67 statt 68: für einen erweiterten Begriff der Politik. Zu 68 gibt es nichts mehr zu sagen. Aus dem "Ereignis" ist wahlweise ein "Gegenstand der Geschichtswissenschaft" oder ein "Mythos" geworden; die Übertreibungen sind zurückgenommen, die Irrtümer korrigiert. Vielleicht aber hat schon 68 selbst, nicht erst seine Nachgeschichte, einen seinerzeit entwickelten Begriff der Politik wieder verkürzt, indem es die radikalen Experimente in Kunst, Alltag und Theorie aus dem Feld des Politischen ausgrenzte, zu dem sie 1967 noch gehörten. Dieses Buch (re)konstruiert daher einen Zusammenhang von literarischen und theoretischen Texten, von Popmusik, Filmen, Aktionen und Grammatologie aus dem Jahr 1967 und schlägt vor, daraus eine alternative Chiffre abzuleiten: 67 als "Sondierung der Basisstruktur der Sprache" - und damit als Arbeit an den Grundlagen des Politischen überhaupt.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungLeute, lasst uns den Menschen mal vergessen!
So viel Ideologiekritik war nie: Der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer versucht eine geistig-politische Kartierung des Jahres 1967
Im Jahr 1967 nahm der Sprachkritiker Dolf Sternberger "Mensch" in das bereits sprichwörtlich gewordene "Wörterbuch des Unmenschen" auf. Diese auf den ersten Blick paradoxe Entscheidung begründete er mit dem sentimentalen und zugleich herablassenden Charakter, den das Wort vor allem im Munde von Politikern angenommen hatte, die damit einen pseudohumanistischen Weichzeichner über politische Entscheidungen legten. Sternberger empfahl, "die Menschen" durch "Leute" zu ersetzen.
Das war eine hellsichtige Diagnose zu einem Zeitpunkt, als die Exzesse des medialen Menschelns erst noch bevorstanden. Zeitgleich gab es auffällige Parallelen zwischen Sternberger mit seiner Forderung nach "mehr Kühle" und anderen Intellektuellen, die den emphatischen Begriff des Menschen ebenfalls kritisch in den Blick nahmen. Dazu gehören vor allem Theoretiker, die sich im Spannungsfeld zwischen Strukturalismus, Marxismus und Kybernetik bewegten. Gemeinsam war ihnen - angesichts der Macht gesellschaftlicher und technischer Strukturen - eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem humanistischen Bild vom Menschen als dem Akteur und Mittelpunkt der Geschichte.
Diese Engführung von Positionen, die untergründig korrespondieren, obwohl ihre Autoren nicht aufeinander Bezug nehmen, ist typisch für Robert Stockhammers Verfahren, die geistig-politische Landschaft des Jahres 1967 zu kartieren. Wer den Fokus auf dieses Jahr legt, der kommt natürlich zunächst einmal dem großen Rummel zuvor, der nächstes Jahr zum fünfzigsten Geburtstag von "68" die Buchwelt heimsuchen wird. Doch wäre es ungerechtfertigt, dem Münchner Komparatisten eine solche Marktstrategie als primäres Motiv zu unterstellen. Er nennt gewichtige inhaltliche Gründe, die dafür sprechen, 1967 zu porträtieren und nicht das berühmtere Jahr danach.
Stockhammer zeigt, wie sich 1967 Diskurse verdichten und verflechten, die nicht einfach eine neue Politik in den alten Bahnen fordern, sondern die die Zeichen- und Kommunikationssysteme selbst in Frage stellen, die der Politik, der Kunst, der Wissenschaft, der Warenwelt zugrunde liegen. Was hier einen historischen Moment lang stattfand, in Flugblättern und Happenings, Rockkonzerten und Theoriezirkeln, sei eine "Sondierung der Basisstruktur der Sprache" gewesen. Stockhammers Formulierung gibt recht gut den technizistisch-utopistischen Sound der Zeit wieder, in der das "Kursbuch" Arbeiten von Alan Turing, John von Neumann und Claude Lévi-Strauss veröffentlichte, Noam Chomsky nicht nur als Transformationsgrammatiker, sondern auch als Kritiker der amerikanischen Vietnam-Politik bekannt wurde und Jacques Derrida den gerade erst modisch gewordenen Strukturalismus als abendländischen "Logozentrismus" zu "dekonstruieren" begann. Ideologiekritik wurde zu einem Bindemittel, das die unterschiedlichsten Disziplinen und Lebensbereiche unter der Perspektive einer Fundamentalkritik vereinte.
