Geschichte schreiben, meinte Walter Benjamin einmal, heiße "Jahreszahlen ihre Physiognomie" zu geben. Doch welche Gesichtszüge mit "1968" in Verbindung gebracht werden sollen, ist noch immer höchst umstritten. Das schillernde Jahr stand nicht nur für Aufbruch, Umwälzung und Emanzipation, sondern auch für einen Flirt mit dem totalitären Kommunismus und markiert zugleich die Geburtsstunde einer Apologie der Gewalt, des RAF-Terrorismus. In der Erinnerungskultur der Bundesrepublik spielt "1968" dennoch die Rolle einer Art Ursprungsmythos. Ob es sich zum 10., 20., 25. oder zum 30. Mal jährte, jedesmal haben sich die Medien den Hauptereignissen extensiv gewidmet. "1968" wird von vielen als eine Art soziokultureller Nachgründung der Republik angesehen. Inzwischen ist "1968" jedoch vor allem eine Münze im Kampf um das politische Selbstverständnis dieser Republik geworden. Der "Kulturkampf um 68" ist spätestens seit der deutschen Einigung ein ständig wiederkehrender Topos, an dem sich in Öffen tlichkeit und Wissenschaft die Geister scheiden.
Der 68er-Bewegung wird auch von der Zeitgeschichte die Rolle einer bedeutenden, in mancher Hinsicht sogar einzigartigen historischen Zäsur eingeräumt. Mehr und mehr Historiker haben sich darauf besonnen, dass das umstrittene Jahr die Rolle eines Knoten- und Umschlagpunktes in der Geschichte der alten Bundesrepublik spielt. Wer dem "Mythos 68" nicht aufsitzen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als die damalige Jugendbewegung zu historisieren. Es gibt kein politisches Erbe der 68er-Bewegung, auf das sich heute noch irgend jemand unmittelbar berufen könnte.
"1968" war sicher eine starke, vielleicht sogar die weitreichendste politische Herausforderung in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Eine Tiefenwirkung besass die antiautoritäre Bewegung vor allem aber als ein soziokultureller Bruch, als die Implementierung eines neuen Lebensgefühls, das eine erhebliche gesellschaftspolitische Durchsetzungskraft entfaltete. Das erzeugte in de n siebziger Jahren eine nachhaltige Grundspannung zwischen den in ihrer Legitimität in Frage gestellten Institutionen in Erziehung, Wissenschaft, Kirche, Presse usw. und den Staatsorganen sowie den von den etablierten Parteien geprägten Einrichtungen.
Die Frage steht im Raum, ob eine grundlegende Veränderung der Mentalitäten, Lebensstile und Lebensentwürfe, die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Normen, die Fundamentalliberalisierung der neuen Mittelschichten in dieser Form ohne die von der antiautoritären Bewegung freigesetzten Schubkraft überhaupt denkbar gewesen wären. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, einer der genauesten Kenner der 68er-Geschichte, versucht das Schlüsseljahr in seinen wichtigsten gesellschaftspolitischen Dimensionen zu dechiffrieren.
Der 68er-Bewegung wird auch von der Zeitgeschichte die Rolle einer bedeutenden, in mancher Hinsicht sogar einzigartigen historischen Zäsur eingeräumt. Mehr und mehr Historiker haben sich darauf besonnen, dass das umstrittene Jahr die Rolle eines Knoten- und Umschlagpunktes in der Geschichte der alten Bundesrepublik spielt. Wer dem "Mythos 68" nicht aufsitzen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als die damalige Jugendbewegung zu historisieren. Es gibt kein politisches Erbe der 68er-Bewegung, auf das sich heute noch irgend jemand unmittelbar berufen könnte.
"1968" war sicher eine starke, vielleicht sogar die weitreichendste politische Herausforderung in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Eine Tiefenwirkung besass die antiautoritäre Bewegung vor allem aber als ein soziokultureller Bruch, als die Implementierung eines neuen Lebensgefühls, das eine erhebliche gesellschaftspolitische Durchsetzungskraft entfaltete. Das erzeugte in de n siebziger Jahren eine nachhaltige Grundspannung zwischen den in ihrer Legitimität in Frage gestellten Institutionen in Erziehung, Wissenschaft, Kirche, Presse usw. und den Staatsorganen sowie den von den etablierten Parteien geprägten Einrichtungen.
