Das Erscheinen des ersten Bandes von Michel Foucaults »Schriften« wurde weithin als Ereignis wahrgenommen. Mit der in weiten Teilen erstmaligen Übersetzung aller Aufsätze, Interviews und kleineren Arbeiten Foucaults liegt nun derjenige Teil von Michel Foucaults Werk vor, der ihn zu Lebzeiten zum Klassiker und zum 'enfant terrible' der philosophischen Szene gemacht hatte: Seine Art, archäologische und genealogische Perspektiven aufeinander zu beziehen und eine detaillierte historische Arbeit immer mit Blick auf die Gegenwart zu profilieren, hat die Theorielandschaft nachhaltig erschüttert und radikal verändert. Daß Foucault dabei in immer wieder verblüffender und überraschender Weise seine eigenen theoretischen Ansätze verändert und neu bestimmt, zeigt sich im zweiten Band der »Schriften«, der den Zeitraum von 1970 bis 1975 umfaßt. In seiner theoretischen wie politischen Auseinandersetzung mit dem Gefängnis, die in den großangelegten Band 'Überwachen und Strafen' mündet, profilieren sich die Genealogie als theoretischer Fokus und die Neubestimmung einer Theorie der Macht als wirkmächtige Kritik an der philosophischen, psychoanalytischen und politischen Tradition. Foucaults Entwurf einer Disziplinarmacht als höchst provokative Verbindung einer Theorie der Genealogie, der Norm, der Subjektivität, der Institutionen, der Macht, der Politik und des Rechts hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das gesamte Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften. Eine Vielzahl der Beiträge ist dem politischen Engagement Foucaults gewidmet: Foucault als luzider Kritiker des politischen Systems, das ist eine der Entdeckungen, die dieser Band bereithält.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002Ich werde jetzt etwas ungeheuer Naives sagen
Aber daraus ist dann doch nichts geworden – und nun erweist sich der zweite Band der „Schriften”, der Michel Foucaults unruhiges Denken nach dem Mai 68 zeigt, als hochaktive Gedankenblitzanlage
1994, also genau zehn Jahre nach dem Tod Michel Foucaults, sind in Paris die von Daniel Defert und Fraçois Ewald edierten „Dits et écrits” des Philosophen in vier Bänden erschienen. Die fast viertausendseitige Sammlung enthält alle Publikationen Foucaults mit Ausnahme der Bücher: Aufsätze, Zeitungsartikel, Kritiken, Interviews, Vorträge, soweit sie später publiziert wurden, etc. Vor einem Jahr hat der Suhrkamp Verlag den ersten Band der deutschen Übersetzung dieser Schriften Foucaults veröffentlicht; jetzt liegt der 1031seitige zweite Band vor.
Eine oberflächliche Kritik könnte fragen, was es bringt, Foucault in diesem Umfang zu dokumentieren. Eine bloße Geröllhalde von Textvarianten zuhanden einer gelehrten Foucault-Gemeinde, die nun ins Philologische abgleitet, um so endgültig irrelevant zu werden? Man darf diesen Verdacht mit gutem Gewissen abweisen, zuerst mit einem schlichten Argument: Wem „Wahnsinn und Gesellschaft” oder „Überwachen und Strafen” zu dickleibig und zu gelehrt ist, der lese nun in den Schriften doch zwei, drei Interviews mit Foucault, um zu verstehen, um was es ihm ging. Foucault – und das ist überraschend und erfrischend zugleich – geizt nicht mit einfachen Worten und einprägsamen Aussagen. In solchen Gesprächen wird deutlich, wie sehr er nicht „Philosoph” sein, sondern konkrete Dinge benennen wollte: „In Wirklichkeit werde ich etwas ungeheuer Naives sagen, aber ich habe bis dato nur Naives gesagt, dies wird nur ein weitere Fall sein”, behauptet er in einem Interview in Radio France vom 10. März 1975, und man glaubt es ihm beinahe.
Die Waffe Wissen
Mehr Grund noch, diesen dickleibigen Schriften-Band ernst zu nehmen, als die relative leichte Zugänglichkeit, die uns Foucault in solchen Gesprächen zu seinem Denken gewährt, liegt im Status dieser „Gelegenheits”- Texte selbst. Zweifellos ist Foucault mit seinen Büchern berühmt geworden, doch er war ein viel zu unruhiger Geist, als dass er sich mit der geduldigen Synthetisierung und Kodifizierung seines breiten historischen Wissens und seiner philosophischen Reflexion hätte begnügen mögen. Im erwähnten Radio- Interview antwortet er auf die entsprechende Frage: „Bilde ich denn die Synthese? Ich versuche nicht, das zu tun, und ich möchte es genau genommen auch nicht tun. Mich interessieren viel mehr diese Wissensfragmente, die man wieder entstehen lassen kann, denen man einen aktuellen politischen Sinn geben kann, die man wie Waffen funktionieren lassen kann, ein Wissen, das gleichzeitig eine Strategie wäre, ein Wissen, das gleichzeitig eine Rüstung oder eine Angriffswaffe wäre. Das genau interessiert mich.”
Wissensfragmente als Waffen – das beschreibt den intellektuellen Gestus des Professors am Collège de France in jenen Jahren nach der Studentenrevolution im Mai 68 vielleicht am besten. Einer späteren Selbstdarstellung seines Werkes zufolge vollzog Foucault in den frühen 1970er Jahren den Übergang von einer Analyse der Wissenssysteme zur Analytik der Macht, was 1975 in der Publikation von „Überwachen und Strafen” gipfelt. Es ist nun spannend, anhand der Text aus den Jahren 1970-1975 nachzuvollziehen, wie sehr diese Bewegung seines Denkens von der Praxis der politischen Agitation ausging, die einen Denker erfasst hatte, der zwar nie ein Strukturalist hatte sein wollen, der sich aber doch noch 1969 als „glücklichen Positivisten” bezeichnete, der sich darauf beschränkte, Wissenssysteme als solche zu beschreiben. Nicht, dass Foucault mit dem Mai 68 seinen Analysen untreu geworden wäre, die ja zuallererst der Ausschließung des Wahnsinns und später der „Geburt der Klink” gegolten hatten. Vielmehr bekennt er 1975 nicht ohne Stolz, die Linke beginne nun endlich zu realisieren, dass diese Formen der Machtausübung an den Rändern der Gesellschaft genauso relevant seien wie die Frage der Mehrwertproduktion. Zweifellos also: Foucault bleibt auch nach dem Mai ein „Archivar”, wie er 1971 sagt, aber er wird revolutionär.
Das Jahr 1971 verändert vieles. In einem Interview mit dem Journal de Génève ein paar Monate später setzt er gleich noch eins drauf: „Auch ich habe mich früher mit so abstrakten und fern liegenden Dingen wie der Wissenschaftsgeschichte befasst. Heute möchte ich wirklich davon loskommen.” Das neue Thema ist das Gefängnis, und es ist zuerst die Groupe d’Information sur les Prisons (G.I.P.), in der er sich mit Deleuze und anderen organisiert, um „den Inhaftierten die Möglichkeit zu geben, ganz buchstäblich das Wort zu ergreifen”. Kein linkes Projekt im klassischen Sinne, weder was die revolutionären Subjekte noch was die Methoden oder gar die Ziele dieses Kampfes betrifft, sondern am ehesten eine Art linksradikales Aufbegehren gegen jede Form von Macht und Unterdrückung.
