Der dritte Band der großangelegten Edition der Dits et Ecrits, die sämtliche zu Lebzeiten Foucaults publizierten Aufsätze, Interviews und kleineren Beiträge enthält, bietet eine Vielzahl von Texten, die um die wirkmächtigen Konzepte der Biopolitik und der Gouvernementalität kreisen. Kern dieser theoretischen Neuerkundung ist Foucaults Theorie der Macht, die die bis dahin vorherrschenden Modelle scharf kritisiert und zu polemischen Diskussionen Anlaß gab. Der erste Band der Geschichte der Sexualität, dessen Erscheinen in diesen Zeitraum fällt, entwickelt dieses neue Konzept der Macht, das bis heute nichts an theoretischer Sprengkraft eingebüßt hat. Foucaults Auseinandersetzung mit der Frage der Sexualität kommt in den zahlreichen Interviews, Aufsätzen und Artikeln, die in dieser Zeit entstanden sind, in überaus plastischer Weise zum Ausdruck. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf seinem kontrovers diskutierten politischen Engagement für das neue religiöse Regime im Iran, eine politische Stellungnahme, die heute eine ungeahnte Aktualität angenommen hat. In seinen kleinen Schriften ist Foucault als Denker zu entdecken, für den eine theoretische Neuerkundung mit der Erörterung konkreter politischer Fragen notwendig Hand in Hand geht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2001Der auszog, das Fürchten zu lernen
Nichts für Historiker in kurzen Hosen: Foucaults gesammelte Schriften und Sätze
Wie nähert man sich einem Klassiker? Und wie vermißt man die Seitenwege eines Denkabenteuer, wie verbindet man Fäden, die sich lose um das zentrale Textgewebe winden? Zwei Wege der Auseinandersetzung mit dem „Frühwerk” bieten sich auf den ersten Blick an. Andächtig und zart die Denkbewegungen nachzuzeichnen, wie es einem Klassiker gebührt, ist der eine. Wenn nun aber das fragliche Unternehmen den Namen Foucault trägt, dann führt sich dieser Vorschlag selbst ad absurdum, sofern nicht völlig verkannt wird, mit welchen Explosivstoffen der Leser hantiert.
Als nächstes kommt das Ahnen, Aufspüren, Antizipieren des Späteren. Verführen die gesammelten zahlreichen kleineren Texte aus den Jahren 1954 bis 1969 nicht gerade dazu? Hier scheint die „Archäologie des Wissens” durchzublitzen, dort „Überwachen und Strafen”. Der Kenner braucht die Teile nur noch zusammenzusetzen, und vor ihm entfaltet sich ein lineares philosophisch-historisches Denken. Spätestens dann setzt das Unwohlsein ein. Haben wir es nicht mit den Schriften und Aussprüchen eines zu tun, dem es die Diskontinuität, der Krieg, das Zerbrechen des Wissens angetan hatten?
Vom Augenblick her muss man ihm folgen, die Zeit arretieren, den Horizont der Vergangenheit öffnen, kontingent, antiteleologisch, eben historisch lesen. Hat er nicht selbst alles andere verspottet? „In der großen Anhäufung des bereits Gesagten den Text herauszusuchen, der ‘im vorhinein‘ einem späteren Text ähnelt, herumzustöbern, um in der Geschichte das Spiel der Vorwegnahmen oder der Echos wiederzufinden , das alles sind liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen”. Lange oder keine Hosen, also Struktur oder Kontingenz, das ist die Frage. Warum nicht ohne? Stürzen wir uns also versuchsweise nackt in die Fluten des Denkstromes, ohne zu wissen, worin dieser münden wird.
Nackt in den Fluß des Denkens
Die Übersetzung des 1994 auf französisch erschienenen ersten Bandes der „Dits et Écrits” liefert auf beinahe hundert Seiten zahlreiche biographische Details, darunter eine Menge sentimentalen Klatsches („es war eine unglückliche Zeit für ihn, weil er Schwierigkeiten mit seiner äußeren Erscheinung und seiner sexuellen Neigung hatte”). Wir können in Zukunft auf die Redseligkeit des Biographen Eribon und auf die lüsternen Blicke des anderen Biographen Miller mit heimlichem Bedauern verzichten.
Die Übersetzungen der deutschen Edition sind gelungen. Einige ihrer Eigenarten jedoch rufen Unverständnis hervor. Von einer deutschsprachigen Ausgabe sollte man erwarten, dass sie die Publikationsorte früherer deutscher Übersetzungen aufführt, unabdingbar für den Nachvollzug der deutschen Rezeptionsgeschichte Foucaults. Vielleicht kann die Lücke in den späteren Bänden geschlossen oder die Angabe in einem hoffentlich den vierten Band abschließenden Register nachgeliefert werden.
Zu den faszinierendsten Texten gehören zwei Aufsätze, die Foucault 1962 und 1963 in Critique veröffentlichte. Er trat damals dem Redaktionsbeirat der Zeitschrift bei, deren Geschichte mit dem Namen Georges Bataille verbunden ist. „Ein so grausames Wissen” von 1962 erkundet – angewidert und angezogen zugleich – ein Feld, über das auch jener hätte schreiben können: Geheimgesellschaften, Verführung, Mord, Sadismus, Perversität im Europa der Revolutionskriege. Der Foucault, dem man hier begegnet, ist der Foucault des Schauerromans.
Die Erotik eines Käfigs, in dem ein weiblicher Geheimbund gefangene Männer zwischenlagert, fesselt ihn: „Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu Eigen ist, ist das Objekt für den Henker stets in Reichweite, während sie selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraums von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur soweit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird.”
