Deutschland gegen Deutschland: ein historischer Moment
Selten gibt es Augenblicke in der Geschichte, die wie ein Brennglas wirken. Das einzige Fußballspiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik ist ein solcher herausragender, brisanter und zugleich universaler Moment. Als sich am 22. Juni 1974 für neunzig Minuten die Bruderstaaten gegenüberstanden und die DDR durch das Tor von Jürgen Sparwasser den Sieg davontrug, brachte das Ereignis auch Menschen zusammen, die mit dem Fußballspiel an sich wenig zu tun hatten. Und sie würden das Leben in beiden deutschen Ländern auf unterschiedlichste Art beeinflussen. Davon erzählt Ronald Reng auf unvergleich fesselnde und kluge Weise. So wird sein Buch »1974« zu einem bestechenden Zeugnis gesamtdeutscher Alltagsgeschichte, lange bevor es ein wiedervereinigtes Deutschland geben sollte.
O-Töne prominenter Zeitzeugen
Selten gibt es Augenblicke in der Geschichte, die wie ein Brennglas wirken. Das einzige Fußballspiel zwischen der DDR und der Bundesrepublik ist ein solcher herausragender, brisanter und zugleich universaler Moment. Als sich am 22. Juni 1974 für neunzig Minuten die Bruderstaaten gegenüberstanden und die DDR durch das Tor von Jürgen Sparwasser den Sieg davontrug, brachte das Ereignis auch Menschen zusammen, die mit dem Fußballspiel an sich wenig zu tun hatten. Und sie würden das Leben in beiden deutschen Ländern auf unterschiedlichste Art beeinflussen. Davon erzählt Ronald Reng auf unvergleich fesselnde und kluge Weise. So wird sein Buch »1974« zu einem bestechenden Zeugnis gesamtdeutscher Alltagsgeschichte, lange bevor es ein wiedervereinigtes Deutschland geben sollte.
O-Töne prominenter Zeitzeugen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2024Wie wir so waren
Eine Episode aus der Fußballgeschichte, ein Kapitel Zeitgeschichte: Ronald Rengs Buch "1974. Eine deutsche Begegnung" erzählt von Schauspielern, Terroristen, Politikern und Männern mit orange-braunen Krawatten zu gelben Hemden.
Von Peter Körte
Die Niederlage der Bundesrepublik Deutschland gegen die DDR bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 gehört nicht unbedingt zu den Ereignissen, bei denen jeder genau weiß, wo er damals war. So wie bei Mauerfall, 9/11 oder, für die Älteren, beim Kennedy-Attentat. Aber wenn man damals 15 Jahre alt war und fußballverrückt, ist die Erinnerung an diesen 22. Juni 1974 erstaunlich klar. Zur Not könnte ich das Muster des Sessels beschreiben, in den ich mich fläzte, als das Spiel begann. Dass es um 19.30 Uhr anfing, hatte ich vergessen. Dass es ein Samstag war, nicht. Für einen Zehntklässler war das der ödeste Tag der Woche: vormittags vier Stunden Schule, nachmittags abhängen, gähnende Langeweile, von Party und Nachtleben keine Spur. Fußballkneipen und Fanmeilen gab es auch nicht. Das Spiel sollte der Höhepunkt des Tages werden. Sollte.