Foucault will nun nicht mehr Bücher schreiben, sondern agitieren. In einem Gespräch mit Niklaus Meienberg für das Magazin des Zürcher Tages-Anzeiger führt er seine Beschäftigung mit dem Gefängnis unmittelbar auf das „Problem der Repression und der gerichtlichen Verfolgung nach dem Mai 68” zurück und bemerkt: „Mit dem G.I.P. beschäftige ich mich genau deshalb, weil ich eine effektive Arbeit dem universitären Geschwätz und dem Büchergekritzel vorziehe. Heute eine Fortsetzung meiner „Histoire de la folie” ( „Wahnsinn und Gesellschaft”) zu schreiben, die bis in die gegenwärtig Epoche reichen würde, ist für mich nutzlos. Dagegen erscheint mir eine konkrete politische Aktion zugunsten der Gefangenen sinnvoll.” Es ist offensichtlich: Die diskursanalytische Phase ist vorbei. Für Foucault ist „die Welt” nun „eine große Anstalt, in der die Regierenden die Psychologen und das Volk die Patienten sind”, wie er im Juni 1973 der Revista Manchete sagt. Er kämpft gegen eine Machtform, die auf dem „Klinikmodell” basiert und in der sich diffus die Einschließungsmechanismen des Gefängnisses mit der kalten, ausschließenden Diagnostik der Psychiater verbinden. Diese Macht zielt in einer unendlichen, vielgestaltigen „Orthopädie” auf den Körper, um ihm eine „Seele” zu erzeugen und eine „Identität” einzuprägen.
Büchergekritzel als Nebenarbeit
Er, der nicht mehr schreiben wollte und der, wie Didier Eribon in seiner Foucault-Biographie dokumentiert hat, seinen Kollegen am Collège de France durch seine revolutionären Auftritte heilige Schrecken einjagte, hat dann aber doch in offenbar kürzester Frist das monumentale „Überwachen und Strafen” zu Papier gebracht. Von den Anstrengungen der Archivarbeit, der Quellenlektüre und des Schreibens findet sich in den hier vorliegenden Texten kaum ein Reflex. Büchergekritzel, scheinbar nebenbei erledigt... Erstaunlicher Foucault. Erstaunlich ist auch, wie gewisse Themen und Denkfiguren, die aus heutiger Perspektive immer schon foucaultianisch waren, noch fast vollständig abwesend sind. In erster Linie die „Biopolitik”: Der Begriff kommt bis 1975 (wenn ich mich nicht täusche) nicht vor, und der Zugriff der Macht auf die Menschen läuft hier immer noch als „orthopädische” Disziplinierung – hier gibt es noch kein Sexualitätsdispositv, das zugleich die Disziplinierung von Körpern wie die Regulation von ganzen Bevölkerungen über das Instrument des Sex ermögliche. Und vor allem: Hier, in jenen Schriften bis 1975, die noch ganz im Bann der Gefängniskämpfe stehen, erscheint auch der Sex noch als „unterdrückt”! Erst ganz am Schluss des Bandes, im Resumée seines Vorlesungszyklus „Les anormaux” von 1974-75, taucht der Gedanke auf, dass der im späten 18. Jahrhundert einsetzende Kreuzzug gegen die Onanie „nicht die Form einer allgemeinen Sexualdisziplin” annahm, sondern in „rätselhafter” Weise damit zutun haben müsse, den Sex zum Thema zu machen. Nicht einmal ein Jahr später, 1976, publizierte Foucault dann mit „Der Wille zum Wissen” sein vielleicht wichtigstes Buch.
PHILIPP SARASIN
MICHEL FOUCAULT: Schriften in vier Bänden, Band II: 1970-1975. Hrsg. von Daniel Defert und Fraçois Ewald. Aus dem Französischen von R. Ansén, M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1031 Seiten, 58 Euro. (Ab 17. Oktober im Buchhandel.)
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Aber daraus ist dann doch nichts geworden – und nun erweist sich der zweite Band der „Schriften”, der Michel Foucaults unruhiges Denken nach dem Mai 68 zeigt, als hochaktive Gedankenblitzanlage
1994, also genau zehn Jahre nach dem Tod Michel Foucaults, sind in Paris die von Daniel Defert und Fraçois Ewald edierten „Dits et écrits” des Philosophen in vier Bänden erschienen. Die fast viertausendseitige Sammlung enthält alle Publikationen Foucaults mit Ausnahme der Bücher: Aufsätze, Zeitungsartikel, Kritiken, Interviews, Vorträge, soweit sie später publiziert wurden, etc. Vor einem Jahr hat der Suhrkamp Verlag den ersten Band der deutschen Übersetzung dieser Schriften Foucaults veröffentlicht; jetzt liegt der 1031seitige zweite Band vor.
Eine oberflächliche Kritik könnte fragen, was es bringt, Foucault in diesem Umfang zu dokumentieren. Eine bloße Geröllhalde von Textvarianten zuhanden einer gelehrten Foucault-Gemeinde, die nun ins Philologische abgleitet, um so endgültig irrelevant zu werden? Man darf diesen Verdacht mit gutem Gewissen abweisen, zuerst mit einem schlichten Argument: Wem „Wahnsinn und Gesellschaft” oder „Überwachen und Strafen” zu dickleibig und zu gelehrt ist, der lese nun in den Schriften doch zwei, drei Interviews mit Foucault, um zu verstehen, um was es ihm ging. Foucault – und das ist überraschend und erfrischend zugleich – geizt nicht mit einfachen Worten und einprägsamen Aussagen. In solchen Gesprächen wird deutlich, wie sehr er nicht „Philosoph” sein, sondern konkrete Dinge benennen wollte: „In Wirklichkeit werde ich etwas ungeheuer Naives sagen, aber ich habe bis dato nur Naives gesagt, dies wird nur ein weitere Fall sein”, behauptet er in einem Interview in Radio France vom 10. März 1975, und man glaubt es ihm beinahe.
Die Waffe Wissen
Mehr Grund noch, diesen dickleibigen Schriften-Band ernst zu nehmen, als die relative leichte Zugänglichkeit, die uns Foucault in solchen Gesprächen zu seinem Denken gewährt, liegt im Status dieser „Gelegenheits”- Texte selbst. Zweifellos ist Foucault mit seinen Büchern berühmt geworden, doch er war ein viel zu unruhiger Geist, als dass er sich mit der geduldigen Synthetisierung und Kodifizierung seines breiten historischen Wissens und seiner philosophischen Reflexion hätte begnügen mögen. Im erwähnten Radio- Interview antwortet er auf die entsprechende Frage: „Bilde ich denn die Synthese? Ich versuche nicht, das zu tun, und ich möchte es genau genommen auch nicht tun. Mich interessieren viel mehr diese Wissensfragmente, die man wieder entstehen lassen kann, denen man einen aktuellen politischen Sinn geben kann, die man wie Waffen funktionieren lassen kann, ein Wissen, das gleichzeitig eine Strategie wäre, ein Wissen, das gleichzeitig eine Rüstung oder eine Angriffswaffe wäre. Das genau interessiert mich.”