Der Käfig kommuniziert noch unterirdisch nach beiden Seiten hin. Das Verlies aber, als „Negativbild des Gesellschaftsvertrags”, macht alle zu Gefangenen, Henker wie Opfer. Das erstickende Wissen, das beide teilen, wirkt subversiv. Aristokraten und Volk begehren auf dieselbe bestialische Weise. Das ist reinster Bataille. Alle Unterscheidungen verwischen im Rausch des Exzesses. Und doch entwickelt sich hier auch etwas anderes, eine subtile Analyse und Kategorisierung von Wissensformationen. Hinter den Menschenleibern und -hirnen steckt die Ökonomie des Wissens.
Ähnliches fördert die parallele Lektüre der „Vorrede zur Überschreitung” zutage, Foucaults Hommage an Bataille von 1963. Ohne diesen Text wären weder die Bataille-Renaissance noch der Diskurs der Überschreitung, für den Namen wie Judith Butler stehen, denkbar. Der Tod Gottes fällt darin mit dem Sprechen über die Sexualität zusammen. Foucaults Stil nähert sich dem Batailles an: „Vielleicht ist Überschreitung so etwas wie der Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine lebhafte Helligkeit, seine herzzerreißende und emporragende Einzigartigkeit verleiht.”
Um Überschreitung und Grenze, die zusammengehören, darzustellen, bedarf es einer nicht-diskursiven, nicht-dialektischen, nicht-philosophischen Sprache - einer Sprache, die durch ihre Extremerfahrung ohnmächtig wird, die auf sich selbst verweist und sich „auf eine Infragestellung ihrer Grenze zurückzieht”. Sie entfaltet sich in der Überschreitung des Seins dessen, der spricht: als Sprache des Wahnsinns und des Todes. Oder des Traumes, wie man mit Blick auf Foucaults frühe Deutung der Fundamentalanalyse Binswangers hinzufügen könnte.
Sprechen, um nicht zu sterben
Bataille führt ihn in die Trümmerlandschaft der Sprache. Foucault nennt das „Sprachnot” – „Sprechen, um nicht zu sterben”. Er wird hier später weiter graben. Wo die Expedition allerdings hinführen sollte, stand nie fest. Die beiden verwandten Texte sind von verschiedensten Prägungen und Perspektiven durchzogen. Dieser Foucault ist ein radikaler, exzessiver Denker. Man kann ihn nicht selektiv wahrnehmen und einem wissenschaftlichen Diskurs anverwandeln. Das geschieht immer wieder, besonders unter Historikern, besonders in den USA. Er hielt sich selbst für einen Historiker, arbeitete in Archiven, veröffentlichte einen Text in den Annales und erfuhr von dort auch Anerkennung. Aber ein Historiker im konventionellen Sinn war Foucault nicht. Seine Sprache brannte.
Mit dem vorliegenden Band wird eine Fundgrube, ein historisches Zeugnis zugänglich, das den Leser zum Historiker der Lektüre- und Denkgeschichte Foucaults macht: Heidegger und Binswanger stehen am Anfang. Dann folgt das strukturale Denken, Lacan, Lévi-Strauss und Dumézil, mit denen Foucault „das eigentliche Tiefenphänomen”, das System, entdeckt. Nietzsche macht sich erst Mitte der sechziger Jahre bemerkbar. Politik spielt kaum eine Rolle. Dagegen gilt Foucaults Leidenschaft immer den literarischen Texten: Bataille und vor allem Maurice Blanchot, zeitweise Raymond Roussel und René Char. Der Foucault der kleinen Texte ist Literat, er bevorzugt Techniken des modernen Romans, rhetorische Fragen und erlebte Rede, und er hat eine Vorliebe für Strandmetaphern. Das Ringen um die Sprache nimmt existentielle, mitunter traumatische Dimensionen an. Und immer kehrt eine Textgattung wieder: Foucault liebt Schauerromane. Vielleicht spricht der große Archäologe der Denksysteme von sich selbst, wenn er in einer Rezension schreibt: „Dieses Buch ist der paradoxe Akt eines kritischen Schreckens.”
TIM B. MÜLLER
MICHEL FOUCAULT: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert, Francois Ewald u.a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 1075 Seiten, br. 98 Mark, Ln. 168 Mark.
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Nichts für Historiker in kurzen Hosen: Foucaults gesammelte Schriften und Sätze
Wie nähert man sich einem Klassiker? Und wie vermißt man die Seitenwege eines Denkabenteuer, wie verbindet man Fäden, die sich lose um das zentrale Textgewebe winden? Zwei Wege der Auseinandersetzung mit dem „Frühwerk” bieten sich auf den ersten Blick an. Andächtig und zart die Denkbewegungen nachzuzeichnen, wie es einem Klassiker gebührt, ist der eine. Wenn nun aber das fragliche Unternehmen den Namen Foucault trägt, dann führt sich dieser Vorschlag selbst ad absurdum, sofern nicht völlig verkannt wird, mit welchen Explosivstoffen der Leser hantiert.
Als nächstes kommt das Ahnen, Aufspüren, Antizipieren des Späteren. Verführen die gesammelten zahlreichen kleineren Texte aus den Jahren 1954 bis 1969 nicht gerade dazu? Hier scheint die „Archäologie des Wissens” durchzublitzen, dort „Überwachen und Strafen”. Der Kenner braucht die Teile nur noch zusammenzusetzen, und vor ihm entfaltet sich ein lineares philosophisch-historisches Denken. Spätestens dann setzt das Unwohlsein ein. Haben wir es nicht mit den Schriften und Aussprüchen eines zu tun, dem es die Diskontinuität, der Krieg, das Zerbrechen des Wissens angetan hatten?
