"Originally published in Great Britain by Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited, London, in 2014, and subsequently published in hardcover in the United States by Pantheon Books, a division of Penguin Random House LLC, in 2015"--Title page verso.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungKriege werden nicht ausgeknipst
Derzeit haben Bücher über Kalenderjahre Konjunktur, meistens aber wenig Schlüssigkeit: Victor Sebestyen versucht aus 1946 ein Epochenjahr zu machen. Das gelingt nur mit Übertreibungen.
Victor Sebestyen gönnt den strapazierten Lesern historischer Memorialliteratur keine Atempause. Kaum ist das Jubiläumspensum des Jahres 2015 abgearbeitet, kaum hat man das historische Gedächtnis in Sachen Kriegsende 1945 und Wiener Kongress 1815 hinreichend aufgefrischt, kaum sammelt man sich für das aufziehende Publikationsgewitter zu Reformation und Oktoberrevolution, da öffnet der anglo-ungarische Journalist und Sachbuchautor vor uns den Abgrund einer Bildungslücke. Das unscheinbare Jahr 1946, bisher angeblich ignoriert, ein Jahr, in dem sich große Teile der Menschheit in posttraumatischer Erschöpfung befanden: es soll das Jahr gewesen sein, "in dem die Welt neu entstand" - eine Art Ursprungsmoment der Gegenwart.
Diese These appelliert an alle, die ein gediegenes Geschenk für Geburtstagskinder vom Jahrgang 1946 suchen. Aber ist sie auch gut genug untermauert, und was bedeutet sie für das historische Verständnis? Dem Autor und seinem Rechercheteam gebührt Dank dafür, die kargen Daten- und Faktenregister einer Wikipedia-Annalistik in eine lange Serie erzählter Episoden verwandelt zu haben. In mehrfacher Weltumkreisung, deren Tempo die Langeweile enzyklopädischer Länderkapitel vermeidet, eilt das Buch von Schauplatz zu Schauplatz. Wenige wichtigere politische Ereignisse des Jahres 1946 fehlen: die Unabhängigkeit der Philippinen als frühester Akt der Dekolonisation Südostasiens im Juli, der Ausbruch des Ersten Indochinakrieges mit der französischen Bombardierung von Haiphong im November oder die erstmalige Wahl von Juan Péron zum Präsidenten von Argentinien im Februar.
Sebestyen muss zwangsläufig Themen aufgreifen, die Ian Buruma, ein besserer Schriftsteller, bereits in seinem Buch "'45: Die Welt am Wendepunkt" (F.A.Z. vom 24. Februar 2015) behandelt hat, etwa das Vorgehen gegen NS-Kollaborateure in Frankreich und den Niederlanden oder die amerikanische Besatzungsherrschaft in Japan. Viele historische Entwicklungen begannen um das Kriegsende herum und zogen sich einige Jahre hin. Da ist der Jahresausschnitt künstlich. Es ist niemals falsch, die konventionellen Zäsurdaten der Geschichte in ein relativierendes Licht zu rücken und über die großen Einschnitte hinaus zu blicken. Dass der Erste Weltkrieg im November 1918 endete, aber sogleich in eine mehrjährige Nachkriegszeit überging, in der - bis 1923/24 - die dringendsten Erblasten des Krieges bewältigt werden mussten, beginnt sich herumzusprechen. Ebenso brach 1945 mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai und Japans am 2. September keineswegs der Weltfrieden aus. Das ist keine überraschende Entdeckung Victor Sebestyens, denn niemand mit ein wenig historischer Kenntnis und Phantasie würde das Gegenteil behaupten wollen. Kriege werden nicht ausgeknipst.
Das Buch ist dort besonders stark, wo es zeigt, dass kollektive Gewalt nicht endete: In Polen wurden auch nach der Schoah weiter Juden ermordet. In Griechenland und China brachen Bürgerkriege aus, die während des Weltkriegs vorbereitet worden waren. In Palästina war die britische Mandatsmacht weniger denn je in der Lage, Araber und jüdische Immigranten voneinander zu trennen; nun wurde sie zur Zielscheibe eines militanten Zionismus, der sich des einstigen Protektors zu entledigen suchte. In Indien heizte sich der Konflikt zwischen den Religionsgruppen auf. Allerdings hatte keine dieser Gewaltkonstellationen ihre Wurzeln im Jahre 1946, keine wurde in jenem Kalenderjahr beigelegt oder auch nur abgeschwächt. 1946 sah keinen einzigen ordnungsstiftenden Neubeginn, vergleichbar der Konferenz von Bretton Woods (1944) und der Gründung der Vereinten Nationen (1945). Insofern ist der ehrgeizige Untertitel (im Original: "The Making of the Modern World") eine kecke Übertreibung. 1946 bleibt auch nach diesem Buch, was es für Historiker bisher schon war: ein Jahr des Übergangs, der Unbestimmtheit, der offenen Optionen.