Wissensfragmente als Waffen – das beschreibt den intellektuellen Gestus des Professors am Collège de France in jenen Jahren nach der Studentenrevolution im Mai 68 vielleicht am besten. Einer späteren Selbstdarstellung seines Werkes zufolge vollzog Foucault in den frühen 1970er Jahren den Übergang von einer Analyse der Wissenssysteme zur Analytik der Macht, was 1975 in der Publikation von „Überwachen und Strafen” gipfelt. Es ist nun spannend, anhand der Text aus den Jahren 1970-1975 nachzuvollziehen, wie sehr diese Bewegung seines Denkens von der Praxis der politischen Agitation ausging, die einen Denker erfasst hatte, der zwar nie ein Strukturalist hatte sein wollen, der sich aber doch noch 1969 als „glücklichen Positivisten” bezeichnete, der sich darauf beschränkte, Wissenssysteme als solche zu beschreiben. Nicht, dass Foucault mit dem Mai 68 seinen Analysen untreu geworden wäre, die ja zuallererst der Ausschließung des Wahnsinns und später der „Geburt der Klink” gegolten hatten. Vielmehr bekennt er 1975 nicht ohne Stolz, die Linke beginne nun endlich zu realisieren, dass diese Formen der Machtausübung an den Rändern der Gesellschaft genauso relevant seien wie die Frage der Mehrwertproduktion. Zweifellos also: Foucault bleibt auch nach dem Mai ein „Archivar”, wie er 1971 sagt, aber er wird revolutionär.
Das Jahr 1971 verändert vieles. In einem Interview mit dem Journal de Génève ein paar Monate später setzt er gleich noch eins drauf: „Auch ich habe mich früher mit so abstrakten und fern liegenden Dingen wie der Wissenschaftsgeschichte befasst. Heute möchte ich wirklich davon loskommen.” Das neue Thema ist das Gefängnis, und es ist zuerst die Groupe d’Information sur les Prisons (G.I.P.), in der er sich mit Deleuze und anderen organisiert, um „den Inhaftierten die Möglichkeit zu geben, ganz buchstäblich das Wort zu ergreifen”. Kein linkes Projekt im klassischen Sinne, weder was die revolutionären Subjekte noch was die Methoden oder gar die Ziele dieses Kampfes betrifft, sondern am ehesten eine Art linksradikales Aufbegehren gegen jede Form von Macht und Unterdrückung.
Foucault will nun nicht mehr Bücher schreiben, sondern agitieren. In einem Gespräch mit Niklaus Meienberg für das Magazin des Zürcher Tages-Anzeiger führt er seine Beschäftigung mit dem Gefängnis unmittelbar auf das „Problem der Repression und der gerichtlichen Verfolgung nach dem Mai 68” zurück und bemerkt: „Mit dem G.I.P. beschäftige ich mich genau deshalb, weil ich eine effektive Arbeit dem universitären Geschwätz und dem Büchergekritzel vorziehe. Heute eine Fortsetzung meiner „Histoire de la folie” ( „Wahnsinn und Gesellschaft”) zu schreiben, die bis in die gegenwärtig Epoche reichen würde, ist für mich nutzlos. Dagegen erscheint mir eine konkrete politische Aktion zugunsten der Gefangenen sinnvoll.” Es ist offensichtlich: Die diskursanalytische Phase ist vorbei. Für Foucault ist „die Welt” nun „eine große Anstalt, in der die Regierenden die Psychologen und das Volk die Patienten sind”, wie er im Juni 1973 der Revista Manchete sagt. Er kämpft gegen eine Machtform, die auf dem „Klinikmodell” basiert und in der sich diffus die Einschließungsmechanismen des Gefängnisses mit der kalten, ausschließenden Diagnostik der Psychiater verbinden. Diese Macht zielt in einer unendlichen, vielgestaltigen „Orthopädie” auf den Körper, um ihm eine „Seele” zu erzeugen und eine „Identität” einzuprägen.
Büchergekritzel als Nebenarbeit
Er, der nicht mehr schreiben wollte und der, wie Didier Eribon in seiner Foucault-Biographie dokumentiert hat, seinen Kollegen am Collège de France durch seine revolutionären Auftritte heilige Schrecken einjagte, hat dann aber doch in offenbar kürzester Frist das monumentale „Überwachen und Strafen” zu Papier gebracht. Von den Anstrengungen der Archivarbeit, der Quellenlektüre und des Schreibens findet sich in den hier vorliegenden Texten kaum ein Reflex. Büchergekritzel, scheinbar nebenbei erledigt... Erstaunlicher Foucault. Erstaunlich ist auch, wie gewisse Themen und Denkfiguren, die aus heutiger Perspektive immer schon foucaultianisch waren, noch fast vollständig abwesend sind. In erster Linie die „Biopolitik”: Der Begriff kommt bis 1975 (wenn ich mich nicht täusche) nicht vor, und der Zugriff der Macht auf die Menschen läuft hier immer noch als „orthopädische” Disziplinierung – hier gibt es noch kein Sexualitätsdispositv, das zugleich die Disziplinierung von Körpern wie die Regulation von ganzen Bevölkerungen über das Instrument des Sex ermögliche. Und vor allem: Hier, in jenen Schriften bis 1975, die noch ganz im Bann der Gefängniskämpfe stehen, erscheint auch der Sex noch als „unterdrückt”! Erst ganz am Schluss des Bandes, im Resumée seines Vorlesungszyklus „Les anormaux” von 1974-75, taucht der Gedanke auf, dass der im späten 18. Jahrhundert einsetzende Kreuzzug gegen die Onanie „nicht die Form einer allgemeinen Sexualdisziplin” annahm, sondern in „rätselhafter” Weise damit zutun haben müsse, den Sex zum Thema zu machen. Nicht einmal ein Jahr später, 1976, publizierte Foucault dann mit „Der Wille zum Wissen” sein vielleicht wichtigstes Buch.
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MICHEL FOUCAULT: Schriften in vier Bänden, Band II: 1970-1975. Hrsg. von Daniel Defert und Fraçois Ewald. Aus dem Französischen von R. Ansén, M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba und J. Schröder, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1031 Seiten, 58 Euro. (Ab 17. Oktober im Buchhandel.)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Wenn ihr den wilden Gesellen fragt
Das ist Foucaults verwegene Jagd: Der erste Band seiner "Schriften" / Von Andreas Platthaus
Sein Werk liest sich wie ein Roman, als Titel könnte er tragen: "Mein Leben als Kurier der Geschichte auf der Pony-Express-Route". Auf letzterer galoppierten ehedem rastlose Reiter, sprangen von einem Pferd auf das andere; wenn es unter ihnen zusammenbrach, liefen sie zu Fuß zur nächsten Relaisstation, wichtig war nur eines: Die Post mußte durchkommen. Dennoch waren sie mehr als Postboten, sie waren Ritter des Wilden Westens. So arbeitete auch Michel Foucault, nur hieß es bei ihm: Die Geschichte muß durchkommen. Dennoch war er mehr als Historiker, er war Streiter für das wilde Wissen.