Die DDR würde man wegputzen, das dachten wir alle, auch wenn wir das bundesdeutsche Team nicht sonderlich mochten, weil Günter Netzer nicht spielte. Diese Haltung teilte auch Matthias Brandt, der damals zwölf Jahre alt war, für Netzer schwärmte und sich an Samstagen langweilte. Und dessen Vater im Mai als Bundeskanzler zurückgetreten war wegen des enttarnten DDR-Spions Günter Guillaume. Matthias Brandt ist einer der Zeitzeugen im neuen Buch von Ronald Reng, der schon ein paar Mal gezeigt hat, in "Spieltage" oder in "Mroskos Talente", wie in einer Episode aus der Fußballgeschichte ein Kapitel Zeitgeschichte anschaulich wird. "1974. Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte" schreibt diese Chronik der Bundesrepublik im Medium des Sports fort. Reng nennt das Spiel "eine Büroklammer im deutschen Gedächtnis, die all die geschichtlichen Ereignisse und den Alltag jener Zeit zusammenhält". Und das ist eine ganze Menge: die RAF und die Entspannungspolitik, die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze und Guillaume, "Gastarbeiter", die von Gästen zu Bürgern wurden, Frauen, die nach einer Gesetzesänderung erstmals ohne Zustimmung des Mannes arbeiten durften. Der Erfolg von Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." auf DDR-Bühnen. Oder Eckhard Henscheids Roman "Die Vollidioten". Um nur ein paar zu verklammernde Dinge zu nennen.
Es ist vermutlich ein Vorteil, dass Ronald Reng 1970 geboren wurde und seine Erinnerungen an diese Zeit deshalb sehr überschaubar sind. Er muss das eigene Erleben nicht abgleichen mit dem, was die Historiker über jene Zeit geschrieben haben. Er kann mit der Einstellung des Spätergeborenen diejenigen fragen, die dabei gewesen sind und nun reflektieren müssen über das Bild, das sie von damals bewahrt haben. Und sein Casting ist dabei sehr überzeugend. Es gibt ein vergleichbares Buch, Bernd M. Beyers "1971/72 - Die Saison der Träumer" (2021), das dem Weg der Protagonisten Stan Libuda und Rio Reiser folgte. Beyer wie Reng wissen genau, dass nicht in einem Jahr die ganze Geschichte steckt. Das wäre schlechte Metaphysik. Sie gehen aber davon aus, dass diese erste Hälfte der Siebzigerjahre eine große formative Periode in der Bundesrepublik war. Eine Zeitenwende möchte man nicht sagen, weil das jetzt etwas kümmerlich klänge.
Reng arbeitet mit den Mitteln der Parallelmontage, die sich auf diesen Abend des 22. Juni 1974 konzentriert: auf die Vorbereitung, die Anfahrt, das Spiel, das Danach. Er kennt die faszinierende Wirkung, die solche Montagesequenzen auch in Spielfilmen entfalten können, weil sie das Synchrone bündeln und damit intensivieren. Wenn die Mannschaften in den Tunnel des Hamburger Volksparkstadions kommen, schweigsam, als habe man den Spielern verboten, miteinander zu reden, läuft im Deutschen Theater in Berlin seit einer halben Stunde "Die neuen Leiden des jungen W." mit Jutta Wachowiak in der Rolle der Charlie. In der JVA Zweibrücken sitzt der RAF-Terrorist Klaus Jünschke in seiner Zelle, der tags zuvor gesagt haben soll, er sei enttäuscht, "daß bisher im Rahmen der WM von den Raketen kein Gebrauch gemacht worden sei". Dieser Satz, sagt Jünschke Jahrzehnte später, sei nie gefallen.
Reng kennt auch die Grenzen seines Verfahrens. Er arbeitet daher in den Kapiteln mit Rück- und Vorblenden, führt neue Akteurinnen und Akteure ein, die mal enger, mal lockerer mit dem Spiel verbunden sind. Doris Gercke, die Schriftstellerin, die damals als DKP-Mitglied Reiseführerin für DDR-Fußballtouristen war; Roland Jahn, den Dissidenten und späteren Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, der mit einigen aus dem DDR-Team gekickt hatte. Sportjournalisten aus Ost und West. Oder die Spieler Gerd Kische und Wolfgang Croy, die sich nach dem Spiel aus dem Hotel schlichen und von Zivilpolizisten auf die Reeperbahn fahren ließen.
