Virginia Woolf ist fünfzig Jahre alt und steht auf der Höhe ihres Ruhms als Schriftstellerin. Der Roman "Die Wellen" wird vollendet, "Flush" erscheint, die Arbeit an "Die Jahre" - es wird ihr vorletzter Roman sein - wird im Tagebuch intensiv begleitet. Die Eindrücke von Reisen mit Leonard Woolf nach Frankreich, Italien, Griechenland sind in fast täglichen Notaten dokumentiert. Mit Sorge beobachten beide den heraufkommenden Faschismus und die wachsende Kriegsgefahr in Europa. Aufmerksam und ernsthaft registriert Virginia Woolf ihre Gespräche mit Künstlern und Schriftstellern, beteiligt sich aber auch mit Freude am Gesellschafts- und Familienklatsch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2003Mit Äffchen auf Görings Spuren
Virginia Woolfs Tagebücher aus den frühen dreißiger Jahren
Immerhin, die Krise des Buchmarkts ist durchschaut. Beim Tee mit Tom kommt das Gespräch aufs Bücherkaufen. Tom sagt rundheraus, daß er "nie" ein neues Buch erwerbe; die Gastgeberin kauft wohl "manchmal" Lyrik, sonst aber nichts. Damit ist das leidige Problem geklärt, "warum Autoren sich nicht verkaufen, warum Buchhändler nichts auf Lager nehmen". Im übrigen spricht man viel von der Unsterblichkeit, höchst philosophisch, vom "Aufschrei" der Gefühle, der Literatur und von dem Krieg, der unausweichlich scheint. Es ist Montag, der 5. Februar 1935. Am Tavistock Square in Bloomsbury ist T. S. Eliot zu Gast bei Virginia Woolf.
Zwei der führenden Autoren der Moderne, langjährige Weggefährten und distanziert Vertraute, können nicht auch selbst noch dafür sorgen, daß die Nachfrage nach Büchern steigt. Ohnehin sind beide, wie es scheint, zwar voller Pläne für ihre weiteren Werke, jedoch nicht frei von leisem Zweifel an der eigenen Schaffenskraft, die ihren Höhepunkt vorerst überschritten haben mag. Virginia Woolf ist dreiundfünfzig und hatte 1931 mit dem Roman "The Waves" ihren großen Triumph. Was dagegen jetzt "die Jungen" alles schreiben, sieht sie mit Skepsis. Wohl hat sie eine Neuerscheinung mit dem Titel "The Testament of Youth" nach eigenem Bekunden förmlich verschlungen, aber die rückhaltlose Art der Darstellung wie der Hang junger Autoren, auch noch die niedrigsten Details des Lebens auszubreiten, muß irritieren: "Was für einem Drang unterliegen sie, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen?"
Die Frage, an ihr Tagebuch gerichtet, bringt uns als dessen Leser in Verlegenheit, denn immerhin wird die Autorin hier ihrerseits in einer Weise öffentlich, die ihr kaum recht gewesen sein kann. Als zuvor einmal ein Verleger einen privaten Schnappschuß statt des sorgsamen Porträtfotos veröffentlicht, ist Woolf zutiefst empört und wehrt sich gegen das Gefühl "es wird in mein Privatleben eingebrochen: meine Beine sind zu sehen und ich werde vor der Welt als eine häßliche schlampige alte Frau enthüllt." Um es daher rundheraus zu sagen: So persönlich, ja intim die Tagebuchaufzeichnungen sind, ihre Verfasserin erscheint darin weder nackt noch alt. Statt Beinen oder anderen Körperteilen enthüllen sie vielmehr die Bewegungen ihres Geistes, und der scheint auch mit zunehmendem Alter von einer Regsamkeit, zuweilen produktiven Unruhe getrieben, daß wir bei der fesselnden Lektüre oft nicht mehr zu Atem kommen.