Die Frage steht im Raum, ob eine grundlegende Veränderung der Mentalitäten, Lebensstile und Lebensentwürfe, die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Normen, die Fundamentalliberalisierung der neuen Mittelschichten in dieser Form ohne die von der antiautoritären Bewegung freigesetzten Schubkraft überhaupt denkbar gewesen wären. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, einer der genauesten Kenner der 68er-Geschichte, versucht das Schlüsseljahr in seinen wichtigsten gesellschaftspolitischen Dimensionen zu dechiffrieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2001Ein, zwei, viele Achtundsechzig
Putzmunter: Wolfgang Kraushaar deutet die Studentenrevolte
"1968 ist ebenso nah wie fern", konstatiert der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar in seinem neuen Buch "1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur". Nah und fern zugleich ist das Schlüsseljahr in den kulturellen Prozessen der Gegenwart, die sich im Megahertztakt von dem magischen Datum entfernt und doch von den Achtundsechziger-Impulsen maßgeblich geprägt ist. Das Jahr, in dem Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger aus Protest gegen seine Nazi-Vergangenheit demonstrativ ohrfeigte und dafür bei ihrer Rückkehr in Paris Blumen und Dank von Heinrich Böll vorfand, ist jedenfalls noch längst kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. 1968, für manche gar eine Chiffre für eine Art soziokultureller Nachgründung der Republik, wirkt fort. Analytische Distanz ist nicht leicht zu gewinnen, und die wissenschaftliche Erforschung des Ereigniszusammenhanges, für den das Kürzel 1968 steht, steckt erst in den Anfängen.
Kraushaar, bisher vor allem als Chronist bundesdeutscher Protestbewegungen hervorgetreten, hat nun einen wichtigen Beitrag zu Analyse und Deutung der Ereignisse vorgelegt. In zwölf Essays erörtert der Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung zentrale Aspekte der antiautoritären Revolte, ihrer Bedingungen und Wirkungen. Das Spektrum der Themen reicht von der Globalität des Achtundsechziger-Phänomens über die Rezeption transatlantischer Protesttechniken und die Bedeutung symbolischer Kommunikation bis hin zum Stasi-Einfluß auf die Achtundsechziger-Akteure.
Durchweg deutlich wird die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Dieser hochaufgeladene Diskurs verlieh der bundesdeutschen Revolte eine besondere existentielle Schärfe. Ihre Verkörperung fand die Bewegung in ihrem Wortführer Rudi Dutschke. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn Kraushaar feststellt: "Rudi Dutschke war in der alten Bundesrepublik der wichtigste nichtparteigebunden politisch Handelnde." Zwei Ideenkomplexen von Dutschke widmet Kraushaar besondere Aufmerksamkeit: Dutschkes Diktum vom "langen Marsch durch die Institutionen" und seinen Wiedervereinigungsgedanken. Der "lange Marsch", den "Der Spiegel" unlängst als Achtundsechziger-Erfolgsstory pries und bei dem laut "taz" nur einer durchkam (der Marathonmann Fischer natürlich), erweist sich bei näherem Hinsehen als Adaption von Ideen Che Guevaras und Revolutionstheoremen aus seinem Umkreis. Guerrillakampf in der Dritten Welt und subversiver Kampf im Institutionendschungel der ersten sollten, so Dutschkes Theorie, einander ergänzen.
Daß der Internationalist Dutschke zugleich ein Patriot war, der zeitlebens an der Forderung der Wiedervereinigung Deutschlands festgehalten hat - wenn auch über weite Strecken unter Pseudonym -, weist Kraushaar in einem anderen Text nach. Er legt hier eine Seite Dutschkes frei, die bisher so noch nicht sichtbar war: Er wollte die Spaltung Deutschlands durch einen sozialistischen Umsturz in beiden deutschen Staaten überwinden.