Die mit Abstand wichtigste Figur in Sebestyens zweiunddreißig Kapiteln ist Josef Stalin, gefolgt von Harry S. Truman. Es geht also, wie es nicht anders sein kann, über lange Strecken um die Entstehung des Kalten Krieges. Trotz eines gelungenen Schlaglichts auf Iran erfährt man dazu wenig Neues und hat Mühe, sich überzeugen zu lassen, dass die Entstehung einer "bipolaren" Welt vom üblich angenommenen 1947 auf 1946 vordatiert werden sollte. Auch für die Entwicklungen in Deutschland ist man bei Historikern wie Ulrich Herbert und Heinrich August Winkler besser aufgehoben.
Dass nach den beiden Hauptprotagonisten und ihren wichtigsten Adlaten die drei am häufigsten erwähnten Persönlichkeiten, nämlich Adolf Hitler, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, 1946 die politische Bühne ganz oder (im Falle Churchills) vorübergehend verlassen hatten, weist auf ein Grunddilemma der Darstellung hin: Victor Sebestyen ist ehrlich genug, den selbst verordneten Prokrustesrahmen immer wieder zu verlassen und längere Geschichten zu spinnen, die manchmal bis hinter den Zweiten Weltkrieg zurückreichen; diese Geschichten bleiben konventionell, andere Autoren haben sie schon besser erzählt. Damit verschwindet aber der literarische Pfiff der querschnitthaften Konzentration auf einen einzigen Zwölfmonatszeitraum.
Auch lässt sich die Behauptung von der besonderen Bedeutung des Jahres 1946 mehrfach nur dadurch retten, dass nicht nur beim Kalten Krieg die chronologischen Gewichte ohne überzeugende Begründung verschoben werden. So scheiterte zwar im Winter 1946/47 General George Marshalls Versuch, als Beauftragter Präsident Trumans im beginnenden chinesischen Bürgerkrieg zu vermitteln. Dass damit der spätere Sieg der Kommunisten über die Nationalpartei Chiang Kai-sheks bereits vorbestimmt gewesen sei, ist eine allzu kühne Behauptung. Erst Ende 1948 erlitten Chiangs Truppen ihre entscheidende militärische Niederlage.
Ebenso ist es erfreulich, dass überhaupt an die oft vergessene Gewalt in Indien erinnert wird, die etwa fünfzehn Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte und vermutlich eine Million Todesopfer forderte. Doch erreichten die Massaker, die im August 1946 begonnen hatten, ihren Höhepunkt nicht vor 1947 und ebbten erst zum Zeitpunkt der Ermordung Gandhis im Januar 1948 ab. Solche Einwände klingen pedantisch, sind aber unvermeidlich, wenn man den Autor beim Wort nimmt.
Ausgerechnet 1946 erschien ein Buch von unverwüstlicher Nützlichkeit, das später immer wieder aktualisiert worden ist: der tabellarische Kulturfahrplan von Werner Stein, dem Physiker und Berliner Wissenschaftssenator in den Jahren der Studentenbewegung. Diese unerschöpfliche Matrix von Synchronizität und ihre internationalen Imitate werden noch manchen Jahresquerschnitt anregen. Doch das Genre ist tückischer, als es aussieht. Nicht jedes Jahr hat die Wucht von 1945 und 1989 oder die Tanz-auf-dem-Vulkan-Qualitäten von 1788 und 1913. Wer ritterlich einem Mauerblümchenjahr zu Glanz verhelfen will, muss eine Vielzahl von Vignetten und Anekdoten der Gleichzeitigkeit so gut zu erzählen wissen, dass gar nicht auffällt, woran es in den meisten Fällen mangelt: klugen Vermutungen darüber, wie das Verstreute zusammenhängen könnte. Solche Vermutungen bleibt auch dieses Buch schuldig.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Victor Sebestyen: "1946". Das Jahr, in dem die Welt neu entstand.