Vom Augenblick her muss man ihm folgen, die Zeit arretieren, den Horizont der Vergangenheit öffnen, kontingent, antiteleologisch, eben historisch lesen. Hat er nicht selbst alles andere verspottet? „In der großen Anhäufung des bereits Gesagten den Text herauszusuchen, der ‘im vorhinein‘ einem späteren Text ähnelt, herumzustöbern, um in der Geschichte das Spiel der Vorwegnahmen oder der Echos wiederzufinden , das alles sind liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen”. Lange oder keine Hosen, also Struktur oder Kontingenz, das ist die Frage. Warum nicht ohne? Stürzen wir uns also versuchsweise nackt in die Fluten des Denkstromes, ohne zu wissen, worin dieser münden wird.
Nackt in den Fluß des Denkens
Die Übersetzung des 1994 auf französisch erschienenen ersten Bandes der „Dits et Écrits” liefert auf beinahe hundert Seiten zahlreiche biographische Details, darunter eine Menge sentimentalen Klatsches („es war eine unglückliche Zeit für ihn, weil er Schwierigkeiten mit seiner äußeren Erscheinung und seiner sexuellen Neigung hatte”). Wir können in Zukunft auf die Redseligkeit des Biographen Eribon und auf die lüsternen Blicke des anderen Biographen Miller mit heimlichem Bedauern verzichten.
Die Übersetzungen der deutschen Edition sind gelungen. Einige ihrer Eigenarten jedoch rufen Unverständnis hervor. Von einer deutschsprachigen Ausgabe sollte man erwarten, dass sie die Publikationsorte früherer deutscher Übersetzungen aufführt, unabdingbar für den Nachvollzug der deutschen Rezeptionsgeschichte Foucaults. Vielleicht kann die Lücke in den späteren Bänden geschlossen oder die Angabe in einem hoffentlich den vierten Band abschließenden Register nachgeliefert werden.
Zu den faszinierendsten Texten gehören zwei Aufsätze, die Foucault 1962 und 1963 in Critique veröffentlichte. Er trat damals dem Redaktionsbeirat der Zeitschrift bei, deren Geschichte mit dem Namen Georges Bataille verbunden ist. „Ein so grausames Wissen” von 1962 erkundet – angewidert und angezogen zugleich – ein Feld, über das auch jener hätte schreiben können: Geheimgesellschaften, Verführung, Mord, Sadismus, Perversität im Europa der Revolutionskriege. Der Foucault, dem man hier begegnet, ist der Foucault des Schauerromans.
Die Erotik eines Käfigs, in dem ein weiblicher Geheimbund gefangene Männer zwischenlagert, fesselt ihn: „Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu Eigen ist, ist das Objekt für den Henker stets in Reichweite, während sie selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraums von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur soweit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird.”
Der Käfig kommuniziert noch unterirdisch nach beiden Seiten hin. Das Verlies aber, als „Negativbild des Gesellschaftsvertrags”, macht alle zu Gefangenen, Henker wie Opfer. Das erstickende Wissen, das beide teilen, wirkt subversiv. Aristokraten und Volk begehren auf dieselbe bestialische Weise. Das ist reinster Bataille. Alle Unterscheidungen verwischen im Rausch des Exzesses. Und doch entwickelt sich hier auch etwas anderes, eine subtile Analyse und Kategorisierung von Wissensformationen. Hinter den Menschenleibern und -hirnen steckt die Ökonomie des Wissens.
Ähnliches fördert die parallele Lektüre der „Vorrede zur Überschreitung” zutage, Foucaults Hommage an Bataille von 1963. Ohne diesen Text wären weder die Bataille-Renaissance noch der Diskurs der Überschreitung, für den Namen wie Judith Butler stehen, denkbar. Der Tod Gottes fällt darin mit dem Sprechen über die Sexualität zusammen. Foucaults Stil nähert sich dem Batailles an: „Vielleicht ist Überschreitung so etwas wie der Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine lebhafte Helligkeit, seine herzzerreißende und emporragende Einzigartigkeit verleiht.”
Um Überschreitung und Grenze, die zusammengehören, darzustellen, bedarf es einer nicht-diskursiven, nicht-dialektischen, nicht-philosophischen Sprache - einer Sprache, die durch ihre Extremerfahrung ohnmächtig wird, die auf sich selbst verweist und sich „auf eine Infragestellung ihrer Grenze zurückzieht”. Sie entfaltet sich in der Überschreitung des Seins dessen, der spricht: als Sprache des Wahnsinns und des Todes. Oder des Traumes, wie man mit Blick auf Foucaults frühe Deutung der Fundamentalanalyse Binswangers hinzufügen könnte.
Sprechen, um nicht zu sterben
Bataille führt ihn in die Trümmerlandschaft der Sprache. Foucault nennt das „Sprachnot” – „Sprechen, um nicht zu sterben”. Er wird hier später weiter graben. Wo die Expedition allerdings hinführen sollte, stand nie fest. Die beiden verwandten Texte sind von verschiedensten Prägungen und Perspektiven durchzogen. Dieser Foucault ist ein radikaler, exzessiver Denker. Man kann ihn nicht selektiv wahrnehmen und einem wissenschaftlichen Diskurs anverwandeln. Das geschieht immer wieder, besonders unter Historikern, besonders in den USA. Er hielt sich selbst für einen Historiker, arbeitete in Archiven, veröffentlichte einen Text in den Annales und erfuhr von dort auch Anerkennung. Aber ein Historiker im konventionellen Sinn war Foucault nicht. Seine Sprache brannte.