Häufig wechselte er die Pferde: Vom bewährten Zugtier Phänomenologie ließ er sich für das Reiten begeistern, die alte Mähre Anthropologie zwang er noch einmal ins Geschirr, dann zähmte er einen Wildfang namens Strukturalismus, schwang sich aufs publizistische Schlachtroß, um Studentenrevolte und politischer Gefangenenbewegung voranzupreschen, ließ sich gemeinsam mit Sartre, dessen Philosophie er jahrelang bekämpft hatte, im gemächlich paradierenden Sechsspänner des intellektuellen Engagements zujubeln, sattelte auch so manches Maultier, das nicht fruchtbar sein konnte, half dem Fohlen Biopolitik auf die Welt, das heute die Apokalyptischen Reiter trägt, und nahm seine Reittiere immer mehr an die Kandare, ohne daß sie aber jemals in Trott verfallen wären. Vielmehr war er, als er 1984 starb, immer noch im Galopp unterwegs, und bis heute spukt er als Geisterreiter über das weite Feld der Philosophie. Daran ist nicht zuletzt die berühmte Nachlaßverfügung schuld: "Keine posthume Veröffentlichung", hatte Foucault schon 1982 in sein Testament geschrieben.
Was also sollte geschehen mit all den unveröffentlichten Vorlesungen, vor allem jenen am Collège de France, wo er von 1971 an dreizehn Jahre lang lehrte? Viele kursierten als Raubdrucke, fast alle als Mitschriften. Oder wie sollte verfahren werden mit der unabgeschlossenen Arbeit zur "Histoire de la sexualité" (deutsch unter dem Titel "Sexualität und Wahrheit"), deren dritter Band knapp eine Woche vor dem Tod des Autors in Frankreich erschienen war? Und wie stand es um die sonstigen Manuskripte, um die Briefe etwa oder die zweite Dissertation zu "Genese und Struktur der Anthropologie Kants", die zwar eingereicht wurde, aber immer noch in der Bibliothek der Sorbonne liegt? Wahrlich, Foucault hat seinen Nachlaßverwaltern, allen voran seinem langjährigen Lebensgefährten Daniel Defert, keine kleine Aufgabe hinterlassen. Wie hält man es mit einer Philosophie, deren größter Teil mit dem Philosophen begraben werden sollte?
Fragwürdig hält man es. Vor drei Jahren ist die fulminante Vorlesungsreihe "Il faut défendre la société" erschienen (F.A.Z. vom 22. April 1998; auf deutsch etwas zahm als "In Verteidigung der Gesellschaft" betitelt), ein klarer Verstoß gegen die Testamentsverfügung. Dagegen bezeichnete der Klappentext von "Sexualität und Wahrheit" den vierten Teil dieses Zyklus noch 1986 als "in Vorbereitung". Er sollte jedoch nie publiziert werden. In den "Dits et Ecrits" wiederum, vier voluminösen, von 1994 an erschienenen Sammelbänden mit Aufsätzen, Vorworten, Interviews und Rezensionen, fand sich die eine oder andere noch nicht bekannte Petitesse, und in seinem einleitenden biographischen Abriß brachte Defert so manchen Auszug aus seiner Korrespondenz mit Foucault unter. Nun ist der erste Band dieser "Dits et Ecrits" auch auf deutsch erschienen, und um die Beschäftigung mit Foucault, die anläßlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags gerade eine Renaissance erfahren soll - erst vor zehn Tagen ging die große Frankfurter Konferenz zu Ende (F.A.Z. vom 1. Oktober) -, auch in Deutschland auf eine verläßliche Basis zu stellen, sind sämtliche Texte, auch die schon hierzulande verstreut veröffentlichten, neu übersetzt worden. Um es vorwegzunehmen: Obwohl damit ein Trio beauftragt wurde und sie teilweise konkurrieren müssen mit jahrzehntelang etablierten deutschen Fassungen, sind die Übertragungen sehr gut geraten.
Zwar zählen die großen Monographien Foucaults gar nicht zum Korpus der "Schriften", wie die deutsche Ausgabe der "Dits et Ecrits" in erschreckender Phantasielosigkeit heißt; dennoch sind sie darin wiederzufinden: als Auszüge zum Beispiel, die Foucault vorab veröffentlichte, oder - noch spannender - als Gegenstand späterer Erörterungen. "Die Geburt der Klinik", "Wahnsinn und Gesellschaft", "Archäologie des Wissens" - das sind die gewaltigen Massive, deren Vor- und Hinterland von den sanften Erhebungen gebildet werden, die der erste, den Jahren von 1954 bis 1969 gewidmete Band umfaßt. Das waren eineinhalb Jahrzehnte, in denen sich Foucault vom Bürokraten, der die Leitung diverser französischer Kulturinstitute im Ausland versah, zum "Mandarin der Stunde" (wie George Steiner spottete) im Frankreich der späten sechziger Jahre wandelte. Als er in "Les Mots et les Choses" den Tod des Menschen ausrief, schrie die Existenzphilosophie auf - und mit ihr ganz Frankreich, das in Foucault den Totengräber der geheiligten Werte des Humanismus identifizierte: einen Denker, der nicht den Über-, sondern den Unmenschen predigte. Nichts aber lag ihm ferner, und in den zahlreichen Interviews, die der erste Band der "Schriften" enthält, ist Foucault mit geradezu engelhafter Geduld bemüht, derartige Mißverständnisse auszuräumen.
Dabei enthält bereits der dritte Satz jener Einführung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers "Traum und Existenz", die nunmehr zum Auftakt von Foucaults Werk stilisiert wird, einen Satz, der Foucaults späteres Prinzip des Philosophierens vorwegnimmt: "Die ursprünglichen Formen des Denkens führen sich selber ein: Ihre Geschichte ist die einzige Form von Auslegung, die sie ertragen, und ihr Schicksal die einzige Form von Kritik." Dem Interpreten bleibt da nichts zu tun; und nicht mehr, aber auch nicht weniger meint die zwölf Jahre später so kontrovers aufgenommene Aussage vom Tod des Menschen, der - so die berühmte Schlußwendung von "Die Ordnung der Dinge" - verschwinden könne "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand".
Dieses Verwischen der Spuren aber rekurrierte lediglich auf die Selbstbeschreibung des Menschen als Subjekt, als Ding für sich. Foucault sieht eine Ablösung dieses Ideals voraus, wenn die Einsicht wiederkehre, daß der Mensch auch ohne höheren Sinn leben kann. "Warum funktioniert er?" fragt Foucault in einem der erhellendsten Texte der "Schriften", einem Interview aus der italienischen Zeitschrift "La Fiera letteraria" von 1967. "Um sich fortzupflanzen? Keineswegs. Um sich am Leben zu erhalten? Auch nicht. Er funktioniert. Er funktioniert auf sehr zweideutige Weise, um zu leben, aber auch um zu sterben." Hier spricht Heidegger zwischen den Zeilen, einer der wichtigsten Anreger Foucaults, doch der "Vorlauf zum Tode" wäre schon zuviel Zweck für den französischen Philosophen. Sein Mensch muß gar nicht über das Geschick räsonnieren, denn die "ursprünglichen Formen des Denkens" sind ja gegeben. Die ganze Welt funktioniert gemäß einem mechanischen Prinzip, nach dessen Ingenieur nicht gefragt werden muß, weil es den Charakter eines Perpetuum mobile hat, und das, was dabei produziert wird, ist Geschichte.