Reng erzählt von zwölf Zentimeter langen Hemdkrägen, orange-braunen Krawatten zu gelben Hemden und davon, wie es Eckhard Henscheid schaffte, an Marcel Reich-Ranicki vorbei ein Interview mit Ror Wolf ins Feuilleton der F.A.Z. zu bringen, in dem auch der Einsatz von Bernd Hölzenbein gefordert wurde. Er lässt Jutta Wachowiak reden, die an diesem 22. Juni in einem Stück spielte, das nach DDR-Kriterien nie hätte genehmigt werden dürfen. Weshalb Reng dann auch kurz vom Rostocker Hinstorff-Verlag erzählt, der Plenzdorf herausbrachte, auch Jurek Becker und Franz Fühmann - um schließlich von der SED-Spitze unter Kuratel gestellt zu werden. Natürlich kommen auch Overath und Netzer vor, der diesmal glanzlose Star, der nie ein Rebell war und auf seine Einwechslung in der 69. Minute, acht Minuten vor Jürgen Sparwassers Siegtreffer, gerne verzichtet hätte. Und eben Matthias Brandt, der am 13. März 1974 im "Aktuellen Sportstudio" anstelle seines Vaters auf die Torwand geschossen hatte.
Reng setzt jedoch nicht allein auf die schillernden Effekte des Anekdotischen. Er zeigt die komplexen Querverbindungen zwischen Politik und Fußball, die einem damals nicht mal dämmerten, weil man zu jung, weil Fußball einfach nur Fußball war und nicht diese mediale Präsenz hatte wie heute. Rengs Befund, man habe damals durch die Bundesrepublik reisen können, ohne zu bemerken, dass eine WM stattfand, kann man nur bestätigen. Keine Fahnen, kein sogenanntes Public Viewing. Und die größte Veranstaltung am Tag nach dem Titelgewinn bestand aus 5000 Menschen auf dem Frankfurter Römer.
Bemerkenswert an Rengs Darstellung ist sein offenes Auge für den Osten. Er beschreibt nicht nur diese Zeit, in der die DDR ihren Zenit erlebte, in der es ein vages Versprechen von Aufbruch und Toleranz gab, das sich in Nichts auflöste. Er schildert die Arroganz eines Uli Honeß, der sich 30 Jahre nach dem Spiel nicht mehr an seinen überlegenen Gegenspieler Lothar Kurbjuweit erinnern wollte. Und da ist die tiefe Enttäuschung von Jutta Wachowiak nach der Wende, die sie einen treffenden Satz sagen lässt: "Es gab nicht die geringste Neugierde auf mich, und auf uns."
Was übrig bleibt? "1974 war, im Rückblick betrachtet, eine Zeit, in der in beiden deutschen Staaten Hoffnungen schwanden", schreibt Reng. Das hat eine Wahrheit, die der eigenen Wahrnehmung widerspricht. Denn die eigene Zukunft war weit, voller Erwartungen. Es interessierte einen nicht, was mit der DDR los war. Von Wiedervereinigung redete niemand. Nur davon, dass die DDR ein zweites Mal ein solches Spiel nicht gewinnen würde. Die Bundesrepublik wurde schließlich Weltmeister - obwohl es die Niederländer um Johan Cruyff so viel mehr verdient gehabt hätten. 50 Jahre später wissen wir mehr, sind aber nicht klüger. Wir sehen, was damals nicht zu sehen war. Das ist kein Anlass, zu hadern. Das ist ein normaler Vorgang, wenn man sich selbst historisch wird. Und überdies zeigt Rengs lesenswertes Geschichtsmosaik, "wie unterschiedlich Menschen nicht nur in verschiedenen Systemen leben, sondern auch in ein und demselben System".
Der Epilog endet mit einer schönen Anekdote. Als Matthias Brandt - der sich später, wie Netzer im Pokalfinale 1973, selbst als Guillaume-Darsteller einwechseln sollte in den Fernsehfilm "Im Schatten der Macht" - in den Neunzigerjahren in München am Residenztheater arbeitete, wollte er eines Tages seinen Erinnerungen an 1974 nachgehen. Er fuhr zu dem kleinen Schreibwarengeschäft, das Georg Schwarzenbeck, Vorstopper der WM-Mannschaft, von seiner Tante übernommen hatte. Er kaufte eine Zeitung, bezahlte bei "Katsche" und ging. Mehr Vergewisserung war gar nicht nötig. Es war ein wichtiges Jahr und Ereignis. Ja, aber wir nehmen es oder uns auch nicht zu wichtig, wenn wir uns von Rengs Buch daran erinnern lassen.