Mit dem vorliegenden Band wird eine Fundgrube, ein historisches Zeugnis zugänglich, das den Leser zum Historiker der Lektüre- und Denkgeschichte Foucaults macht: Heidegger und Binswanger stehen am Anfang. Dann folgt das strukturale Denken, Lacan, Lévi-Strauss und Dumézil, mit denen Foucault „das eigentliche Tiefenphänomen”, das System, entdeckt. Nietzsche macht sich erst Mitte der sechziger Jahre bemerkbar. Politik spielt kaum eine Rolle. Dagegen gilt Foucaults Leidenschaft immer den literarischen Texten: Bataille und vor allem Maurice Blanchot, zeitweise Raymond Roussel und René Char. Der Foucault der kleinen Texte ist Literat, er bevorzugt Techniken des modernen Romans, rhetorische Fragen und erlebte Rede, und er hat eine Vorliebe für Strandmetaphern. Das Ringen um die Sprache nimmt existentielle, mitunter traumatische Dimensionen an. Und immer kehrt eine Textgattung wieder: Foucault liebt Schauerromane. Vielleicht spricht der große Archäologe der Denksysteme von sich selbst, wenn er in einer Rezension schreibt: „Dieses Buch ist der paradoxe Akt eines kritischen Schreckens.”
TIM B. MÜLLER
MICHEL FOUCAULT: Schriften. Dits et Ecrits. Bd. 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert, Francois Ewald u.a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 1075 Seiten, br. 98 Mark, Ln. 168 Mark.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Wenn ihr den wilden Gesellen fragt
Das ist Foucaults verwegene Jagd: Der erste Band seiner "Schriften" / Von Andreas Platthaus
Sein Werk liest sich wie ein Roman, als Titel könnte er tragen: "Mein Leben als Kurier der Geschichte auf der Pony-Express-Route". Auf letzterer galoppierten ehedem rastlose Reiter, sprangen von einem Pferd auf das andere; wenn es unter ihnen zusammenbrach, liefen sie zu Fuß zur nächsten Relaisstation, wichtig war nur eines: Die Post mußte durchkommen. Dennoch waren sie mehr als Postboten, sie waren Ritter des Wilden Westens. So arbeitete auch Michel Foucault, nur hieß es bei ihm: Die Geschichte muß durchkommen. Dennoch war er mehr als Historiker, er war Streiter für das wilde Wissen.
Häufig wechselte er die Pferde: Vom bewährten Zugtier Phänomenologie ließ er sich für das Reiten begeistern, die alte Mähre Anthropologie zwang er noch einmal ins Geschirr, dann zähmte er einen Wildfang namens Strukturalismus, schwang sich aufs publizistische Schlachtroß, um Studentenrevolte und politischer Gefangenenbewegung voranzupreschen, ließ sich gemeinsam mit Sartre, dessen Philosophie er jahrelang bekämpft hatte, im gemächlich paradierenden Sechsspänner des intellektuellen Engagements zujubeln, sattelte auch so manches Maultier, das nicht fruchtbar sein konnte, half dem Fohlen Biopolitik auf die Welt, das heute die Apokalyptischen Reiter trägt, und nahm seine Reittiere immer mehr an die Kandare, ohne daß sie aber jemals in Trott verfallen wären. Vielmehr war er, als er 1984 starb, immer noch im Galopp unterwegs, und bis heute spukt er als Geisterreiter über das weite Feld der Philosophie. Daran ist nicht zuletzt die berühmte Nachlaßverfügung schuld: "Keine posthume Veröffentlichung", hatte Foucault schon 1982 in sein Testament geschrieben.
Was also sollte geschehen mit all den unveröffentlichten Vorlesungen, vor allem jenen am Collège de France, wo er von 1971 an dreizehn Jahre lang lehrte? Viele kursierten als Raubdrucke, fast alle als Mitschriften. Oder wie sollte verfahren werden mit der unabgeschlossenen Arbeit zur "Histoire de la sexualité" (deutsch unter dem Titel "Sexualität und Wahrheit"), deren dritter Band knapp eine Woche vor dem Tod des Autors in Frankreich erschienen war? Und wie stand es um die sonstigen Manuskripte, um die Briefe etwa oder die zweite Dissertation zu "Genese und Struktur der Anthropologie Kants", die zwar eingereicht wurde, aber immer noch in der Bibliothek der Sorbonne liegt? Wahrlich, Foucault hat seinen Nachlaßverwaltern, allen voran seinem langjährigen Lebensgefährten Daniel Defert, keine kleine Aufgabe hinterlassen. Wie hält man es mit einer Philosophie, deren größter Teil mit dem Philosophen begraben werden sollte?
Fragwürdig hält man es. Vor drei Jahren ist die fulminante Vorlesungsreihe "Il faut défendre la société" erschienen (F.A.Z. vom 22. April 1998; auf deutsch etwas zahm als "In Verteidigung der Gesellschaft" betitelt), ein klarer Verstoß gegen die Testamentsverfügung. Dagegen bezeichnete der Klappentext von "Sexualität und Wahrheit" den vierten Teil dieses Zyklus noch 1986 als "in Vorbereitung". Er sollte jedoch nie publiziert werden. In den "Dits et Ecrits" wiederum, vier voluminösen, von 1994 an erschienenen Sammelbänden mit Aufsätzen, Vorworten, Interviews und Rezensionen, fand sich die eine oder andere noch nicht bekannte Petitesse, und in seinem einleitenden biographischen Abriß brachte Defert so manchen Auszug aus seiner Korrespondenz mit Foucault unter. Nun ist der erste Band dieser "Dits et Ecrits" auch auf deutsch erschienen, und um die Beschäftigung mit Foucault, die anläßlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags gerade eine Renaissance erfahren soll - erst vor zehn Tagen ging die große Frankfurter Konferenz zu Ende (F.A.Z. vom 1. Oktober) -, auch in Deutschland auf eine verläßliche Basis zu stellen, sind sämtliche Texte, auch die schon hierzulande verstreut veröffentlichten, neu übersetzt worden. Um es vorwegzunehmen: Obwohl damit ein Trio beauftragt wurde und sie teilweise konkurrieren müssen mit jahrzehntelang etablierten deutschen Fassungen, sind die Übertragungen sehr gut geraten.