Man hat Foucault Kälte vorgeworfen. In seiner schimmernden Theorie-Rüstung hielt man ihn für stur wie einen Panzer. Die Behauptung wird gegenstandslos, wenn man Foucault liest. Immer wieder erweist er sich als Mitfühlender gegenüber den Menschen, die in seiner Weltmaschine scheinbar nur zu "funktionieren" haben. Und gerade in diesen Passagen wird er auch zum großen Stilisten. Um den brillanten Schriftsteller Foucault zu entdecken, muß man nicht bis zur entsetzlichen, aus den Quellen gearbeiteten Schilderung der Vierteilung des Vatermörders Damiens warten, die am Beginn von "Überwachen und Strafen" steht. Schon 1962 begann er einen in "Critique" erschienenen Aufsatz anläßlich der Neuausgabe eines Schauerromans des achtzehnten Jahrhunderts mit folgenden Sätzen: "Die Szene spielt sich in Polen ab, das heißt überall. Eine Gräfin mit fliegenden Haaren flieht aus einem brennenden Schloß. Soldaten haben die Zofen und die Pagen zwischen den Statuen, die erst langsam ihr leeres schönes Antlitz gen Himmel wandten, bevor sie zerschellten, hastig aufgeschlitzt; die lange Zeit wiederhallenden Schreie verloren sich schließlich in den Spiegeln."
Hinter dem lapidaren Zusatz "das heißt überall" verbirgt sich eine persönliche Anklage Foucaults, ein Urteil über die Conditio humana, der das Schlachten zur zweiten Natur geworden ist. "Überall" heißt bei ihm auch "immer", Raum und Zeit gehen in seiner Philosophie keine klare Distinktion mehr ein; Foucault rehabilitiert den Raum gegenüber der Zeit und bringt beide für sein Geschichtsverständnis so zentralen Kategorien gerade dadurch einander nahe. Und in der Lebendigkeit seiner Schilderung bei gleichzeitig extremer Ästhetisierung der Szene läßt er einen Kontrast entstehen, der seinesgleichen in der Literatur kaum hat. Es ist der Blick von Lampedusa, der im blühenden Garten des "Leoparden" die Leiche des bourbonischen Soldaten verwesen läßt. Und im Oxymoron der in den Spiegeln verhallenden Schreie ist zugleich der Ton der Moderne zu hören wie auch die Neigung der literarischen Vorlage zur Kolportage, die die blondgelockte Gräfin den Launen einer grausamen Welt aussetzt.
Alsbald entwickelt sich dieser Aufsatz mit dem programmatischen Titel "Ein so grausames Wissen" zur Vorahnung von "Überwachen und Strafen", denn die Gräfin wird vielfältigen Verfolgungen und Martern unterworfen. Mit einem Schlenker zu Sade, neben Nietzsche der wichtigste Gewährsmann, entwickelt Foucault eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, die verstehen läßt, warum er ersteres vier Jahre später so bereitwillig opfert. In den Handlungen des sadistisch Liebenden erkennt Foucault ein Begehren, das jenen "seine absoluten Rechte als Subjekt" behalten läßt, "während das Opfer immer nur die ferne, rätselhafte und narrative Einheit aus einem Objekt des Begehrens und einem Subjekt des Leidens ist". Die Annahme, über die bloße Funktion eines Lebens hinaus könne dieses auch für mich einen Zweck haben, ermöglicht erst jenes Begehren, das den Handelnden zum absoluten Subjekt werden läßt, für den sich alles nur um ihn zu drehen scheint; was zur Folge hat, daß die Behandelte nur im Leiden zu sich kommen kann und sonst ganz dem Begehrenden gehört. Beide Subjektentstehungen sind negativ besetzt, wenn auch Foucault seine Faszination nicht verleugnen kann. Er selbst ist zweifelsohne ein Begehrender. Doch gegen sein Begehren, oder besser: seine Begierde, setzt er den Tod des Subjekts, das deshalb keinen Menschen mehr aus dessen allein auf das eigene Leben und den eigenen Tod gerichtetem Funktionieren lösen und zum Objekt machen kann, dessen Funktionieren nur noch zur Quelle von Schmerz wird. Alles Leid kommt vom Subjekt her.
Diese Reste existentialistischer Prägung schüttelt Foucault in den Folgejahren ab, und in "Überwachen und Strafen" ist seine Anteilnahme kaschiert von dem, was er selbst "Archäologie" genannt, ein "Forschungsfeld", das er 1966 im Gespräch so beschrieben hat: "Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch deren Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche verweisen auf ein implizites Wissen, das dieser Gesellschaft eigen ist. Genau dieses Wissen wollte ich untersuchen, als Bedingung der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken." Da ist es wieder, das Perpetuum mobile, die ursprünglichen Formen des Denkens, die keiner Kritik zugänglich sind. Foucault behandelt sie, wie er zwei Jahre später ausführt, "ohne jeden Verweis auf einen Ursprung, ohne den geringsten Bezug auf den Beginn einer arché". Doch immerhin kann man in seinem eigenen Werk Ursprünge nachweisen, "Ein so grausames Wissen" ist einer davon.
Eine Stelle besonders läßt - erstmals in den "Schriften" - den späteren Foucault nicht nur ahnen, er ist hier gleichsam schon bei sich. "Der Käfig hat vielfältige Funktionen: Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu eigen ist, ist das Objekt für die Henker stets in Reichweite, während die selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraumes von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur so weit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird." Schwer, sich Foucault hier nicht als Rilke-Leser vorzustellen. Doch im Käfig sitzt ein Mensch, der in den Augen anderer Menschen ganz auf einen Objektstatus reduziert wird.
Damit hat Foucault die Vorgeschichte dessen erzählt, was er dreizehn Jahre später in "Überwachen und Strafen" analysieren wird. In "Ein so grausames Wissen" wird das Verlies als Gegenstück zum Käfig identifiziert, weil "nichts von dem, was es verbirgt, sichtbar wird. Selbst seine Existenz entgeht dem Blick. Ein absolutes Gefängnis, gegen das kein Anschlag möglich ist: Es ist die Hölle, aber ohne deren tiefere Gerechtigkeit." Im Buch von 1975, das den Untertitel "Die Geburt des Gefängnisses" trägt, spielen die archaischen Formen der Haft keine Rolle mehr, Käfig und Verlies ergänzen sich zum Dritten, zum Gefängnis eben. Die Haft ist keine Demütigung mehr wie im Käfig und keine Verdammung zur Unsichtbarkeit wie im Verlies. Sie verspricht nun eine Befreiung des Gefangenen aus dem Objektstatus. Nicht zufällig bildet sich das Gefängnissystem im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert aus, gemeinsam mit dem Selbstverständnis des Menschen als Subjekt. Nicht zufällig bildet sich Foucaults Studie in den frühen siebziger Jahren aus, als er sich für die Gefangenenbewegung engagiert.
Zwischendurch aber, zwischen 1962 und den frühen siebziger Jahren, verlor Foucault den Käfig aus den Augen. Er wurde zur bloßen Metapher in "Die Ordnung der Dinge", bei der Analyse von Velázquez' "Hoffräulein". In dieser Bildbeschreibung, die Foucault bereits 1965 vorabdrucken ließ, findet sich eine bemerkenswerte Passage, die sich dem im Gemälde dargestellten Maler (ein Selbstporträt von Velázquez) widmet: Er ist "vollständig sichtbar; jedenfalls wird er nicht von der großen Leinwand verdeckt, hinter der er möglicherweise gleich verschwinden wird, wenn er ein wenig vortritt und sich wieder an die Arbeit macht; ohne Zweifel ist er eben erst vor den Augen des Betrachters erschienen, als er aus diesem virtuellen Käfig heraustrat, der die Fläche des gerade in Arbeit befindlichen Bildes nach hinten projiziert". Von einer terminologischen Stringenz bei Foucault ist noch nichts zu spüren, der undurchsichtige Käfig von 1965 hat nichts gemein mit dem von 1962. Wo dieser ausstellte und demütigte, verbirgt jener und schützt gar vor den Blicken der Betrachter. Die konzentrierte Foucault-Lektüre verrätselt manches eher, als daß es ein großes Ganzes entstehen ließe. Dabei philosophierte Foucault doch auf eine Weise, die am Ende Hegel viel näher zu sein schien als dem bewunderten Nietzsche - strukturell betrachtet, nicht inhaltlich. Was ist denn die "Archäologie des Wissens" anderes als Foucaults "Phänomenologie des Geistes", eine Einleitung ins System seines Denkens?
Doch die "Schriften" zeigen Foucault als Essayisten und Gesprächspartner mit vielerlei Interessen. Wer hätte etwa gedacht, 1954 bei ihm - der Proust vorwarf, die Franzosen für Joyce blind gemacht zu haben - eine Anspielung auf die "Recherche" zu finden? Foucaults Welt wird hier im Stadium vor ihrem bloßen Funktionieren gezeigt, als auch ihr Autor noch als Subjekt auftrat, in jenen Jahren, als er im Jaguar-Sportwagen die europäischen Straßen zwischen Schweden und Frankreich unsicher machte, als er zum Kreis um Boulez zählte, als er seine Homosexualität auszuleben begann. Sein Leben entsprach nie der bloßen Funktion, und ein Satz, der, herausgelöst aus Foucaults Nachwort zu Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius", wie ein makelloser Aphorismus klingt ("Das Imaginäre haust zwischen dem Buch und der Lampe"), läßt auch etwas von der Tragik spüren, als die er selbst sein Leben begreifen mußte, das ein Subjekt hervorbrachte, das in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum schöner zu finden war. Deshalb die Rastlosigkeit des Denkens, deshalb die wechselnden Allianzen, deshalb der philosophische Kreuzzug des Michel Foucault, letzter der Ritter seiner Profession.
Michel Foucault: "Schriften - Dits et Ecrits". Band 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Legrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1088 S., geb. 168,-, br. 98,- DM.
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Das ist Foucaults verwegene Jagd: Der erste Band seiner "Schriften" / Von Andreas Platthaus
Sein Werk liest sich wie ein Roman, als Titel könnte er tragen: "Mein Leben als Kurier der Geschichte auf der Pony-Express-Route". Auf letzterer galoppierten ehedem rastlose Reiter, sprangen von einem Pferd auf das andere; wenn es unter ihnen zusammenbrach, liefen sie zu Fuß zur nächsten Relaisstation, wichtig war nur eines: Die Post mußte durchkommen. Dennoch waren sie mehr als Postboten, sie waren Ritter des Wilden Westens. So arbeitete auch Michel Foucault, nur hieß es bei ihm: Die Geschichte muß durchkommen. Dennoch war er mehr als Historiker, er war Streiter für das wilde Wissen.
Häufig wechselte er die Pferde: Vom bewährten Zugtier Phänomenologie ließ er sich für das Reiten begeistern, die alte Mähre Anthropologie zwang er noch einmal ins Geschirr, dann zähmte er einen Wildfang namens Strukturalismus, schwang sich aufs publizistische Schlachtroß, um Studentenrevolte und politischer Gefangenenbewegung voranzupreschen, ließ sich gemeinsam mit Sartre, dessen Philosophie er jahrelang bekämpft hatte, im gemächlich paradierenden Sechsspänner des intellektuellen Engagements zujubeln, sattelte auch so manches Maultier, das nicht fruchtbar sein konnte, half dem Fohlen Biopolitik auf die Welt, das heute die Apokalyptischen Reiter trägt, und nahm seine Reittiere immer mehr an die Kandare, ohne daß sie aber jemals in Trott verfallen wären. Vielmehr war er, als er 1984 starb, immer noch im Galopp unterwegs, und bis heute spukt er als Geisterreiter über das weite Feld der Philosophie. Daran ist nicht zuletzt die berühmte Nachlaßverfügung schuld: "Keine posthume Veröffentlichung", hatte Foucault schon 1982 in sein Testament geschrieben.
Was also sollte geschehen mit all den unveröffentlichten Vorlesungen, vor allem jenen am Collège de France, wo er von 1971 an dreizehn Jahre lang lehrte? Viele kursierten als Raubdrucke, fast alle als Mitschriften. Oder wie sollte verfahren werden mit der unabgeschlossenen Arbeit zur "Histoire de la sexualité" (deutsch unter dem Titel "Sexualität und Wahrheit"), deren dritter Band knapp eine Woche vor dem Tod des Autors in Frankreich erschienen war? Und wie stand es um die sonstigen Manuskripte, um die Briefe etwa oder die zweite Dissertation zu "Genese und Struktur der Anthropologie Kants", die zwar eingereicht wurde, aber immer noch in der Bibliothek der Sorbonne liegt? Wahrlich, Foucault hat seinen Nachlaßverwaltern, allen voran seinem langjährigen Lebensgefährten Daniel Defert, keine kleine Aufgabe hinterlassen. Wie hält man es mit einer Philosophie, deren größter Teil mit dem Philosophen begraben werden sollte?
Fragwürdig hält man es. Vor drei Jahren ist die fulminante Vorlesungsreihe "Il faut défendre la société" erschienen (F.A.Z. vom 22. April 1998; auf deutsch etwas zahm als "In Verteidigung der Gesellschaft" betitelt), ein klarer Verstoß gegen die Testamentsverfügung. Dagegen bezeichnete der Klappentext von "Sexualität und Wahrheit" den vierten Teil dieses Zyklus noch 1986 als "in Vorbereitung". Er sollte jedoch nie publiziert werden. In den "Dits et Ecrits" wiederum, vier voluminösen, von 1994 an erschienenen Sammelbänden mit Aufsätzen, Vorworten, Interviews und Rezensionen, fand sich die eine oder andere noch nicht bekannte Petitesse, und in seinem einleitenden biographischen Abriß brachte Defert so manchen Auszug aus seiner Korrespondenz mit Foucault unter. Nun ist der erste Band dieser "Dits et Ecrits" auch auf deutsch erschienen, und um die Beschäftigung mit Foucault, die anläßlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags gerade eine Renaissance erfahren soll - erst vor zehn Tagen ging die große Frankfurter Konferenz zu Ende (F.A.Z. vom 1. Oktober) -, auch in Deutschland auf eine verläßliche Basis zu stellen, sind sämtliche Texte, auch die schon hierzulande verstreut veröffentlichten, neu übersetzt worden. Um es vorwegzunehmen: Obwohl damit ein Trio beauftragt wurde und sie teilweise konkurrieren müssen mit jahrzehntelang etablierten deutschen Fassungen, sind die Übertragungen sehr gut geraten.