Ronald Reng: "1974. Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte". Piper, 432 Seiten, 24 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Episode aus der Fußballgeschichte, ein Kapitel Zeitgeschichte: Ronald Rengs Buch "1974. Eine deutsche Begegnung" erzählt von Schauspielern, Terroristen, Politikern und Männern mit orange-braunen Krawatten zu gelben Hemden.
Von Peter Körte
Die Niederlage der Bundesrepublik Deutschland gegen die DDR bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 gehört nicht unbedingt zu den Ereignissen, bei denen jeder genau weiß, wo er damals war. So wie bei Mauerfall, 9/11 oder, für die Älteren, beim Kennedy-Attentat. Aber wenn man damals 15 Jahre alt war und fußballverrückt, ist die Erinnerung an diesen 22. Juni 1974 erstaunlich klar. Zur Not könnte ich das Muster des Sessels beschreiben, in den ich mich fläzte, als das Spiel begann. Dass es um 19.30 Uhr anfing, hatte ich vergessen. Dass es ein Samstag war, nicht. Für einen Zehntklässler war das der ödeste Tag der Woche: vormittags vier Stunden Schule, nachmittags abhängen, gähnende Langeweile, von Party und Nachtleben keine Spur. Fußballkneipen und Fanmeilen gab es auch nicht. Das Spiel sollte der Höhepunkt des Tages werden. Sollte.
Die DDR würde man wegputzen, das dachten wir alle, auch wenn wir das bundesdeutsche Team nicht sonderlich mochten, weil Günter Netzer nicht spielte. Diese Haltung teilte auch Matthias Brandt, der damals zwölf Jahre alt war, für Netzer schwärmte und sich an Samstagen langweilte. Und dessen Vater im Mai als Bundeskanzler zurückgetreten war wegen des enttarnten DDR-Spions Günter Guillaume. Matthias Brandt ist einer der Zeitzeugen im neuen Buch von Ronald Reng, der schon ein paar Mal gezeigt hat, in "Spieltage" oder in "Mroskos Talente", wie in einer Episode aus der Fußballgeschichte ein Kapitel Zeitgeschichte anschaulich wird. "1974. Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte" schreibt diese Chronik der Bundesrepublik im Medium des Sports fort. Reng nennt das Spiel "eine Büroklammer im deutschen Gedächtnis, die all die geschichtlichen Ereignisse und den Alltag jener Zeit zusammenhält". Und das ist eine ganze Menge: die RAF und die Entspannungspolitik, die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze und Guillaume, "Gastarbeiter", die von Gästen zu Bürgern wurden, Frauen, die nach einer Gesetzesänderung erstmals ohne Zustimmung des Mannes arbeiten durften. Der Erfolg von Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." auf DDR-Bühnen. Oder Eckhard Henscheids Roman "Die Vollidioten". Um nur ein paar zu verklammernde Dinge zu nennen.
Es ist vermutlich ein Vorteil, dass Ronald Reng 1970 geboren wurde und seine Erinnerungen an diese Zeit deshalb sehr überschaubar sind. Er muss das eigene Erleben nicht abgleichen mit dem, was die Historiker über jene Zeit geschrieben haben. Er kann mit der Einstellung des Spätergeborenen diejenigen fragen, die dabei gewesen sind und nun reflektieren müssen über das Bild, das sie von damals bewahrt haben. Und sein Casting ist dabei sehr überzeugend. Es gibt ein vergleichbares Buch, Bernd M. Beyers "1971/72 - Die Saison der Träumer" (2021), das dem Weg der Protagonisten Stan Libuda und Rio Reiser folgte. Beyer wie Reng wissen genau, dass nicht in einem Jahr die ganze Geschichte steckt. Das wäre schlechte Metaphysik. Sie gehen aber davon aus, dass diese erste Hälfte der Siebzigerjahre eine große formative Periode in der Bundesrepublik war. Eine Zeitenwende möchte man nicht sagen, weil das jetzt etwas kümmerlich klänge.