Äußerlich verläuft ihr Leben als allseits hochgeachtete Autorin in klaren Bahnen. Prominente Besucher, lange Tee-Gespräche, viele Dinnerpartys oder andere "Schwatzgesellschaften" werden ausführlich verzeichnet, regelmäßig finden Fahrten nach Sussex ins Landhaus statt und jedes Frühjahr eine ausgedehnte Reise durch Europa. Innerlich jedoch ist Woolf vielfach mit ganz anderen Dingen beschäftigt und wehrt sich, während sie Geselligkeit vortäuscht, im Selbstgespräch des Schreibens gegen die Zudringlichkeit der Welt. Das Tagebuch wird Fluchtraum und Ventil; das Notierte klingt wie ein Beiseitesprechen auf der Bühne, mit dessen Hilfe wir erfahren, was eigentlich geschieht. Übergangslos lesen wir so von den Krisen der Weltpolitik, vom Wetter und der Pilzsuche, von Problemen des Romans wie von der Magenverstimmung des Ehemanns. Bewußtseinsstrom nennt man die literarische Fiktion eines ungefilterten Wahrnehmungs- und Gedankenprotokolls, wofür Woolfs Erzählkunst hochberühmt ist. Doch den wahren Strömen des Bewußtseins können wir wohl nur hier folgen, wo sich die ansonsten so bewußt komponierende Autorin ganz dem eigenen Schreibfluß überläßt: "Es gefällt mir, meinen Geist hoch in die Luft zu werfen und zu verfolgen, wo er landen wird."
Zu einer Zeit, da von Virginia Woolf vor allem Nicole Kidmans Nase öffentlich Beachtung findet, lassen sich bei solchen Luftsprungübungen schier unerschöpfliche Entdeckungen machen. Zwar stammt der vierte Band der Tagebücher - wie die vorherigen getreu dem Vorbild der englischen Ausgabe kommentiert und von Maria Bosse-Sporleder in sehr lebendiges Deutsch übertragen - aus einer zunehmend düsteren Welt; außer dem Tod und Selbstmord enger Freunde nötigen der Aufstieg des Faschismus und die Kriegsgefahr zu steter Sorge. Doch gerade auf diesem Hintergrund heben sich die Glücksmomente wie die komischen Szenen nur um so stärker ab. Meist sind es die Besuche großmächtiger Literaturkollegen wie Eliot, Shaw oder Yeats, die Woolfs Gabe zum scharfsichtigen, fast karikaturistischen Porträt herausfordern.
Daneben aber finden sich, zumal in den Reisebeschreibungen, wunderbare Szenen über ganz zufällige Begegnungen mit französischen Kellnerinnen oder irischen Landarbeitern. Zu einem grotesk-schaurigen Höhepunkt kommt es im Mai 1935 in Bonn, als die Woolfs auf Urlaubsreise mit dem Auto (samt ihrem zahmen Äffchen) nichtsahnend in eine hysterisch jubelnde und Fähnchen schwenkende Menschenmenge geraten, die zu Görings Ehren aufmarschiert ist und den großen schwarzen Wagen wohl nicht gleich als Ausländer erkannt hat.
Wie dieser fratzenhafte Spuk sind alle Wahrnehmungsbilder des Tagebuchs beiläufig, flüchtig, skizzenhaft und bleiben uns doch gerade dadurch um so stärker im Gedächtnis, je rascher sie vorübereilen. Nur einmal, in der Silvesternacht 1932, will Woolf den großen Zeitstrom selbst am liebsten anhalten: "Wenn man sich nicht zurücklehnt und eine Summe zieht und zu dem Augenblick, diesem Augenblick jetzt, verweile doch, du bist so schön, sagt, was wird man gewonnen haben, wenn man stirbt? Nein: verweile, in diesem Augenblick." Was kann man Schöneres zu einem Buch sagen?