Mit ihren politischen Zielen ist die Achtundsechziger-Revolte fast auf der ganzen Linie gescheitert. Prozesse des Auseinanderfallens und der Radikalisierung waren die Folge. Ein Produkt dieser Entwicklung war die RAF. Kraushaar beschreibt ihr Verhältnis zur Studentenbewegung als eigensinnige Mischung aus Nähe und Distanz. Ins Auge fällt dabei die anhaltende Identifikationsbereitschaft der radikalen Linken mit den selbsternannten Volksbefreiungskämpfern. "Die RAF", so Kraushaar, "war ein Psychodrom". Offenbar eines, das bis in die Gegenwart hineinwirkt, wenn man an die mythologisierenden Tendenzen der jüngsten Erinnerungsbücher aus RAFler-Kreisen denkt. Dieser mit dem Stichwort Psychodrom angedeutete Zusammenhang hätte eine vertiefte Betrachtung verdient.
Um ein aktuelles Psychodrom geht es in dem Beitrag "Die neue Unbefangenheit - Zum Neonationalismus ehemaliger 68er". Bedenkenswert an Kraushaars Perspektive ist die Einzeichnung neorechter bis neofaschistischer Umtriebe von Leuten wie dem Ex-APO-Anwalt und RAF-Mitbegründer Horst Mahler und dem Ex-SDS-Aktivisten und Dutschke-Freund Bernd Rabehl in ein allgemeines Klima der Renationalisierung. "Normalität der Nation" lautet die Devise, die Kraushaar an Äußerungen von Schröder bis Walser abliest. Die Rede von der "Berliner Republik" deutet der Politikwissenschaftler als Trojanisches Pferd, das die Rückkehr "zu einem mehr oder weniger unverhohlenen Machtanspruch" signalisiert. Als Antidot gegen ein Zuviel an nationaler Gesinnung empfiehlt der Autor, unbeirrt weiterhin von der Bundesrepublik zu sprechen.
Doch was, diese Frage schließt sich an, ist aus den Achtundsechziger-Akteuren geworden, deren Perspektive sich weder sektenhaft verengt noch apokalyptisch verfinstert hat? Halten sie, die ehemaligen Staatsgegner, nun endlich die Staatsmacht in den Händen? Keineswegs, antwortet der Autor und weist das besonders von konservativen Medien gern gepflegte Bild zurück. Kraushaars plausible Diagnose: Die einstmalige Anti-Elite der Achtundsechziger-Bewegung sei zu einer "postmaterialistischen Wertelite" mutiert, die vor allem im Medien- und Kulturbereich Einfluß habe. Ihr Markenzeichen seien "nichtmaterialistische Werte", in deren Mittelpunkt die Lebensqualität steht.
Den Abschluß der Sammlung bildet ein instruktiver Literaturbericht, der nicht nur die neuere sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur berücksichtigt, sondern auch die in letzter Zeit erschienenen Bildbände kritisch unter die Lupe nimmt. Sie machen auf ein wesentliches Merkmal der Achtundsechziger-Revolte aufmerksam, das in den wissenschaftlichen Analysen nicht gebührend zur Geltung kommt: die neue Expressivität und Körperlichkeit der damaligen Protestinszenierungen und Demonstrationen, verstärkt durch die Wechselwirkung zwischen der Entdeckung von körperlicher Subjektivität und der zunehmenden Medialisierung des öffentlichen Raumes. Seinen Bericht bilanzierend, stellt Kraushaar Interpretationstendenzen heraus, die zugleich für seine eigenen Analysen charakteristisch sind. Danach zeigt sich in der neueren Literatur eine Dominanz kultureller Deutungen gegenüber politischen, eine Betonung von Globalität, Heterogenität und Kontingenzcharakter des Gesamtphänomens 1968, seiner symbolischen Aufladung und der postmodernen Verschiebung des theoretischen Rahmens seiner Betrachtung. Hans Magnus Enzensberger notierte im Rückblick auf 1968: "Jeder Versuch, den Tumult intelligibel zu machen, endete notwendig im ideologischen Kauderwelsch. Die Erinnerung an das Jahr 1968 kann deshalb nur eine Form annehmen: die der Collage." Kraushaars Buch erweist sich - eine Art Gegenbeweis erbringend - als eine Collage, die hilft, den Tumult besser zu verstehen.