Reng arbeitet mit den Mitteln der Parallelmontage, die sich auf diesen Abend des 22. Juni 1974 konzentriert: auf die Vorbereitung, die Anfahrt, das Spiel, das Danach. Er kennt die faszinierende Wirkung, die solche Montagesequenzen auch in Spielfilmen entfalten können, weil sie das Synchrone bündeln und damit intensivieren. Wenn die Mannschaften in den Tunnel des Hamburger Volksparkstadions kommen, schweigsam, als habe man den Spielern verboten, miteinander zu reden, läuft im Deutschen Theater in Berlin seit einer halben Stunde "Die neuen Leiden des jungen W." mit Jutta Wachowiak in der Rolle der Charlie. In der JVA Zweibrücken sitzt der RAF-Terrorist Klaus Jünschke in seiner Zelle, der tags zuvor gesagt haben soll, er sei enttäuscht, "daß bisher im Rahmen der WM von den Raketen kein Gebrauch gemacht worden sei". Dieser Satz, sagt Jünschke Jahrzehnte später, sei nie gefallen.
Reng kennt auch die Grenzen seines Verfahrens. Er arbeitet daher in den Kapiteln mit Rück- und Vorblenden, führt neue Akteurinnen und Akteure ein, die mal enger, mal lockerer mit dem Spiel verbunden sind. Doris Gercke, die Schriftstellerin, die damals als DKP-Mitglied Reiseführerin für DDR-Fußballtouristen war; Roland Jahn, den Dissidenten und späteren Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, der mit einigen aus dem DDR-Team gekickt hatte. Sportjournalisten aus Ost und West. Oder die Spieler Gerd Kische und Wolfgang Croy, die sich nach dem Spiel aus dem Hotel schlichen und von Zivilpolizisten auf die Reeperbahn fahren ließen.
Reng erzählt von zwölf Zentimeter langen Hemdkrägen, orange-braunen Krawatten zu gelben Hemden und davon, wie es Eckhard Henscheid schaffte, an Marcel Reich-Ranicki vorbei ein Interview mit Ror Wolf ins Feuilleton der F.A.Z. zu bringen, in dem auch der Einsatz von Bernd Hölzenbein gefordert wurde. Er lässt Jutta Wachowiak reden, die an diesem 22. Juni in einem Stück spielte, das nach DDR-Kriterien nie hätte genehmigt werden dürfen. Weshalb Reng dann auch kurz vom Rostocker Hinstorff-Verlag erzählt, der Plenzdorf herausbrachte, auch Jurek Becker und Franz Fühmann - um schließlich von der SED-Spitze unter Kuratel gestellt zu werden. Natürlich kommen auch Overath und Netzer vor, der diesmal glanzlose Star, der nie ein Rebell war und auf seine Einwechslung in der 69. Minute, acht Minuten vor Jürgen Sparwassers Siegtreffer, gerne verzichtet hätte. Und eben Matthias Brandt, der am 13. März 1974 im "Aktuellen Sportstudio" anstelle seines Vaters auf die Torwand geschossen hatte.
Reng setzt jedoch nicht allein auf die schillernden Effekte des Anekdotischen. Er zeigt die komplexen Querverbindungen zwischen Politik und Fußball, die einem damals nicht mal dämmerten, weil man zu jung, weil Fußball einfach nur Fußball war und nicht diese mediale Präsenz hatte wie heute. Rengs Befund, man habe damals durch die Bundesrepublik reisen können, ohne zu bemerken, dass eine WM stattfand, kann man nur bestätigen. Keine Fahnen, kein sogenanntes Public Viewing. Und die größte Veranstaltung am Tag nach dem Titelgewinn bestand aus 5000 Menschen auf dem Frankfurter Römer.