TOBIAS DÖRING
Virginia Woolf: "Tagebücher 4. 1931-1935". Aus dem Englischen übersetzt von Maria Bosse-Sporleder. Herausgegeben von Klaus Reichert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 589 S., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Virginia Woolfs Tagebücher aus den frühen dreißiger Jahren
Immerhin, die Krise des Buchmarkts ist durchschaut. Beim Tee mit Tom kommt das Gespräch aufs Bücherkaufen. Tom sagt rundheraus, daß er "nie" ein neues Buch erwerbe; die Gastgeberin kauft wohl "manchmal" Lyrik, sonst aber nichts. Damit ist das leidige Problem geklärt, "warum Autoren sich nicht verkaufen, warum Buchhändler nichts auf Lager nehmen". Im übrigen spricht man viel von der Unsterblichkeit, höchst philosophisch, vom "Aufschrei" der Gefühle, der Literatur und von dem Krieg, der unausweichlich scheint. Es ist Montag, der 5. Februar 1935. Am Tavistock Square in Bloomsbury ist T. S. Eliot zu Gast bei Virginia Woolf.
Zwei der führenden Autoren der Moderne, langjährige Weggefährten und distanziert Vertraute, können nicht auch selbst noch dafür sorgen, daß die Nachfrage nach Büchern steigt. Ohnehin sind beide, wie es scheint, zwar voller Pläne für ihre weiteren Werke, jedoch nicht frei von leisem Zweifel an der eigenen Schaffenskraft, die ihren Höhepunkt vorerst überschritten haben mag. Virginia Woolf ist dreiundfünfzig und hatte 1931 mit dem Roman "The Waves" ihren großen Triumph. Was dagegen jetzt "die Jungen" alles schreiben, sieht sie mit Skepsis. Wohl hat sie eine Neuerscheinung mit dem Titel "The Testament of Youth" nach eigenem Bekunden förmlich verschlungen, aber die rückhaltlose Art der Darstellung wie der Hang junger Autoren, auch noch die niedrigsten Details des Lebens auszubreiten, muß irritieren: "Was für einem Drang unterliegen sie, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen?"
Die Frage, an ihr Tagebuch gerichtet, bringt uns als dessen Leser in Verlegenheit, denn immerhin wird die Autorin hier ihrerseits in einer Weise öffentlich, die ihr kaum recht gewesen sein kann. Als zuvor einmal ein Verleger einen privaten Schnappschuß statt des sorgsamen Porträtfotos veröffentlicht, ist Woolf zutiefst empört und wehrt sich gegen das Gefühl "es wird in mein Privatleben eingebrochen: meine Beine sind zu sehen und ich werde vor der Welt als eine häßliche schlampige alte Frau enthüllt." Um es daher rundheraus zu sagen: So persönlich, ja intim die Tagebuchaufzeichnungen sind, ihre Verfasserin erscheint darin weder nackt noch alt. Statt Beinen oder anderen Körperteilen enthüllen sie vielmehr die Bewegungen ihres Geistes, und der scheint auch mit zunehmendem Alter von einer Regsamkeit, zuweilen produktiven Unruhe getrieben, daß wir bei der fesselnden Lektüre oft nicht mehr zu Atem kommen.
Äußerlich verläuft ihr Leben als allseits hochgeachtete Autorin in klaren Bahnen. Prominente Besucher, lange Tee-Gespräche, viele Dinnerpartys oder andere "Schwatzgesellschaften" werden ausführlich verzeichnet, regelmäßig finden Fahrten nach Sussex ins Landhaus statt und jedes Frühjahr eine ausgedehnte Reise durch Europa. Innerlich jedoch ist Woolf vielfach mit ganz anderen Dingen beschäftigt und wehrt sich, während sie Geselligkeit vortäuscht, im Selbstgespräch des Schreibens gegen die Zudringlichkeit der Welt. Das Tagebuch wird Fluchtraum und Ventil; das Notierte klingt wie ein Beiseitesprechen auf der Bühne, mit dessen Hilfe wir erfahren, was eigentlich geschieht. Übergangslos lesen wir so von den Krisen der Weltpolitik, vom Wetter und der Pilzsuche, von Problemen des Romans wie von der Magenverstimmung des Ehemanns. Bewußtseinsstrom nennt man die literarische Fiktion eines ungefilterten Wahrnehmungs- und Gedankenprotokolls, wofür Woolfs Erzählkunst hochberühmt ist. Doch den wahren Strömen des Bewußtseins können wir wohl nur hier folgen, wo sich die ansonsten so bewußt komponierende Autorin ganz dem eigenen Schreibfluß überläßt: "Es gefällt mir, meinen Geist hoch in die Luft zu werfen und zu verfolgen, wo er landen wird."