Zwar zählen die großen Monographien Foucaults gar nicht zum Korpus der "Schriften", wie die deutsche Ausgabe der "Dits et Ecrits" in erschreckender Phantasielosigkeit heißt; dennoch sind sie darin wiederzufinden: als Auszüge zum Beispiel, die Foucault vorab veröffentlichte, oder - noch spannender - als Gegenstand späterer Erörterungen. "Die Geburt der Klinik", "Wahnsinn und Gesellschaft", "Archäologie des Wissens" - das sind die gewaltigen Massive, deren Vor- und Hinterland von den sanften Erhebungen gebildet werden, die der erste, den Jahren von 1954 bis 1969 gewidmete Band umfaßt. Das waren eineinhalb Jahrzehnte, in denen sich Foucault vom Bürokraten, der die Leitung diverser französischer Kulturinstitute im Ausland versah, zum "Mandarin der Stunde" (wie George Steiner spottete) im Frankreich der späten sechziger Jahre wandelte. Als er in "Les Mots et les Choses" den Tod des Menschen ausrief, schrie die Existenzphilosophie auf - und mit ihr ganz Frankreich, das in Foucault den Totengräber der geheiligten Werte des Humanismus identifizierte: einen Denker, der nicht den Über-, sondern den Unmenschen predigte. Nichts aber lag ihm ferner, und in den zahlreichen Interviews, die der erste Band der "Schriften" enthält, ist Foucault mit geradezu engelhafter Geduld bemüht, derartige Mißverständnisse auszuräumen.
Dabei enthält bereits der dritte Satz jener Einführung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers "Traum und Existenz", die nunmehr zum Auftakt von Foucaults Werk stilisiert wird, einen Satz, der Foucaults späteres Prinzip des Philosophierens vorwegnimmt: "Die ursprünglichen Formen des Denkens führen sich selber ein: Ihre Geschichte ist die einzige Form von Auslegung, die sie ertragen, und ihr Schicksal die einzige Form von Kritik." Dem Interpreten bleibt da nichts zu tun; und nicht mehr, aber auch nicht weniger meint die zwölf Jahre später so kontrovers aufgenommene Aussage vom Tod des Menschen, der - so die berühmte Schlußwendung von "Die Ordnung der Dinge" - verschwinden könne "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand".
Dieses Verwischen der Spuren aber rekurrierte lediglich auf die Selbstbeschreibung des Menschen als Subjekt, als Ding für sich. Foucault sieht eine Ablösung dieses Ideals voraus, wenn die Einsicht wiederkehre, daß der Mensch auch ohne höheren Sinn leben kann. "Warum funktioniert er?" fragt Foucault in einem der erhellendsten Texte der "Schriften", einem Interview aus der italienischen Zeitschrift "La Fiera letteraria" von 1967. "Um sich fortzupflanzen? Keineswegs. Um sich am Leben zu erhalten? Auch nicht. Er funktioniert. Er funktioniert auf sehr zweideutige Weise, um zu leben, aber auch um zu sterben." Hier spricht Heidegger zwischen den Zeilen, einer der wichtigsten Anreger Foucaults, doch der "Vorlauf zum Tode" wäre schon zuviel Zweck für den französischen Philosophen. Sein Mensch muß gar nicht über das Geschick räsonnieren, denn die "ursprünglichen Formen des Denkens" sind ja gegeben. Die ganze Welt funktioniert gemäß einem mechanischen Prinzip, nach dessen Ingenieur nicht gefragt werden muß, weil es den Charakter eines Perpetuum mobile hat, und das, was dabei produziert wird, ist Geschichte.
Man hat Foucault Kälte vorgeworfen. In seiner schimmernden Theorie-Rüstung hielt man ihn für stur wie einen Panzer. Die Behauptung wird gegenstandslos, wenn man Foucault liest. Immer wieder erweist er sich als Mitfühlender gegenüber den Menschen, die in seiner Weltmaschine scheinbar nur zu "funktionieren" haben. Und gerade in diesen Passagen wird er auch zum großen Stilisten. Um den brillanten Schriftsteller Foucault zu entdecken, muß man nicht bis zur entsetzlichen, aus den Quellen gearbeiteten Schilderung der Vierteilung des Vatermörders Damiens warten, die am Beginn von "Überwachen und Strafen" steht. Schon 1962 begann er einen in "Critique" erschienenen Aufsatz anläßlich der Neuausgabe eines Schauerromans des achtzehnten Jahrhunderts mit folgenden Sätzen: "Die Szene spielt sich in Polen ab, das heißt überall. Eine Gräfin mit fliegenden Haaren flieht aus einem brennenden Schloß. Soldaten haben die Zofen und die Pagen zwischen den Statuen, die erst langsam ihr leeres schönes Antlitz gen Himmel wandten, bevor sie zerschellten, hastig aufgeschlitzt; die lange Zeit wiederhallenden Schreie verloren sich schließlich in den Spiegeln."
Hinter dem lapidaren Zusatz "das heißt überall" verbirgt sich eine persönliche Anklage Foucaults, ein Urteil über die Conditio humana, der das Schlachten zur zweiten Natur geworden ist. "Überall" heißt bei ihm auch "immer", Raum und Zeit gehen in seiner Philosophie keine klare Distinktion mehr ein; Foucault rehabilitiert den Raum gegenüber der Zeit und bringt beide für sein Geschichtsverständnis so zentralen Kategorien gerade dadurch einander nahe. Und in der Lebendigkeit seiner Schilderung bei gleichzeitig extremer Ästhetisierung der Szene läßt er einen Kontrast entstehen, der seinesgleichen in der Literatur kaum hat. Es ist der Blick von Lampedusa, der im blühenden Garten des "Leoparden" die Leiche des bourbonischen Soldaten verwesen läßt. Und im Oxymoron der in den Spiegeln verhallenden Schreie ist zugleich der Ton der Moderne zu hören wie auch die Neigung der literarischen Vorlage zur Kolportage, die die blondgelockte Gräfin den Launen einer grausamen Welt aussetzt.