JÖRG HERRMANN
Wolfgang Kraushaar: "1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur". Hamburger Edition, Hamburg 2000. 350 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Putzmunter: Wolfgang Kraushaar deutet die Studentenrevolte
"1968 ist ebenso nah wie fern", konstatiert der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar in seinem neuen Buch "1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur". Nah und fern zugleich ist das Schlüsseljahr in den kulturellen Prozessen der Gegenwart, die sich im Megahertztakt von dem magischen Datum entfernt und doch von den Achtundsechziger-Impulsen maßgeblich geprägt ist. Das Jahr, in dem Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger aus Protest gegen seine Nazi-Vergangenheit demonstrativ ohrfeigte und dafür bei ihrer Rückkehr in Paris Blumen und Dank von Heinrich Böll vorfand, ist jedenfalls noch längst kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. 1968, für manche gar eine Chiffre für eine Art soziokultureller Nachgründung der Republik, wirkt fort. Analytische Distanz ist nicht leicht zu gewinnen, und die wissenschaftliche Erforschung des Ereigniszusammenhanges, für den das Kürzel 1968 steht, steckt erst in den Anfängen.
Kraushaar, bisher vor allem als Chronist bundesdeutscher Protestbewegungen hervorgetreten, hat nun einen wichtigen Beitrag zu Analyse und Deutung der Ereignisse vorgelegt. In zwölf Essays erörtert der Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung zentrale Aspekte der antiautoritären Revolte, ihrer Bedingungen und Wirkungen. Das Spektrum der Themen reicht von der Globalität des Achtundsechziger-Phänomens über die Rezeption transatlantischer Protesttechniken und die Bedeutung symbolischer Kommunikation bis hin zum Stasi-Einfluß auf die Achtundsechziger-Akteure.
Durchweg deutlich wird die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Dieser hochaufgeladene Diskurs verlieh der bundesdeutschen Revolte eine besondere existentielle Schärfe. Ihre Verkörperung fand die Bewegung in ihrem Wortführer Rudi Dutschke. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn Kraushaar feststellt: "Rudi Dutschke war in der alten Bundesrepublik der wichtigste nichtparteigebunden politisch Handelnde." Zwei Ideenkomplexen von Dutschke widmet Kraushaar besondere Aufmerksamkeit: Dutschkes Diktum vom "langen Marsch durch die Institutionen" und seinen Wiedervereinigungsgedanken. Der "lange Marsch", den "Der Spiegel" unlängst als Achtundsechziger-Erfolgsstory pries und bei dem laut "taz" nur einer durchkam (der Marathonmann Fischer natürlich), erweist sich bei näherem Hinsehen als Adaption von Ideen Che Guevaras und Revolutionstheoremen aus seinem Umkreis. Guerrillakampf in der Dritten Welt und subversiver Kampf im Institutionendschungel der ersten sollten, so Dutschkes Theorie, einander ergänzen.
Daß der Internationalist Dutschke zugleich ein Patriot war, der zeitlebens an der Forderung der Wiedervereinigung Deutschlands festgehalten hat - wenn auch über weite Strecken unter Pseudonym -, weist Kraushaar in einem anderen Text nach. Er legt hier eine Seite Dutschkes frei, die bisher so noch nicht sichtbar war: Er wollte die Spaltung Deutschlands durch einen sozialistischen Umsturz in beiden deutschen Staaten überwinden.
Mit ihren politischen Zielen ist die Achtundsechziger-Revolte fast auf der ganzen Linie gescheitert. Prozesse des Auseinanderfallens und der Radikalisierung waren die Folge. Ein Produkt dieser Entwicklung war die RAF. Kraushaar beschreibt ihr Verhältnis zur Studentenbewegung als eigensinnige Mischung aus Nähe und Distanz. Ins Auge fällt dabei die anhaltende Identifikationsbereitschaft der radikalen Linken mit den selbsternannten Volksbefreiungskämpfern. "Die RAF", so Kraushaar, "war ein Psychodrom". Offenbar eines, das bis in die Gegenwart hineinwirkt, wenn man an die mythologisierenden Tendenzen der jüngsten Erinnerungsbücher aus RAFler-Kreisen denkt. Dieser mit dem Stichwort Psychodrom angedeutete Zusammenhang hätte eine vertiefte Betrachtung verdient.
Um ein aktuelles Psychodrom geht es in dem Beitrag "Die neue Unbefangenheit - Zum Neonationalismus ehemaliger 68er". Bedenkenswert an Kraushaars Perspektive ist die Einzeichnung neorechter bis neofaschistischer Umtriebe von Leuten wie dem Ex-APO-Anwalt und RAF-Mitbegründer Horst Mahler und dem Ex-SDS-Aktivisten und Dutschke-Freund Bernd Rabehl in ein allgemeines Klima der Renationalisierung. "Normalität der Nation" lautet die Devise, die Kraushaar an Äußerungen von Schröder bis Walser abliest. Die Rede von der "Berliner Republik" deutet der Politikwissenschaftler als Trojanisches Pferd, das die Rückkehr "zu einem mehr oder weniger unverhohlenen Machtanspruch" signalisiert. Als Antidot gegen ein Zuviel an nationaler Gesinnung empfiehlt der Autor, unbeirrt weiterhin von der Bundesrepublik zu sprechen.
Doch was, diese Frage schließt sich an, ist aus den Achtundsechziger-Akteuren geworden, deren Perspektive sich weder sektenhaft verengt noch apokalyptisch verfinstert hat? Halten sie, die ehemaligen Staatsgegner, nun endlich die Staatsmacht in den Händen? Keineswegs, antwortet der Autor und weist das besonders von konservativen Medien gern gepflegte Bild zurück. Kraushaars plausible Diagnose: Die einstmalige Anti-Elite der Achtundsechziger-Bewegung sei zu einer "postmaterialistischen Wertelite" mutiert, die vor allem im Medien- und Kulturbereich Einfluß habe. Ihr Markenzeichen seien "nichtmaterialistische Werte", in deren Mittelpunkt die Lebensqualität steht.
Den Abschluß der Sammlung bildet ein instruktiver Literaturbericht, der nicht nur die neuere sozial- und geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur berücksichtigt, sondern auch die in letzter Zeit erschienenen Bildbände kritisch unter die Lupe nimmt. Sie machen auf ein wesentliches Merkmal der Achtundsechziger-Revolte aufmerksam, das in den wissenschaftlichen Analysen nicht gebührend zur Geltung kommt: die neue Expressivität und Körperlichkeit der damaligen Protestinszenierungen und Demonstrationen, verstärkt durch die Wechselwirkung zwischen der Entdeckung von körperlicher Subjektivität und der zunehmenden Medialisierung des öffentlichen Raumes. Seinen Bericht bilanzierend, stellt Kraushaar Interpretationstendenzen heraus, die zugleich für seine eigenen Analysen charakteristisch sind. Danach zeigt sich in der neueren Literatur eine Dominanz kultureller Deutungen gegenüber politischen, eine Betonung von Globalität, Heterogenität und Kontingenzcharakter des Gesamtphänomens 1968, seiner symbolischen Aufladung und der postmodernen Verschiebung des theoretischen Rahmens seiner Betrachtung. Hans Magnus Enzensberger notierte im Rückblick auf 1968: "Jeder Versuch, den Tumult intelligibel zu machen, endete notwendig im ideologischen Kauderwelsch. Die Erinnerung an das Jahr 1968 kann deshalb nur eine Form annehmen: die der Collage." Kraushaars Buch erweist sich - eine Art Gegenbeweis erbringend - als eine Collage, die hilft, den Tumult besser zu verstehen.
JÖRG HERRMANN
Wolfgang Kraushaar: "1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur". Hamburger Edition, Hamburg 2000. 350 S., geb., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zwiespältig fällt das Urteil des Rezensenten Hanno Zickgraf zu diesem neuesten Beitrag Kraushaars zur 68er-Forschung aus. Der "bedeutungsschwangere Titel" stehe in offensichtlichem Kontrast zum "Illustriertenstil" des Buches. Unangenehm fällt Zickgraf das Anbiederische von Kraushaars Ausführungen auf, seinen theoretischen Ansprüchen werde der Band an keiner Stelle gerecht. Interessant, wenngleich "zum Gruseln" dagegen, so der Rezensent, die geschilderten Biografien der rechtsgewendeten einstigen 68er von Horst Mahler (und dessen Beziehungen zu Gerhard Schröder) bis Bernd Rabehl - die Zickgraf zu unguten Spekulationen über Rudi Dutschke und den Wendungen veranlasst, die er hätte nehmen können, würde er bis heute leben. Insgesamt kommen die 68er hier jedenfalls nicht besonders gut weg, sondern erscheinen, in den Worten des Rezensenten, vorwiegend als "falsche Fuffziger".
© Perlentaucher Medien GmbH
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