Aus dem Englischen von Hainer Kober und Henning Thies. Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
539 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Derzeit haben Bücher über Kalenderjahre Konjunktur, meistens aber wenig Schlüssigkeit: Victor Sebestyen versucht aus 1946 ein Epochenjahr zu machen. Das gelingt nur mit Übertreibungen.
Victor Sebestyen gönnt den strapazierten Lesern historischer Memorialliteratur keine Atempause. Kaum ist das Jubiläumspensum des Jahres 2015 abgearbeitet, kaum hat man das historische Gedächtnis in Sachen Kriegsende 1945 und Wiener Kongress 1815 hinreichend aufgefrischt, kaum sammelt man sich für das aufziehende Publikationsgewitter zu Reformation und Oktoberrevolution, da öffnet der anglo-ungarische Journalist und Sachbuchautor vor uns den Abgrund einer Bildungslücke. Das unscheinbare Jahr 1946, bisher angeblich ignoriert, ein Jahr, in dem sich große Teile der Menschheit in posttraumatischer Erschöpfung befanden: es soll das Jahr gewesen sein, "in dem die Welt neu entstand" - eine Art Ursprungsmoment der Gegenwart.
Diese These appelliert an alle, die ein gediegenes Geschenk für Geburtstagskinder vom Jahrgang 1946 suchen. Aber ist sie auch gut genug untermauert, und was bedeutet sie für das historische Verständnis? Dem Autor und seinem Rechercheteam gebührt Dank dafür, die kargen Daten- und Faktenregister einer Wikipedia-Annalistik in eine lange Serie erzählter Episoden verwandelt zu haben. In mehrfacher Weltumkreisung, deren Tempo die Langeweile enzyklopädischer Länderkapitel vermeidet, eilt das Buch von Schauplatz zu Schauplatz. Wenige wichtigere politische Ereignisse des Jahres 1946 fehlen: die Unabhängigkeit der Philippinen als frühester Akt der Dekolonisation Südostasiens im Juli, der Ausbruch des Ersten Indochinakrieges mit der französischen Bombardierung von Haiphong im November oder die erstmalige Wahl von Juan Péron zum Präsidenten von Argentinien im Februar.
Sebestyen muss zwangsläufig Themen aufgreifen, die Ian Buruma, ein besserer Schriftsteller, bereits in seinem Buch "'45: Die Welt am Wendepunkt" (F.A.Z. vom 24. Februar 2015) behandelt hat, etwa das Vorgehen gegen NS-Kollaborateure in Frankreich und den Niederlanden oder die amerikanische Besatzungsherrschaft in Japan. Viele historische Entwicklungen begannen um das Kriegsende herum und zogen sich einige Jahre hin. Da ist der Jahresausschnitt künstlich. Es ist niemals falsch, die konventionellen Zäsurdaten der Geschichte in ein relativierendes Licht zu rücken und über die großen Einschnitte hinaus zu blicken. Dass der Erste Weltkrieg im November 1918 endete, aber sogleich in eine mehrjährige Nachkriegszeit überging, in der - bis 1923/24 - die dringendsten Erblasten des Krieges bewältigt werden mussten, beginnt sich herumzusprechen. Ebenso brach 1945 mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai und Japans am 2. September keineswegs der Weltfrieden aus. Das ist keine überraschende Entdeckung Victor Sebestyens, denn niemand mit ein wenig historischer Kenntnis und Phantasie würde das Gegenteil behaupten wollen. Kriege werden nicht ausgeknipst.
Das Buch ist dort besonders stark, wo es zeigt, dass kollektive Gewalt nicht endete: In Polen wurden auch nach der Schoah weiter Juden ermordet. In Griechenland und China brachen Bürgerkriege aus, die während des Weltkriegs vorbereitet worden waren. In Palästina war die britische Mandatsmacht weniger denn je in der Lage, Araber und jüdische Immigranten voneinander zu trennen; nun wurde sie zur Zielscheibe eines militanten Zionismus, der sich des einstigen Protektors zu entledigen suchte. In Indien heizte sich der Konflikt zwischen den Religionsgruppen auf. Allerdings hatte keine dieser Gewaltkonstellationen ihre Wurzeln im Jahre 1946, keine wurde in jenem Kalenderjahr beigelegt oder auch nur abgeschwächt. 1946 sah keinen einzigen ordnungsstiftenden Neubeginn, vergleichbar der Konferenz von Bretton Woods (1944) und der Gründung der Vereinten Nationen (1945). Insofern ist der ehrgeizige Untertitel (im Original: "The Making of the Modern World") eine kecke Übertreibung. 1946 bleibt auch nach diesem Buch, was es für Historiker bisher schon war: ein Jahr des Übergangs, der Unbestimmtheit, der offenen Optionen.