Praktisch betrieben wurde die Unterminierung der kommunikativen Konventionen zum Beispiel in den per Flugblatt verbreiteten Sprachspielen der Kommune I, die einen Kaufhausbrand im Stil der Werbung und der Boulevardpresse kommentierte und prompt unter den Verdacht einer Anstiftung zur Brandstiftung geriet. Die Bemühungen von Literaturwissenschaftlern, den rein literarischen Charakter dieser Texte nachzuweisen, hatten zwar vor Gericht Erfolg, unterliefen aber die Absicht der Kommunarden, die Grenzen zwischen Kunst und Politik zu verflüssigen.
Im Gegensatz zu 1967 sieht Stockhammer "1968" als Chiffre für eine bald darauf einsetzende Trivialisierung der Kritik, die sich wieder konventioneller Kommunikationsformen bediente. In der Tat: Analysen auf der Meta-Ebene galten den wenig später entstehenden K-Gruppen bestenfalls als Kapriolen im gesellschaftlichen "Überbau".
Stockhammer schildert 1967 nicht als Ereignisgeschichte. Stattdessen orientiert er sich an einer Reihe von Stichworten, die für Begriffe, Ideen und Dinge stehen, denen er Symptomcharakter für die Umbrüche dieser Zeit zuspricht. Erwartbares wie "Hippies", "Vietnam" oder "high" steht neben Überraschendem wie "Präzisionsschallpegelmesser" (für die Lautstärkemessung ohrenbetäubender Rockkonzerte), "Obst und Gemüse" (Tomaten als Wurfgeschosse), "Globalisierung", (die im Sinne einer Weltrevolution 1967 ihre Premiere hatte) oder "Neger" (Black-Power-Aktivisten forderten erstmals, "Negroes" durch "African-Americans" zu ersetzen).
"1967" zerfällt auf diese Weise in ein Kaleidoskop, zwischen dessen Splittern eher assoziative als kausale Beziehungen bestehen. Dieser fragmentarische Charakter ist einerseits eine Stärke, denn auf diese Weise kommen immer wieder überraschende und erhellende Berührungspunkte und Querverweise zustande. Doch zugleich liegt hier auch eine Schwäche, denn vieles bleibt im Ungefähren, verdichtet sich nicht zu einer Epochensignatur. Auch die Beschränkung auf ein Jahr erweist sich als problematisch, wenn es darum geht, ideengeschichtliche Prozesse einzufangen.
So geht Stockhammer beispielsweise zwar immer wieder auf die Rolle ein, die Themen der Mathematik, des Strukturalismus und der Automatentheorie für den zwischen Gesellschafts- und Erkenntnistheorie oszillierenden Diskurs jener Zeit spielten. Doch durch das Jahreszahlenraster fällt gerade das 1966 erschienene "Kursbuch 5", das mit Aufsätzen von Saussure über Carnap bis Léví-Strauss den Strukturalismus erstmals einem breiteren intellektuellen Publikum in Deutschland bekannt machte und für die künftige Rezeption bedeutsam wurde. Der programmatische Text, den der Ost-Berliner Linguist Manfred Bierwisch - ein enger Freund Uwe Johnsons - hier veröffentlichte, spiegelt die erstaunliche Tatsache, dass ausgerechnet die DDR mit ihrer Allergie gegen "bürgerlichen Formalismus" das erste deutschsprachige Land war, in dem der linguistische Strukturalismus Fuß fasste.
