Die große Bildgeschichte des Jahres, das die Welt verändere. 1968 ist längst die Chiffre eines gesellschaftlichen Umbruchs, erstarrt in den immergleichen Argumenten und Bildern. Adres Veiel und Gerd Koenen sind in die Archive gestiegen und haben nie zuvor Gesehenes, lange Vergessenes hervorgezogen. Sie zeigen und erzählen die Geschichte dieses atemlosen Jahres, eine Geschichte, die lange vor 1968 beginnt und weit darüber hinausreicht. Veiel und Koenen nehmen die Bildspur von"68"bei der Spiegelaffäre, dem Auschwitzprozeß und dem Vietnamkrieg auf, folgend ihr über die Kommune 1, den Prager Frühling, die Rassenunruhen in den USA und die deutsche Studentenbewegung bis zur Radikalisierung des Protestes durch die RAF. Ihr Blick schweift aber immer wieder von den Hauptsträngen ab und fällt etwas auf die"unzüchtige"Uschi Glas oder Heintjes großen Erfolge, ohne die die Geschichte dieses Jahres unvollständig wäre.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2008Hendrix, Heintje, Haue
Die Bildspur des Jahres 1968
Sit-Ins, Demonstrationen, Straßenkämpfe, Attentate . . . Gewalt hat das Jahr 1968 geprägt, meistens kollektive, der Clash der Generationen, der politischen Ideologien. Die Eruptionen der sexuellen Befreiung, Anti-Springer und Anti-Vietnam, Brandsätze in Kaufhäusern. Die Vorstellungen davon haben sich verfestigt, zu einem Mythos ’68, der nun, vierzig Jahre danach, erneut zelebriert, bestaunt, hinterfragt wird. Um den Déjà-vu-Effekt zu bannen, der gerade bei diesen Ereignissen so stark und suggestiv wirkt.
Der Filmemacher Andres Veiel weiß, was passiert, wenn Bilder aufeinandertreffen, er hat es in Filmen wie „Die Überlebenden” oder „Black Box BRD” demonstriert. Über 20 000 Fotos von ’68 hat er gesichtet, und er legt in dem Band „1968” nun die „Bildspur eines Jahres”. Gerd Koenen liefert eine Chronik der Ereignisse dazu, in persönlicher Perspektive, er war damals in vorderster Linie dabei (Fackelträger Verlag, Köln 2008, 194 Seiten, 29,95 Euro). Man kann den Band als Teil eines großen gemeinsamen Projekts von Veiel/Koenen sehen, sie arbeiten an einem Film über die Vorgeschichte des RAF-Terrorismus, nach Koenens Buch „Vesper, Ensslin, Baader” – das soll Veiels erster Spielfilm werden.
Wie einen Film könnte man dieses Buch lesen, es bricht den Autonomieanspruch des einzelnen Bildes auf, seine Singularität, seine Ikonenhaftigkeit. Man erlebt das Geschehen in der Bundesrepublik (Protest gegen Springer auf der Frankfurter Buchmesse, rechts unten: Siegfried Unseld; Straßenkampf in München im April, bei dem es zwei Tote gibt, einer von ihnen der Fotograf Klaus Frings; Fotos: Verlag), aber auch den internationalen Kontext, von den Bränden im Pariser Quartier Latin zum Einmarsch in Prag. Die Bilder verwenden alle möglichen visuellen Strategien, den Blick aus dem Fenster, von dem aus Martin Luther King erschossen wurde, die knappe Verbeugung des Kanzlers Kiesinger vor Franco, die Konfrontation von Jimi Hendrix und Heintje, immer wieder die Massen in den Straßen der großen Städte. Aber spannend ist vor allem das, was Roland Barthes den „stumpfen Sinn” nannte, all das also, was weder erzählerisch noch historisch erfasst wird bei der Lektüre eines Bildes, was irritierend weiterwirkt und verstörend. Das Lachen des Chauffeurs, der Robert Kennedy im Wahlkampf durch die Straßen von Philadelphia kutschiert. Oder die verschatteten, fast träumerischen Blicke eines tschechischen Protestlers und eines jungen sowjetischen Offiziers auf seinem Panzer, die vom Ende des Prager Frühlings erzählen.FRITZ GÖTTLER
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die Bildspur des Jahres 1968
Sit-Ins, Demonstrationen, Straßenkämpfe, Attentate . . . Gewalt hat das Jahr 1968 geprägt, meistens kollektive, der Clash der Generationen, der politischen Ideologien. Die Eruptionen der sexuellen Befreiung, Anti-Springer und Anti-Vietnam, Brandsätze in Kaufhäusern. Die Vorstellungen davon haben sich verfestigt, zu einem Mythos ’68, der nun, vierzig Jahre danach, erneut zelebriert, bestaunt, hinterfragt wird. Um den Déjà-vu-Effekt zu bannen, der gerade bei diesen Ereignissen so stark und suggestiv wirkt.
Der Filmemacher Andres Veiel weiß, was passiert, wenn Bilder aufeinandertreffen, er hat es in Filmen wie „Die Überlebenden” oder „Black Box BRD” demonstriert. Über 20 000 Fotos von ’68 hat er gesichtet, und er legt in dem Band „1968” nun die „Bildspur eines Jahres”. Gerd Koenen liefert eine Chronik der Ereignisse dazu, in persönlicher Perspektive, er war damals in vorderster Linie dabei (Fackelträger Verlag, Köln 2008, 194 Seiten, 29,95 Euro). Man kann den Band als Teil eines großen gemeinsamen Projekts von Veiel/Koenen sehen, sie arbeiten an einem Film über die Vorgeschichte des RAF-Terrorismus, nach Koenens Buch „Vesper, Ensslin, Baader” – das soll Veiels erster Spielfilm werden.
Wie einen Film könnte man dieses Buch lesen, es bricht den Autonomieanspruch des einzelnen Bildes auf, seine Singularität, seine Ikonenhaftigkeit. Man erlebt das Geschehen in der Bundesrepublik (Protest gegen Springer auf der Frankfurter Buchmesse, rechts unten: Siegfried Unseld; Straßenkampf in München im April, bei dem es zwei Tote gibt, einer von ihnen der Fotograf Klaus Frings; Fotos: Verlag), aber auch den internationalen Kontext, von den Bränden im Pariser Quartier Latin zum Einmarsch in Prag. Die Bilder verwenden alle möglichen visuellen Strategien, den Blick aus dem Fenster, von dem aus Martin Luther King erschossen wurde, die knappe Verbeugung des Kanzlers Kiesinger vor Franco, die Konfrontation von Jimi Hendrix und Heintje, immer wieder die Massen in den Straßen der großen Städte. Aber spannend ist vor allem das, was Roland Barthes den „stumpfen Sinn” nannte, all das also, was weder erzählerisch noch historisch erfasst wird bei der Lektüre eines Bildes, was irritierend weiterwirkt und verstörend. Das Lachen des Chauffeurs, der Robert Kennedy im Wahlkampf durch die Straßen von Philadelphia kutschiert. Oder die verschatteten, fast träumerischen Blicke eines tschechischen Protestlers und eines jungen sowjetischen Offiziers auf seinem Panzer, die vom Ende des Prager Frühlings erzählen.FRITZ GÖTTLER
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH