Im ersten Jahr des Kabinetts Erhard nahmen Probleme des innerdeutschen Verhältnisses, insbesondere die Verhandlungen über eine Passierscheinregelung für Berlin, einen breiten Raum ein. Außenpolitisch sah sich die Bundesregierung im Falle des Zypern- und des Vietnamkonflikts mit der noch ungewohnten Möglichkeit eines auch militärischen Engagements im Ausland konfrontiert. Die Weiterentwicklung der EWG blieb geprägt von zähen Auseinandersetzungen um die Harmonisierung von Zöllen und Agrarpreisen. Im Innern versuchte die Bundesregierung, das Wachstum des Bundeshaushalts in Grenzen zu halten und durch Erweiterung des konjunkturpolitischen Instrumentariums die wirtschaftliche Entwicklung zu steuern. Mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess und der Debatte um die Verjährung der Strafverfolgung von NS-Verbrechen trat die Diskussion um den Umgang mit der NS-Vergangenheit in eine neue Phase.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2008Abgeschöpft
Kabinett Erhard 1964
Im Jahr 1964 tagte das Bundeskabinett 49 Mal. Das Ergebnis wird jetzt in 49 Kurzprotokollen wiedergegeben: Viel Alltägliches, auch wenn es zweifelsohne für die Menschen wichtig war: Verbrauch von Heizöl, Verbraucherschutz, Verteilung der Einkommen- und Körperschaftsteuer, Getreidepreisangleichung, Bundespost, Bundesbahn, Renten, Besoldungsfragen, 13. Monatsgehalt, EWG-Ministerratsbeschlüsse - und da etwa die Durchführungsverordnung für Milch. So wurde in der Sitzung am 22. Juli beschlossen, für Tilsiter Käse eine Änderung zu fordern, "durch die die erhöhte Abschöpfung bei der Einfuhr von Tilsiter vermieden wird". Aber es gab 1964 auch andere, spannende Themen: etwa die beinah schon groteske Auseinandersetzung zwischen den sogenannten "Gaullisten" und den "Atlantikern". Bundeskanzler Erhard war überzeugter "Atlantiker", die Vereinigten Staaten waren für ihn nach wie vor die entscheidende Schutzmacht für die Bundesrepublik Deutschland. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle konnte da wenig bieten. Für den Schutz, den Amerika bot, verlangte der amerikanische Präsident Johnson allerdings einen Preis. Es hat dramatische Begegnungen Erhards mit de Gaulle und Johnson gegeben. Fast nichts davon in den Kurzprotokollen. Ähnlich beim Thema Israel: Seit Jahren gab es geheime Waffenlieferungen, was damals bekannt wurde.
Erfreulich sind die Bilder und Dokumente in Faksimile. Fazit: ein in der Tradition der Kabinettsprotokolle sorgfältigst edierter Dokumentenband mit einer instruktiven Einleitung, Kurzbiographien der Sitzungsteilnehmer und der in den Protokollen erwähnten Personen, Zeittafel, Personen-, Sach- und Ortsindex. Bei der Lektüre sollten allerdings unbedingt andere Quellen mit herangezogen werden, etwa die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, die Protokolle des CDU-Bundesvorstands sowie des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages und das Tagebuch von Heinrich Krone, damals Vorsitzender des Bundesverteidigungsrates.
ROLF STEININGER
Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Herausgegeben für das Bundesarchiv von Hartmut Weber. Band 17: 1964. Bearbeitet von Josef Henke und Uta Rössel. R. Oldenbourg Verlag, München 2007. 739 S., 69,80 [Euro].
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Kabinett Erhard 1964
Im Jahr 1964 tagte das Bundeskabinett 49 Mal. Das Ergebnis wird jetzt in 49 Kurzprotokollen wiedergegeben: Viel Alltägliches, auch wenn es zweifelsohne für die Menschen wichtig war: Verbrauch von Heizöl, Verbraucherschutz, Verteilung der Einkommen- und Körperschaftsteuer, Getreidepreisangleichung, Bundespost, Bundesbahn, Renten, Besoldungsfragen, 13. Monatsgehalt, EWG-Ministerratsbeschlüsse - und da etwa die Durchführungsverordnung für Milch. So wurde in der Sitzung am 22. Juli beschlossen, für Tilsiter Käse eine Änderung zu fordern, "durch die die erhöhte Abschöpfung bei der Einfuhr von Tilsiter vermieden wird". Aber es gab 1964 auch andere, spannende Themen: etwa die beinah schon groteske Auseinandersetzung zwischen den sogenannten "Gaullisten" und den "Atlantikern". Bundeskanzler Erhard war überzeugter "Atlantiker", die Vereinigten Staaten waren für ihn nach wie vor die entscheidende Schutzmacht für die Bundesrepublik Deutschland. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle konnte da wenig bieten. Für den Schutz, den Amerika bot, verlangte der amerikanische Präsident Johnson allerdings einen Preis. Es hat dramatische Begegnungen Erhards mit de Gaulle und Johnson gegeben. Fast nichts davon in den Kurzprotokollen. Ähnlich beim Thema Israel: Seit Jahren gab es geheime Waffenlieferungen, was damals bekannt wurde.
Erfreulich sind die Bilder und Dokumente in Faksimile. Fazit: ein in der Tradition der Kabinettsprotokolle sorgfältigst edierter Dokumentenband mit einer instruktiven Einleitung, Kurzbiographien der Sitzungsteilnehmer und der in den Protokollen erwähnten Personen, Zeittafel, Personen-, Sach- und Ortsindex. Bei der Lektüre sollten allerdings unbedingt andere Quellen mit herangezogen werden, etwa die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, die Protokolle des CDU-Bundesvorstands sowie des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages und das Tagebuch von Heinrich Krone, damals Vorsitzender des Bundesverteidigungsrates.
ROLF STEININGER
Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Herausgegeben für das Bundesarchiv von Hartmut Weber. Band 17: 1964. Bearbeitet von Josef Henke und Uta Rössel. R. Oldenbourg Verlag, München 2007. 739 S., 69,80 [Euro].
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