Zwar kommt Stockhammer mehrfach auf die Bedeutung zu sprechen, die die Kybernetik in der DDR und der Sowjetunion zu dieser Zeit spielte. Doch die geistesgeschichtlichen Verbindungen, die sich hieraus ergeben und die mindestens in die späten fünfziger Jahre zurückreichen, bleiben unterbelichtet. Lesenswert ist das Buch gleichwohl, denn es bietet anregende Miniaturen, die deutlich machen, wie avanciert das Denken schon einmal war.
WOLFGANG KRISCHKE
Robert Stockhammer: "1967". Pop, Grammatologie und Politik.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn, 2017. 210 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So viel Ideologiekritik war nie: Der Literaturwissenschaftler Robert Stockhammer versucht eine geistig-politische Kartierung des Jahres 1967
Im Jahr 1967 nahm der Sprachkritiker Dolf Sternberger "Mensch" in das bereits sprichwörtlich gewordene "Wörterbuch des Unmenschen" auf. Diese auf den ersten Blick paradoxe Entscheidung begründete er mit dem sentimentalen und zugleich herablassenden Charakter, den das Wort vor allem im Munde von Politikern angenommen hatte, die damit einen pseudohumanistischen Weichzeichner über politische Entscheidungen legten. Sternberger empfahl, "die Menschen" durch "Leute" zu ersetzen.
Das war eine hellsichtige Diagnose zu einem Zeitpunkt, als die Exzesse des medialen Menschelns erst noch bevorstanden. Zeitgleich gab es auffällige Parallelen zwischen Sternberger mit seiner Forderung nach "mehr Kühle" und anderen Intellektuellen, die den emphatischen Begriff des Menschen ebenfalls kritisch in den Blick nahmen. Dazu gehören vor allem Theoretiker, die sich im Spannungsfeld zwischen Strukturalismus, Marxismus und Kybernetik bewegten. Gemeinsam war ihnen - angesichts der Macht gesellschaftlicher und technischer Strukturen - eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem humanistischen Bild vom Menschen als dem Akteur und Mittelpunkt der Geschichte.
Diese Engführung von Positionen, die untergründig korrespondieren, obwohl ihre Autoren nicht aufeinander Bezug nehmen, ist typisch für Robert Stockhammers Verfahren, die geistig-politische Landschaft des Jahres 1967 zu kartieren. Wer den Fokus auf dieses Jahr legt, der kommt natürlich zunächst einmal dem großen Rummel zuvor, der nächstes Jahr zum fünfzigsten Geburtstag von "68" die Buchwelt heimsuchen wird. Doch wäre es ungerechtfertigt, dem Münchner Komparatisten eine solche Marktstrategie als primäres Motiv zu unterstellen. Er nennt gewichtige inhaltliche Gründe, die dafür sprechen, 1967 zu porträtieren und nicht das berühmtere Jahr danach.
Stockhammer zeigt, wie sich 1967 Diskurse verdichten und verflechten, die nicht einfach eine neue Politik in den alten Bahnen fordern, sondern die die Zeichen- und Kommunikationssysteme selbst in Frage stellen, die der Politik, der Kunst, der Wissenschaft, der Warenwelt zugrunde liegen. Was hier einen historischen Moment lang stattfand, in Flugblättern und Happenings, Rockkonzerten und Theoriezirkeln, sei eine "Sondierung der Basisstruktur der Sprache" gewesen. Stockhammers Formulierung gibt recht gut den technizistisch-utopistischen Sound der Zeit wieder, in der das "Kursbuch" Arbeiten von Alan Turing, John von Neumann und Claude Lévi-Strauss veröffentlichte, Noam Chomsky nicht nur als Transformationsgrammatiker, sondern auch als Kritiker der amerikanischen Vietnam-Politik bekannt wurde und Jacques Derrida den gerade erst modisch gewordenen Strukturalismus als abendländischen "Logozentrismus" zu "dekonstruieren" begann. Ideologiekritik wurde zu einem Bindemittel, das die unterschiedlichsten Disziplinen und Lebensbereiche unter der Perspektive einer Fundamentalkritik vereinte.