Alsbald entwickelt sich dieser Aufsatz mit dem programmatischen Titel "Ein so grausames Wissen" zur Vorahnung von "Überwachen und Strafen", denn die Gräfin wird vielfältigen Verfolgungen und Martern unterworfen. Mit einem Schlenker zu Sade, neben Nietzsche der wichtigste Gewährsmann, entwickelt Foucault eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, die verstehen läßt, warum er ersteres vier Jahre später so bereitwillig opfert. In den Handlungen des sadistisch Liebenden erkennt Foucault ein Begehren, das jenen "seine absoluten Rechte als Subjekt" behalten läßt, "während das Opfer immer nur die ferne, rätselhafte und narrative Einheit aus einem Objekt des Begehrens und einem Subjekt des Leidens ist". Die Annahme, über die bloße Funktion eines Lebens hinaus könne dieses auch für mich einen Zweck haben, ermöglicht erst jenes Begehren, das den Handelnden zum absoluten Subjekt werden läßt, für den sich alles nur um ihn zu drehen scheint; was zur Folge hat, daß die Behandelte nur im Leiden zu sich kommen kann und sonst ganz dem Begehrenden gehört. Beide Subjektentstehungen sind negativ besetzt, wenn auch Foucault seine Faszination nicht verleugnen kann. Er selbst ist zweifelsohne ein Begehrender. Doch gegen sein Begehren, oder besser: seine Begierde, setzt er den Tod des Subjekts, das deshalb keinen Menschen mehr aus dessen allein auf das eigene Leben und den eigenen Tod gerichtetem Funktionieren lösen und zum Objekt machen kann, dessen Funktionieren nur noch zur Quelle von Schmerz wird. Alles Leid kommt vom Subjekt her.
Diese Reste existentialistischer Prägung schüttelt Foucault in den Folgejahren ab, und in "Überwachen und Strafen" ist seine Anteilnahme kaschiert von dem, was er selbst "Archäologie" genannt, ein "Forschungsfeld", das er 1966 im Gespräch so beschrieben hat: "Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch deren Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche verweisen auf ein implizites Wissen, das dieser Gesellschaft eigen ist. Genau dieses Wissen wollte ich untersuchen, als Bedingung der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken." Da ist es wieder, das Perpetuum mobile, die ursprünglichen Formen des Denkens, die keiner Kritik zugänglich sind. Foucault behandelt sie, wie er zwei Jahre später ausführt, "ohne jeden Verweis auf einen Ursprung, ohne den geringsten Bezug auf den Beginn einer arché". Doch immerhin kann man in seinem eigenen Werk Ursprünge nachweisen, "Ein so grausames Wissen" ist einer davon.
Eine Stelle besonders läßt - erstmals in den "Schriften" - den späteren Foucault nicht nur ahnen, er ist hier gleichsam schon bei sich. "Der Käfig hat vielfältige Funktionen: Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu eigen ist, ist das Objekt für die Henker stets in Reichweite, während die selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraumes von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur so weit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird." Schwer, sich Foucault hier nicht als Rilke-Leser vorzustellen. Doch im Käfig sitzt ein Mensch, der in den Augen anderer Menschen ganz auf einen Objektstatus reduziert wird.
Damit hat Foucault die Vorgeschichte dessen erzählt, was er dreizehn Jahre später in "Überwachen und Strafen" analysieren wird. In "Ein so grausames Wissen" wird das Verlies als Gegenstück zum Käfig identifiziert, weil "nichts von dem, was es verbirgt, sichtbar wird. Selbst seine Existenz entgeht dem Blick. Ein absolutes Gefängnis, gegen das kein Anschlag möglich ist: Es ist die Hölle, aber ohne deren tiefere Gerechtigkeit." Im Buch von 1975, das den Untertitel "Die Geburt des Gefängnisses" trägt, spielen die archaischen Formen der Haft keine Rolle mehr, Käfig und Verlies ergänzen sich zum Dritten, zum Gefängnis eben. Die Haft ist keine Demütigung mehr wie im Käfig und keine Verdammung zur Unsichtbarkeit wie im Verlies. Sie verspricht nun eine Befreiung des Gefangenen aus dem Objektstatus. Nicht zufällig bildet sich das Gefängnissystem im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert aus, gemeinsam mit dem Selbstverständnis des Menschen als Subjekt. Nicht zufällig bildet sich Foucaults Studie in den frühen siebziger Jahren aus, als er sich für die Gefangenenbewegung engagiert.
Zwischendurch aber, zwischen 1962 und den frühen siebziger Jahren, verlor Foucault den Käfig aus den Augen. Er wurde zur bloßen Metapher in "Die Ordnung der Dinge", bei der Analyse von Velázquez' "Hoffräulein". In dieser Bildbeschreibung, die Foucault bereits 1965 vorabdrucken ließ, findet sich eine bemerkenswerte Passage, die sich dem im Gemälde dargestellten Maler (ein Selbstporträt von Velázquez) widmet: Er ist "vollständig sichtbar; jedenfalls wird er nicht von der großen Leinwand verdeckt, hinter der er möglicherweise gleich verschwinden wird, wenn er ein wenig vortritt und sich wieder an die Arbeit macht; ohne Zweifel ist er eben erst vor den Augen des Betrachters erschienen, als er aus diesem virtuellen Käfig heraustrat, der die Fläche des gerade in Arbeit befindlichen Bildes nach hinten projiziert". Von einer terminologischen Stringenz bei Foucault ist noch nichts zu spüren, der undurchsichtige Käfig von 1965 hat nichts gemein mit dem von 1962. Wo dieser ausstellte und demütigte, verbirgt jener und schützt gar vor den Blicken der Betrachter. Die konzentrierte Foucault-Lektüre verrätselt manches eher, als daß es ein großes Ganzes entstehen ließe. Dabei philosophierte Foucault doch auf eine Weise, die am Ende Hegel viel näher zu sein schien als dem bewunderten Nietzsche - strukturell betrachtet, nicht inhaltlich. Was ist denn die "Archäologie des Wissens" anderes als Foucaults "Phänomenologie des Geistes", eine Einleitung ins System seines Denkens?
Doch die "Schriften" zeigen Foucault als Essayisten und Gesprächspartner mit vielerlei Interessen. Wer hätte etwa gedacht, 1954 bei ihm - der Proust vorwarf, die Franzosen für Joyce blind gemacht zu haben - eine Anspielung auf die "Recherche" zu finden? Foucaults Welt wird hier im Stadium vor ihrem bloßen Funktionieren gezeigt, als auch ihr Autor noch als Subjekt auftrat, in jenen Jahren, als er im Jaguar-Sportwagen die europäischen Straßen zwischen Schweden und Frankreich unsicher machte, als er zum Kreis um Boulez zählte, als er seine Homosexualität auszuleben begann. Sein Leben entsprach nie der bloßen Funktion, und ein Satz, der, herausgelöst aus Foucaults Nachwort zu Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius", wie ein makelloser Aphorismus klingt ("Das Imaginäre haust zwischen dem Buch und der Lampe"), läßt auch etwas von der Tragik spüren, als die er selbst sein Leben begreifen mußte, das ein Subjekt hervorbrachte, das in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum schöner zu finden war. Deshalb die Rastlosigkeit des Denkens, deshalb die wechselnden Allianzen, deshalb der philosophische Kreuzzug des Michel Foucault, letzter der Ritter seiner Profession.
Michel Foucault: "Schriften - Dits et Ecrits". Band 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Legrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1088 S., geb. 168,-, br. 98,- DM.
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Das ist Foucaults verwegene Jagd: Der erste Band seiner "Schriften" / Von Andreas Platthaus
Sein Werk liest sich wie ein Roman, als Titel könnte er tragen: "Mein Leben als Kurier der Geschichte auf der Pony-Express-Route". Auf letzterer galoppierten ehedem rastlose Reiter, sprangen von einem Pferd auf das andere; wenn es unter ihnen zusammenbrach, liefen sie zu Fuß zur nächsten Relaisstation, wichtig war nur eines: Die Post mußte durchkommen. Dennoch waren sie mehr als Postboten, sie waren Ritter des Wilden Westens. So arbeitete auch Michel Foucault, nur hieß es bei ihm: Die Geschichte muß durchkommen. Dennoch war er mehr als Historiker, er war Streiter für das wilde Wissen.
Häufig wechselte er die Pferde: Vom bewährten Zugtier Phänomenologie ließ er sich für das Reiten begeistern, die alte Mähre Anthropologie zwang er noch einmal ins Geschirr, dann zähmte er einen Wildfang namens Strukturalismus, schwang sich aufs publizistische Schlachtroß, um Studentenrevolte und politischer Gefangenenbewegung voranzupreschen, ließ sich gemeinsam mit Sartre, dessen Philosophie er jahrelang bekämpft hatte, im gemächlich paradierenden Sechsspänner des intellektuellen Engagements zujubeln, sattelte auch so manches Maultier, das nicht fruchtbar sein konnte, half dem Fohlen Biopolitik auf die Welt, das heute die Apokalyptischen Reiter trägt, und nahm seine Reittiere immer mehr an die Kandare, ohne daß sie aber jemals in Trott verfallen wären. Vielmehr war er, als er 1984 starb, immer noch im Galopp unterwegs, und bis heute spukt er als Geisterreiter über das weite Feld der Philosophie. Daran ist nicht zuletzt die berühmte Nachlaßverfügung schuld: "Keine posthume Veröffentlichung", hatte Foucault schon 1982 in sein Testament geschrieben.
Was also sollte geschehen mit all den unveröffentlichten Vorlesungen, vor allem jenen am Collège de France, wo er von 1971 an dreizehn Jahre lang lehrte? Viele kursierten als Raubdrucke, fast alle als Mitschriften. Oder wie sollte verfahren werden mit der unabgeschlossenen Arbeit zur "Histoire de la sexualité" (deutsch unter dem Titel "Sexualität und Wahrheit"), deren dritter Band knapp eine Woche vor dem Tod des Autors in Frankreich erschienen war? Und wie stand es um die sonstigen Manuskripte, um die Briefe etwa oder die zweite Dissertation zu "Genese und Struktur der Anthropologie Kants", die zwar eingereicht wurde, aber immer noch in der Bibliothek der Sorbonne liegt? Wahrlich, Foucault hat seinen Nachlaßverwaltern, allen voran seinem langjährigen Lebensgefährten Daniel Defert, keine kleine Aufgabe hinterlassen. Wie hält man es mit einer Philosophie, deren größter Teil mit dem Philosophen begraben werden sollte?
