des anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam sind mit dem fünfzehnten Band vollständig ediert. Sie sind Lesegenuss und permanente Mahnung.
Vor acht Jahren erschien der erste Band von Erich Mühsams Tagebüchern, mit dem fünfzehnten ist die Reihe nun abgeschlossen - planmäßig. Welches philologisch-editorische Vorhaben könnte das von sich behaupten (oder welches Großprojekt überhaupt in Deutschland)? Also gebührt erst einmal Respekt den beiden Herausgebern Chris Hirte und Conrad Piens, die jedem einzelnen Band konzise Nachbemerkungen beigaben, dem letzten jetzt sogar deren zwei, wenn auch das schönste Addendum die Nachbemerkung zum vorletzten war, die mit einem Gedicht Mühsams namens "Die Pflicht" aus der Gefängniszeit endete, dessen Schlussstrophe lautet: "Ich schwur den Kampf. Darf ich ihn fliehn? / Noch leb ich - wohlig oder hart. / Kein Tod soll mich der Pflicht entziehn - / und meine Pflicht heißt: Gegenwart!" In Hirte und Piens hat Mühsam postum zwei ebenso pflichtversessene Kämpfer für sein Werk gefunden. Sie haben ihn der Gegenwart zurückgegeben.
Denn man liest diese vor 109 Jahren begonnenen und vor 95 Jahren beendeten Tagebuchnotate nicht vorrangig als Chronik der Zeitspanne von 1910 bis 1924 mit all ihren politischen und gesellschaftlichen Umstürzen in Deutschland, sondern als anderthalb Jahrzehnte währendes Selbstporträt der politischen und privaten Wandlungen des Schriftstellers Erich Mühsam. Eines Schriftstellers, der sich als Anarchist begriff, aber über eine Sprachgewalt und -eleganz verfügte, die man in abstrakter Vorstellung kaum zusammenbringen kann, aber hier eben konkret vor sich hat. Zudem genährt von einer Neugier auf die Umgebung, die immer geistesgegenwärtig ist und als solche von berückend-bedrückender Aktualität. Nicht, dass etwa die Weimarer Republik dieser Einträge zur Folie würde für die heutige Bundesrepublik. Aber der Tagebuchverfasser wird in seiner Vehemenz und Akribie zum Muster eines kritischen Kommentators. Und auch wenn Mühsam die erste deutsche Republik nicht gerettet hat - es auch gar nicht gewollt hätte -, wird unsere zweite nicht dadurch besser, dass es seinesgleichen nicht mehr gibt. Im Gegenteil.
Erich Mühsam hat für seine Überzeugungen teuer bezahlt. Die letzten fünfeinhalb Jahre Tagebuch, dem Umfang nach sogar die Hälfte des gesamten Konvoluts, entstanden in Haft. Nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik im Mai 1919 wurde er als einer deren führender Intellektuellen angeklagt und zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt - zur Höchststrafe unter allen Beschuldigten, wenn man davon absieht, dass prominente Weggefährten beim gewaltsamen Sturz der Räterepublik ermordet (Gustav Landauer) oder nach kurzem Prozess exekutiert wurden (Eugen Leviné). Der letzte Eintrag im letzten Band der Tagebücher ist der kürzeste überhaupt: "Vormittag 10œ Uhr. Frei!" Es war der 20. Dezember 1924, und Mühsam profitierte davon, dass angesichts der bevorstehenden Amnestie, die den Beteiligten am Hitler-Putsch vom 9. November 1923 zuteilwerden sollte, auch die linken politischen Häftlinge aus ihrer Haft entlassen wurden. Im Abschlussband der Tagebücher drehen sich Mühsams Gedanken immer wieder um das absehbare politische Gegengeschäft.
Ihn interessierte dabei, verständlicherweise, die eigene Freilassung so sehr, dass ihm die der Rechtsradikalen nur recht war. Zumal Mühsam verkannt hat, was Deutschland mit den Nazis erwuchs: "Tatsächlich sind die Völkischen, nachdem sie sich mal mit dem parlamentarischen Humbug eingelassen haben, lächerlich zahm geworden, und es ist sicher anzunehmen, daß die Hitlerjacken in Zukunft keine Regierung mehr verhaften werden, sondern nur noch Juden totschlagen und republikanische Weiber mit Lysol besprengen werden." Diese spöttische Bemerkung sollte sich furchtbar rächen, als der atheistische Sohn jüdischer Eltern 1933 bald nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wieder verhaftet und 1934 im KZ ermordet wurde.
Natürlich liest man seine Tagebücher vor diesem Hintergrund, und eine Bemerkung wie die vom 4. August 1924 über den tödlichen Verkehrsunfall eines jungen Bekannten, "man könnte meinen, das Schicksal hätte von den Menschen gelernt, ungerecht und infam zu handeln", ist gerade angesichts der eigenen Zukunft Mühsams herzzerreißend. Andererseits kokettierte der Revolutionär gern mit einem gewaltsamen Tod, so etwa am 28. April 1924: "mir wäre der Galgen für meine Überzeugung viel erwünschter als der Tod durch Herzschlag in dieser öden Burg." Das war allerdings nicht leichtfertig geschrieben. Mühsams Gesundheit hatte in der Haft gelitten, seine Sorge, in Gefangenschaft zu sterben, war groß.
Die sich daran anknüpfenden existentialistischen Bemerkungen sind ebenso eindrucksvoll wie die beiläufigen Psychogramme seiner Mithäftlinge. In der bayerischen Festung Niederschönenfeld saßen als politische Häftlinge nur Linke ein (die Rechten waren in Landsberg inhaftiert), aber zwischen Mühsam und einigen seiner Genossen herrschte gegenseitige Antipathie. Regelrechte Porträts aufzuschreiben, verkniff sich der Diarist am Ende, weil er die abermalige Beschlagnahmung seiner Tagebücher fürchtete, wie er sie bereits einmal erlebt hatte. Trotzdem ist der Text der Notate höchst entschieden und stilistisch ausgefeilt - als hätte Mühsam einem unerwünschten Publikum die Leviten lesen wollen. Er selbst betrachtete das Konvolut der Tagebücher als seinen größten literarischen Schatz. Man kann ihm darin nur beipflichten. Und nicht zuletzt seine Witwe Zenzl bewundern, die den Großteil irgendwie durch die einem Freigeist wie Mühsam denkbar feindlichen Zeitläufte gebracht hat. Das war ein eigenes Abenteuer.
ANDREAS PLATTHAUS
Erich Mühsam: "Tagebücher". Band 15: 1924.
Hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 340 S., geb., 32,- [Euro].
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