Zwar zählen die großen Monographien Foucaults gar nicht zum Korpus der "Schriften", wie die deutsche Ausgabe der "Dits et Ecrits" in erschreckender Phantasielosigkeit heißt; dennoch sind sie darin wiederzufinden: als Auszüge zum Beispiel, die Foucault vorab veröffentlichte, oder - noch spannender - als Gegenstand späterer Erörterungen. "Die Geburt der Klinik", "Wahnsinn und Gesellschaft", "Archäologie des Wissens" - das sind die gewaltigen Massive, deren Vor- und Hinterland von den sanften Erhebungen gebildet werden, die der erste, den Jahren von 1954 bis 1969 gewidmete Band umfaßt. Das waren eineinhalb Jahrzehnte, in denen sich Foucault vom Bürokraten, der die Leitung diverser französischer Kulturinstitute im Ausland versah, zum "Mandarin der Stunde" (wie George Steiner spottete) im Frankreich der späten sechziger Jahre wandelte. Als er in "Les Mots et les Choses" den Tod des Menschen ausrief, schrie die Existenzphilosophie auf - und mit ihr ganz Frankreich, das in Foucault den Totengräber der geheiligten Werte des Humanismus identifizierte: einen Denker, der nicht den Über-, sondern den Unmenschen predigte. Nichts aber lag ihm ferner, und in den zahlreichen Interviews, die der erste Band der "Schriften" enthält, ist Foucault mit geradezu engelhafter Geduld bemüht, derartige Mißverständnisse auszuräumen.
Dabei enthält bereits der dritte Satz jener Einführung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers "Traum und Existenz", die nunmehr zum Auftakt von Foucaults Werk stilisiert wird, einen Satz, der Foucaults späteres Prinzip des Philosophierens vorwegnimmt: "Die ursprünglichen Formen des Denkens führen sich selber ein: Ihre Geschichte ist die einzige Form von Auslegung, die sie ertragen, und ihr Schicksal die einzige Form von Kritik." Dem Interpreten bleibt da nichts zu tun; und nicht mehr, aber auch nicht weniger meint die zwölf Jahre später so kontrovers aufgenommene Aussage vom Tod des Menschen, der - so die berühmte Schlußwendung von "Die Ordnung der Dinge" - verschwinden könne "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand".
Dieses Verwischen der Spuren aber rekurrierte lediglich auf die Selbstbeschreibung des Menschen als Subjekt, als Ding für sich. Foucault sieht eine Ablösung dieses Ideals voraus, wenn die Einsicht wiederkehre, daß der Mensch auch ohne höheren Sinn leben kann. "Warum funktioniert er?" fragt Foucault in einem der erhellendsten Texte der "Schriften", einem Interview aus der italienischen Zeitschrift "La Fiera letteraria" von 1967. "Um sich fortzupflanzen? Keineswegs. Um sich am Leben zu erhalten? Auch nicht. Er funktioniert. Er funktioniert auf sehr zweideutige Weise, um zu leben, aber auch um zu sterben." Hier spricht Heidegger zwischen den Zeilen, einer der wichtigsten Anreger Foucaults, doch der "Vorlauf zum Tode" wäre schon zuviel Zweck für den französischen Philosophen. Sein Mensch muß gar nicht über das Geschick räsonnieren, denn die "ursprünglichen Formen des Denkens" sind ja gegeben. Die ganze Welt funktioniert gemäß einem mechanischen Prinzip, nach dessen Ingenieur nicht gefragt werden muß, weil es den Charakter eines Perpetuum mobile hat, und das, was dabei produziert wird, ist Geschichte.
Man hat Foucault Kälte vorgeworfen. In seiner schimmernden Theorie-Rüstung hielt man ihn für stur wie einen Panzer. Die Behauptung wird gegenstandslos, wenn man Foucault liest. Immer wieder erweist er sich als Mitfühlender gegenüber den Menschen, die in seiner Weltmaschine scheinbar nur zu "funktionieren" haben. Und gerade in diesen Passagen wird er auch zum großen Stilisten. Um den brillanten Schriftsteller Foucault zu entdecken, muß man nicht bis zur entsetzlichen, aus den Quellen gearbeiteten Schilderung der Vierteilung des Vatermörders Damiens warten, die am Beginn von "Überwachen und Strafen" steht. Schon 1962 begann er einen in "Critique" erschienenen Aufsatz anläßlich der Neuausgabe eines Schauerromans des achtzehnten Jahrhunderts mit folgenden Sätzen: "Die Szene spielt sich in Polen ab, das heißt überall. Eine Gräfin mit fliegenden Haaren flieht aus einem brennenden Schloß. Soldaten haben die Zofen und die Pagen zwischen den Statuen, die erst langsam ihr leeres schönes Antlitz gen Himmel wandten, bevor sie zerschellten, hastig aufgeschlitzt; die lange Zeit wiederhallenden Schreie verloren sich schließlich in den Spiegeln."
Hinter dem lapidaren Zusatz "das heißt überall" verbirgt sich eine persönliche Anklage Foucaults, ein Urteil über die Conditio humana, der das Schlachten zur zweiten Natur geworden ist. "Überall" heißt bei ihm auch "immer", Raum und Zeit gehen in seiner Philosophie keine klare Distinktion mehr ein; Foucault rehabilitiert den Raum gegenüber der Zeit und bringt beide für sein Geschichtsverständnis so zentralen Kategorien gerade dadurch einander nahe. Und in der Lebendigkeit seiner Schilderung bei gleichzeitig extremer Ästhetisierung der Szene läßt er einen Kontrast entstehen, der seinesgleichen in der Literatur kaum hat. Es ist der Blick von Lampedusa, der im blühenden Garten des "Leoparden" die Leiche des bourbonischen Soldaten verwesen läßt. Und im Oxymoron der in den Spiegeln verhallenden Schreie ist zugleich der Ton der Moderne zu hören wie auch die Neigung der literarischen Vorlage zur Kolportage, die die blondgelockte Gräfin den Launen einer grausamen Welt aussetzt.
Alsbald entwickelt sich dieser Aufsatz mit dem programmatischen Titel "Ein so grausames Wissen" zur Vorahnung von "Überwachen und Strafen", denn die Gräfin wird vielfältigen Verfolgungen und Martern unterworfen. Mit einem Schlenker zu Sade, neben Nietzsche der wichtigste Gewährsmann, entwickelt Foucault eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, die verstehen läßt, warum er ersteres vier Jahre später so bereitwillig opfert. In den Handlungen des sadistisch Liebenden erkennt Foucault ein Begehren, das jenen "seine absoluten Rechte als Subjekt" behalten läßt, "während das Opfer immer nur die ferne, rätselhafte und narrative Einheit aus einem Objekt des Begehrens und einem Subjekt des Leidens ist". Die Annahme, über die bloße Funktion eines Lebens hinaus könne dieses auch für mich einen Zweck haben, ermöglicht erst jenes Begehren, das den Handelnden zum absoluten Subjekt werden läßt, für den sich alles nur um ihn zu drehen scheint; was zur Folge hat, daß die Behandelte nur im Leiden zu sich kommen kann und sonst ganz dem Begehrenden gehört. Beide Subjektentstehungen sind negativ besetzt, wenn auch Foucault seine Faszination nicht verleugnen kann. Er selbst ist zweifelsohne ein Begehrender. Doch gegen sein Begehren, oder besser: seine Begierde, setzt er den Tod des Subjekts, das deshalb keinen Menschen mehr aus dessen allein auf das eigene Leben und den eigenen Tod gerichtetem Funktionieren lösen und zum Objekt machen kann, dessen Funktionieren nur noch zur Quelle von Schmerz wird. Alles Leid kommt vom Subjekt her.