Bemerkenswert an Rengs Darstellung ist sein offenes Auge für den Osten. Er beschreibt nicht nur diese Zeit, in der die DDR ihren Zenit erlebte, in der es ein vages Versprechen von Aufbruch und Toleranz gab, das sich in Nichts auflöste. Er schildert die Arroganz eines Uli Honeß, der sich 30 Jahre nach dem Spiel nicht mehr an seinen überlegenen Gegenspieler Lothar Kurbjuweit erinnern wollte. Und da ist die tiefe Enttäuschung von Jutta Wachowiak nach der Wende, die sie einen treffenden Satz sagen lässt: "Es gab nicht die geringste Neugierde auf mich, und auf uns."
Was übrig bleibt? "1974 war, im Rückblick betrachtet, eine Zeit, in der in beiden deutschen Staaten Hoffnungen schwanden", schreibt Reng. Das hat eine Wahrheit, die der eigenen Wahrnehmung widerspricht. Denn die eigene Zukunft war weit, voller Erwartungen. Es interessierte einen nicht, was mit der DDR los war. Von Wiedervereinigung redete niemand. Nur davon, dass die DDR ein zweites Mal ein solches Spiel nicht gewinnen würde. Die Bundesrepublik wurde schließlich Weltmeister - obwohl es die Niederländer um Johan Cruyff so viel mehr verdient gehabt hätten. 50 Jahre später wissen wir mehr, sind aber nicht klüger. Wir sehen, was damals nicht zu sehen war. Das ist kein Anlass, zu hadern. Das ist ein normaler Vorgang, wenn man sich selbst historisch wird. Und überdies zeigt Rengs lesenswertes Geschichtsmosaik, "wie unterschiedlich Menschen nicht nur in verschiedenen Systemen leben, sondern auch in ein und demselben System".
Der Epilog endet mit einer schönen Anekdote. Als Matthias Brandt - der sich später, wie Netzer im Pokalfinale 1973, selbst als Guillaume-Darsteller einwechseln sollte in den Fernsehfilm "Im Schatten der Macht" - in den Neunzigerjahren in München am Residenztheater arbeitete, wollte er eines Tages seinen Erinnerungen an 1974 nachgehen. Er fuhr zu dem kleinen Schreibwarengeschäft, das Georg Schwarzenbeck, Vorstopper der WM-Mannschaft, von seiner Tante übernommen hatte. Er kaufte eine Zeitung, bezahlte bei "Katsche" und ging. Mehr Vergewisserung war gar nicht nötig. Es war ein wichtiges Jahr und Ereignis. Ja, aber wir nehmen es oder uns auch nicht zu wichtig, wenn wir uns von Rengs Buch daran erinnern lassen.
Ronald Reng: "1974. Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte". Piper, 432 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit großem Interesse liest Rezensent Holger Gertz Ronald Rengs Buch über die Weltmeisterschaft 1974, bei der die BRD und DDR in der Gruppenphase aufeinandertrafen. So bricht der Autor auch das Bild der siebziger Jahre als "prilblumenverzierte, pastellfarbene Sehnsuchtszeitzeit" und erinnert daran, dass die bundesdeutsche Regierung damals alles tat, um ein weiteres Attentat wie 1972 in München oder eine RAF-Anschlag zu verhindern, erfährt Gertz. Außerdem kommt der Autor mit vielen unterschiedlichen Menschen ins Gespräch: Mit der Reiseführerin der DDR-Fangruppe Doris Gercke etwa,mit dem Sohn des früheren Kanzlers Brandt, der als Journalist dabei war oder mit dem RAF-Terroristen Jünschke, der sich damals in Isolationshaft befand, lesen wir. Generell besticht das Buch durch unzählige, gut recherchierte Details, so Gertz: So wird er hier etwa an den geheimen Trikottausch der BRD- und DDR-Mannschaft erinnert. Ein wichtiges Stück gesamtdeutscher Geschichte, schließt Gertz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ronald Reng findet im Fußball Geschichten, die weit über den Platz hinaus reichen« SWR2 Kultur 20240403