Praktisch betrieben wurde die Unterminierung der kommunikativen Konventionen zum Beispiel in den per Flugblatt verbreiteten Sprachspielen der Kommune I, die einen Kaufhausbrand im Stil der Werbung und der Boulevardpresse kommentierte und prompt unter den Verdacht einer Anstiftung zur Brandstiftung geriet. Die Bemühungen von Literaturwissenschaftlern, den rein literarischen Charakter dieser Texte nachzuweisen, hatten zwar vor Gericht Erfolg, unterliefen aber die Absicht der Kommunarden, die Grenzen zwischen Kunst und Politik zu verflüssigen.
Im Gegensatz zu 1967 sieht Stockhammer "1968" als Chiffre für eine bald darauf einsetzende Trivialisierung der Kritik, die sich wieder konventioneller Kommunikationsformen bediente. In der Tat: Analysen auf der Meta-Ebene galten den wenig später entstehenden K-Gruppen bestenfalls als Kapriolen im gesellschaftlichen "Überbau".
Stockhammer schildert 1967 nicht als Ereignisgeschichte. Stattdessen orientiert er sich an einer Reihe von Stichworten, die für Begriffe, Ideen und Dinge stehen, denen er Symptomcharakter für die Umbrüche dieser Zeit zuspricht. Erwartbares wie "Hippies", "Vietnam" oder "high" steht neben Überraschendem wie "Präzisionsschallpegelmesser" (für die Lautstärkemessung ohrenbetäubender Rockkonzerte), "Obst und Gemüse" (Tomaten als Wurfgeschosse), "Globalisierung", (die im Sinne einer Weltrevolution 1967 ihre Premiere hatte) oder "Neger" (Black-Power-Aktivisten forderten erstmals, "Negroes" durch "African-Americans" zu ersetzen).
"1967" zerfällt auf diese Weise in ein Kaleidoskop, zwischen dessen Splittern eher assoziative als kausale Beziehungen bestehen. Dieser fragmentarische Charakter ist einerseits eine Stärke, denn auf diese Weise kommen immer wieder überraschende und erhellende Berührungspunkte und Querverweise zustande. Doch zugleich liegt hier auch eine Schwäche, denn vieles bleibt im Ungefähren, verdichtet sich nicht zu einer Epochensignatur. Auch die Beschränkung auf ein Jahr erweist sich als problematisch, wenn es darum geht, ideengeschichtliche Prozesse einzufangen.
So geht Stockhammer beispielsweise zwar immer wieder auf die Rolle ein, die Themen der Mathematik, des Strukturalismus und der Automatentheorie für den zwischen Gesellschafts- und Erkenntnistheorie oszillierenden Diskurs jener Zeit spielten. Doch durch das Jahreszahlenraster fällt gerade das 1966 erschienene "Kursbuch 5", das mit Aufsätzen von Saussure über Carnap bis Léví-Strauss den Strukturalismus erstmals einem breiteren intellektuellen Publikum in Deutschland bekannt machte und für die künftige Rezeption bedeutsam wurde. Der programmatische Text, den der Ost-Berliner Linguist Manfred Bierwisch - ein enger Freund Uwe Johnsons - hier veröffentlichte, spiegelt die erstaunliche Tatsache, dass ausgerechnet die DDR mit ihrer Allergie gegen "bürgerlichen Formalismus" das erste deutschsprachige Land war, in dem der linguistische Strukturalismus Fuß fasste.
Zwar kommt Stockhammer mehrfach auf die Bedeutung zu sprechen, die die Kybernetik in der DDR und der Sowjetunion zu dieser Zeit spielte. Doch die geistesgeschichtlichen Verbindungen, die sich hieraus ergeben und die mindestens in die späten fünfziger Jahre zurückreichen, bleiben unterbelichtet. Lesenswert ist das Buch gleichwohl, denn es bietet anregende Miniaturen, die deutlich machen, wie avanciert das Denken schon einmal war.
WOLFGANG KRISCHKE
Robert Stockhammer: "1967". Pop, Grammatologie und Politik.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn, 2017. 210 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
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