Diese Reste existentialistischer Prägung schüttelt Foucault in den Folgejahren ab, und in "Überwachen und Strafen" ist seine Anteilnahme kaschiert von dem, was er selbst "Archäologie" genannt, ein "Forschungsfeld", das er 1966 im Gespräch so beschrieben hat: "Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch deren Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche verweisen auf ein implizites Wissen, das dieser Gesellschaft eigen ist. Genau dieses Wissen wollte ich untersuchen, als Bedingung der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken." Da ist es wieder, das Perpetuum mobile, die ursprünglichen Formen des Denkens, die keiner Kritik zugänglich sind. Foucault behandelt sie, wie er zwei Jahre später ausführt, "ohne jeden Verweis auf einen Ursprung, ohne den geringsten Bezug auf den Beginn einer arché". Doch immerhin kann man in seinem eigenen Werk Ursprünge nachweisen, "Ein so grausames Wissen" ist einer davon.
Eine Stelle besonders läßt - erstmals in den "Schriften" - den späteren Foucault nicht nur ahnen, er ist hier gleichsam schon bei sich. "Der Käfig hat vielfältige Funktionen: Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu eigen ist, ist das Objekt für die Henker stets in Reichweite, während die selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraumes von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur so weit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird." Schwer, sich Foucault hier nicht als Rilke-Leser vorzustellen. Doch im Käfig sitzt ein Mensch, der in den Augen anderer Menschen ganz auf einen Objektstatus reduziert wird.
Damit hat Foucault die Vorgeschichte dessen erzählt, was er dreizehn Jahre später in "Überwachen und Strafen" analysieren wird. In "Ein so grausames Wissen" wird das Verlies als Gegenstück zum Käfig identifiziert, weil "nichts von dem, was es verbirgt, sichtbar wird. Selbst seine Existenz entgeht dem Blick. Ein absolutes Gefängnis, gegen das kein Anschlag möglich ist: Es ist die Hölle, aber ohne deren tiefere Gerechtigkeit." Im Buch von 1975, das den Untertitel "Die Geburt des Gefängnisses" trägt, spielen die archaischen Formen der Haft keine Rolle mehr, Käfig und Verlies ergänzen sich zum Dritten, zum Gefängnis eben. Die Haft ist keine Demütigung mehr wie im Käfig und keine Verdammung zur Unsichtbarkeit wie im Verlies. Sie verspricht nun eine Befreiung des Gefangenen aus dem Objektstatus. Nicht zufällig bildet sich das Gefängnissystem im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert aus, gemeinsam mit dem Selbstverständnis des Menschen als Subjekt. Nicht zufällig bildet sich Foucaults Studie in den frühen siebziger Jahren aus, als er sich für die Gefangenenbewegung engagiert.
Zwischendurch aber, zwischen 1962 und den frühen siebziger Jahren, verlor Foucault den Käfig aus den Augen. Er wurde zur bloßen Metapher in "Die Ordnung der Dinge", bei der Analyse von Velázquez' "Hoffräulein". In dieser Bildbeschreibung, die Foucault bereits 1965 vorabdrucken ließ, findet sich eine bemerkenswerte Passage, die sich dem im Gemälde dargestellten Maler (ein Selbstporträt von Velázquez) widmet: Er ist "vollständig sichtbar; jedenfalls wird er nicht von der großen Leinwand verdeckt, hinter der er möglicherweise gleich verschwinden wird, wenn er ein wenig vortritt und sich wieder an die Arbeit macht; ohne Zweifel ist er eben erst vor den Augen des Betrachters erschienen, als er aus diesem virtuellen Käfig heraustrat, der die Fläche des gerade in Arbeit befindlichen Bildes nach hinten projiziert". Von einer terminologischen Stringenz bei Foucault ist noch nichts zu spüren, der undurchsichtige Käfig von 1965 hat nichts gemein mit dem von 1962. Wo dieser ausstellte und demütigte, verbirgt jener und schützt gar vor den Blicken der Betrachter. Die konzentrierte Foucault-Lektüre verrätselt manches eher, als daß es ein großes Ganzes entstehen ließe. Dabei philosophierte Foucault doch auf eine Weise, die am Ende Hegel viel näher zu sein schien als dem bewunderten Nietzsche - strukturell betrachtet, nicht inhaltlich. Was ist denn die "Archäologie des Wissens" anderes als Foucaults "Phänomenologie des Geistes", eine Einleitung ins System seines Denkens?
Doch die "Schriften" zeigen Foucault als Essayisten und Gesprächspartner mit vielerlei Interessen. Wer hätte etwa gedacht, 1954 bei ihm - der Proust vorwarf, die Franzosen für Joyce blind gemacht zu haben - eine Anspielung auf die "Recherche" zu finden? Foucaults Welt wird hier im Stadium vor ihrem bloßen Funktionieren gezeigt, als auch ihr Autor noch als Subjekt auftrat, in jenen Jahren, als er im Jaguar-Sportwagen die europäischen Straßen zwischen Schweden und Frankreich unsicher machte, als er zum Kreis um Boulez zählte, als er seine Homosexualität auszuleben begann. Sein Leben entsprach nie der bloßen Funktion, und ein Satz, der, herausgelöst aus Foucaults Nachwort zu Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius", wie ein makelloser Aphorismus klingt ("Das Imaginäre haust zwischen dem Buch und der Lampe"), läßt auch etwas von der Tragik spüren, als die er selbst sein Leben begreifen mußte, das ein Subjekt hervorbrachte, das in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum schöner zu finden war. Deshalb die Rastlosigkeit des Denkens, deshalb die wechselnden Allianzen, deshalb der philosophische Kreuzzug des Michel Foucault, letzter der Ritter seiner Profession.
Michel Foucault: "Schriften - Dits et Ecrits". Band 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Legrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1088 S., geb. 168,-, br. 98,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der nun auf deutsch vorliegende zweite Band der Schriften von Michel Foucault, der Interviews, Diskussionsmitschriften, kunsttheoretische Abhandlungen, politische Interventionen, Vorträge und Vorworte des Philosophen aus den Jahren von 1970 bis 1975 versammelt, zeigt nach Ansicht von Rezensent Thomas Lemke, "wie sehr Foucault seine Arbeit nicht als Bruch, sondern als Fortsetzung des Marxschen Projekts ansah". Lemke erkennt in der von Foucault skizzierten "Kritik der politischen Anatomie", die die Bedeutung von Körperzurichtungen und Subjektformierungen für die Entstehung und Stabilisierung kapitalistischer Gesellschaften herausstelle, eine "Ergänzung und Vertiefung" der Marxschen "Kritik der politischen Ökonomie". Anfang der 1970er Jahre wandte sich Foucault nach Auskunft Lemkes zwei neuen Themen zu, zum einen der Machttechnologie, die die Körper hervorbringe, sie zurichte und an den gesellschaftlichen Verhältnissen ausrichte, zum anderen der Analyse der Institution des Gefängnisses und der Strafpraktiken. Für Lemke folgen Foucaults Texte aus diesem Band "weder einem Zwang zur Politisierung noch einem Imperativ der Diskontinuität". Hinter der Aufgabe von Konzepten wie "Diskurs" oder "Episteme" werde ein Moment der Kontinuität sichtbar. "Foucaults Schriften", schließt Lemke, "zeigen die Bewegung eines Denkens, das sich treu bleibt, indem es sich permanent verändert und verlagert."
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