Die mit Abstand wichtigste Figur in Sebestyens zweiunddreißig Kapiteln ist Josef Stalin, gefolgt von Harry S. Truman. Es geht also, wie es nicht anders sein kann, über lange Strecken um die Entstehung des Kalten Krieges. Trotz eines gelungenen Schlaglichts auf Iran erfährt man dazu wenig Neues und hat Mühe, sich überzeugen zu lassen, dass die Entstehung einer "bipolaren" Welt vom üblich angenommenen 1947 auf 1946 vordatiert werden sollte. Auch für die Entwicklungen in Deutschland ist man bei Historikern wie Ulrich Herbert und Heinrich August Winkler besser aufgehoben.
Dass nach den beiden Hauptprotagonisten und ihren wichtigsten Adlaten die drei am häufigsten erwähnten Persönlichkeiten, nämlich Adolf Hitler, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, 1946 die politische Bühne ganz oder (im Falle Churchills) vorübergehend verlassen hatten, weist auf ein Grunddilemma der Darstellung hin: Victor Sebestyen ist ehrlich genug, den selbst verordneten Prokrustesrahmen immer wieder zu verlassen und längere Geschichten zu spinnen, die manchmal bis hinter den Zweiten Weltkrieg zurückreichen; diese Geschichten bleiben konventionell, andere Autoren haben sie schon besser erzählt. Damit verschwindet aber der literarische Pfiff der querschnitthaften Konzentration auf einen einzigen Zwölfmonatszeitraum.
Auch lässt sich die Behauptung von der besonderen Bedeutung des Jahres 1946 mehrfach nur dadurch retten, dass nicht nur beim Kalten Krieg die chronologischen Gewichte ohne überzeugende Begründung verschoben werden. So scheiterte zwar im Winter 1946/47 General George Marshalls Versuch, als Beauftragter Präsident Trumans im beginnenden chinesischen Bürgerkrieg zu vermitteln. Dass damit der spätere Sieg der Kommunisten über die Nationalpartei Chiang Kai-sheks bereits vorbestimmt gewesen sei, ist eine allzu kühne Behauptung. Erst Ende 1948 erlitten Chiangs Truppen ihre entscheidende militärische Niederlage.
Ebenso ist es erfreulich, dass überhaupt an die oft vergessene Gewalt in Indien erinnert wird, die etwa fünfzehn Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte und vermutlich eine Million Todesopfer forderte. Doch erreichten die Massaker, die im August 1946 begonnen hatten, ihren Höhepunkt nicht vor 1947 und ebbten erst zum Zeitpunkt der Ermordung Gandhis im Januar 1948 ab. Solche Einwände klingen pedantisch, sind aber unvermeidlich, wenn man den Autor beim Wort nimmt.
Ausgerechnet 1946 erschien ein Buch von unverwüstlicher Nützlichkeit, das später immer wieder aktualisiert worden ist: der tabellarische Kulturfahrplan von Werner Stein, dem Physiker und Berliner Wissenschaftssenator in den Jahren der Studentenbewegung. Diese unerschöpfliche Matrix von Synchronizität und ihre internationalen Imitate werden noch manchen Jahresquerschnitt anregen. Doch das Genre ist tückischer, als es aussieht. Nicht jedes Jahr hat die Wucht von 1945 und 1989 oder die Tanz-auf-dem-Vulkan-Qualitäten von 1788 und 1913. Wer ritterlich einem Mauerblümchenjahr zu Glanz verhelfen will, muss eine Vielzahl von Vignetten und Anekdoten der Gleichzeitigkeit so gut zu erzählen wissen, dass gar nicht auffällt, woran es in den meisten Fällen mangelt: klugen Vermutungen darüber, wie das Verstreute zusammenhängen könnte. Solche Vermutungen bleibt auch dieses Buch schuldig.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Victor Sebestyen: "1946". Das Jahr, in dem die Welt neu entstand.
Aus dem Englischen von Hainer Kober und Henning Thies. Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
539 S., geb., 26,95 [Euro].
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