Zu einer Zeit, da von Virginia Woolf vor allem Nicole Kidmans Nase öffentlich Beachtung findet, lassen sich bei solchen Luftsprungübungen schier unerschöpfliche Entdeckungen machen. Zwar stammt der vierte Band der Tagebücher - wie die vorherigen getreu dem Vorbild der englischen Ausgabe kommentiert und von Maria Bosse-Sporleder in sehr lebendiges Deutsch übertragen - aus einer zunehmend düsteren Welt; außer dem Tod und Selbstmord enger Freunde nötigen der Aufstieg des Faschismus und die Kriegsgefahr zu steter Sorge. Doch gerade auf diesem Hintergrund heben sich die Glücksmomente wie die komischen Szenen nur um so stärker ab. Meist sind es die Besuche großmächtiger Literaturkollegen wie Eliot, Shaw oder Yeats, die Woolfs Gabe zum scharfsichtigen, fast karikaturistischen Porträt herausfordern.
Daneben aber finden sich, zumal in den Reisebeschreibungen, wunderbare Szenen über ganz zufällige Begegnungen mit französischen Kellnerinnen oder irischen Landarbeitern. Zu einem grotesk-schaurigen Höhepunkt kommt es im Mai 1935 in Bonn, als die Woolfs auf Urlaubsreise mit dem Auto (samt ihrem zahmen Äffchen) nichtsahnend in eine hysterisch jubelnde und Fähnchen schwenkende Menschenmenge geraten, die zu Görings Ehren aufmarschiert ist und den großen schwarzen Wagen wohl nicht gleich als Ausländer erkannt hat.
Wie dieser fratzenhafte Spuk sind alle Wahrnehmungsbilder des Tagebuchs beiläufig, flüchtig, skizzenhaft und bleiben uns doch gerade dadurch um so stärker im Gedächtnis, je rascher sie vorübereilen. Nur einmal, in der Silvesternacht 1932, will Woolf den großen Zeitstrom selbst am liebsten anhalten: "Wenn man sich nicht zurücklehnt und eine Summe zieht und zu dem Augenblick, diesem Augenblick jetzt, verweile doch, du bist so schön, sagt, was wird man gewonnen haben, wenn man stirbt? Nein: verweile, in diesem Augenblick." Was kann man Schöneres zu einem Buch sagen?
TOBIAS DÖRING
Virginia Woolf: "Tagebücher 4. 1931-1935". Aus dem Englischen übersetzt von Maria Bosse-Sporleder. Herausgegeben von Klaus Reichert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 589 S., geb., 39,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Sabine Franke ist der Ansicht, dass dieser Tagebuchband der Virginia Woolf überaus interessante Einblicke in das Leben und die Psyche der Schriftstellerin bietet. Es sei darin Positives wie auch Negatives, Bekanntes wie auch Überraschendes zu finden. In den Einträgen zeige sich, wie herablassend Woolf ihre Zeitgenossen aburteilen konnte, wie sie sich zugleich aber auch fürchtete, in deren Augen nicht bestehen zu können. Zudem seien überraschend praktische Charakterzüge der sonst so vergeistigt wirkenden Frau zu finden. Als omnipräsent schildert die Rezensentin psychische Labilität und der stetige Kampf gegen den Abgrund, selbst wenn Woolf sich in euphorischer Schreibstimmung befand oder über ein friedliches, arbeitsreiches Leben mit ihrem Mann schrieb. Das Fazit der Rezensentin: Es erschließe sich dem Leser hier ein "nuancenreicheres Bild von der Wirklichkeit ihres Lebens," als es in anderen Dokumenten zu finden sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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