Fragwürdig hält man es. Vor drei Jahren ist die fulminante Vorlesungsreihe "Il faut défendre la société" erschienen (F.A.Z. vom 22. April 1998; auf deutsch etwas zahm als "In Verteidigung der Gesellschaft" betitelt), ein klarer Verstoß gegen die Testamentsverfügung. Dagegen bezeichnete der Klappentext von "Sexualität und Wahrheit" den vierten Teil dieses Zyklus noch 1986 als "in Vorbereitung". Er sollte jedoch nie publiziert werden. In den "Dits et Ecrits" wiederum, vier voluminösen, von 1994 an erschienenen Sammelbänden mit Aufsätzen, Vorworten, Interviews und Rezensionen, fand sich die eine oder andere noch nicht bekannte Petitesse, und in seinem einleitenden biographischen Abriß brachte Defert so manchen Auszug aus seiner Korrespondenz mit Foucault unter. Nun ist der erste Band dieser "Dits et Ecrits" auch auf deutsch erschienen, und um die Beschäftigung mit Foucault, die anläßlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags gerade eine Renaissance erfahren soll - erst vor zehn Tagen ging die große Frankfurter Konferenz zu Ende (F.A.Z. vom 1. Oktober) -, auch in Deutschland auf eine verläßliche Basis zu stellen, sind sämtliche Texte, auch die schon hierzulande verstreut veröffentlichten, neu übersetzt worden. Um es vorwegzunehmen: Obwohl damit ein Trio beauftragt wurde und sie teilweise konkurrieren müssen mit jahrzehntelang etablierten deutschen Fassungen, sind die Übertragungen sehr gut geraten.
Zwar zählen die großen Monographien Foucaults gar nicht zum Korpus der "Schriften", wie die deutsche Ausgabe der "Dits et Ecrits" in erschreckender Phantasielosigkeit heißt; dennoch sind sie darin wiederzufinden: als Auszüge zum Beispiel, die Foucault vorab veröffentlichte, oder - noch spannender - als Gegenstand späterer Erörterungen. "Die Geburt der Klinik", "Wahnsinn und Gesellschaft", "Archäologie des Wissens" - das sind die gewaltigen Massive, deren Vor- und Hinterland von den sanften Erhebungen gebildet werden, die der erste, den Jahren von 1954 bis 1969 gewidmete Band umfaßt. Das waren eineinhalb Jahrzehnte, in denen sich Foucault vom Bürokraten, der die Leitung diverser französischer Kulturinstitute im Ausland versah, zum "Mandarin der Stunde" (wie George Steiner spottete) im Frankreich der späten sechziger Jahre wandelte. Als er in "Les Mots et les Choses" den Tod des Menschen ausrief, schrie die Existenzphilosophie auf - und mit ihr ganz Frankreich, das in Foucault den Totengräber der geheiligten Werte des Humanismus identifizierte: einen Denker, der nicht den Über-, sondern den Unmenschen predigte. Nichts aber lag ihm ferner, und in den zahlreichen Interviews, die der erste Band der "Schriften" enthält, ist Foucault mit geradezu engelhafter Geduld bemüht, derartige Mißverständnisse auszuräumen.
Dabei enthält bereits der dritte Satz jener Einführung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers "Traum und Existenz", die nunmehr zum Auftakt von Foucaults Werk stilisiert wird, einen Satz, der Foucaults späteres Prinzip des Philosophierens vorwegnimmt: "Die ursprünglichen Formen des Denkens führen sich selber ein: Ihre Geschichte ist die einzige Form von Auslegung, die sie ertragen, und ihr Schicksal die einzige Form von Kritik." Dem Interpreten bleibt da nichts zu tun; und nicht mehr, aber auch nicht weniger meint die zwölf Jahre später so kontrovers aufgenommene Aussage vom Tod des Menschen, der - so die berühmte Schlußwendung von "Die Ordnung der Dinge" - verschwinden könne "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand".
Dieses Verwischen der Spuren aber rekurrierte lediglich auf die Selbstbeschreibung des Menschen als Subjekt, als Ding für sich. Foucault sieht eine Ablösung dieses Ideals voraus, wenn die Einsicht wiederkehre, daß der Mensch auch ohne höheren Sinn leben kann. "Warum funktioniert er?" fragt Foucault in einem der erhellendsten Texte der "Schriften", einem Interview aus der italienischen Zeitschrift "La Fiera letteraria" von 1967. "Um sich fortzupflanzen? Keineswegs. Um sich am Leben zu erhalten? Auch nicht. Er funktioniert. Er funktioniert auf sehr zweideutige Weise, um zu leben, aber auch um zu sterben." Hier spricht Heidegger zwischen den Zeilen, einer der wichtigsten Anreger Foucaults, doch der "Vorlauf zum Tode" wäre schon zuviel Zweck für den französischen Philosophen. Sein Mensch muß gar nicht über das Geschick räsonnieren, denn die "ursprünglichen Formen des Denkens" sind ja gegeben. Die ganze Welt funktioniert gemäß einem mechanischen Prinzip, nach dessen Ingenieur nicht gefragt werden muß, weil es den Charakter eines Perpetuum mobile hat, und das, was dabei produziert wird, ist Geschichte.
Man hat Foucault Kälte vorgeworfen. In seiner schimmernden Theorie-Rüstung hielt man ihn für stur wie einen Panzer. Die Behauptung wird gegenstandslos, wenn man Foucault liest. Immer wieder erweist er sich als Mitfühlender gegenüber den Menschen, die in seiner Weltmaschine scheinbar nur zu "funktionieren" haben. Und gerade in diesen Passagen wird er auch zum großen Stilisten. Um den brillanten Schriftsteller Foucault zu entdecken, muß man nicht bis zur entsetzlichen, aus den Quellen gearbeiteten Schilderung der Vierteilung des Vatermörders Damiens warten, die am Beginn von "Überwachen und Strafen" steht. Schon 1962 begann er einen in "Critique" erschienenen Aufsatz anläßlich der Neuausgabe eines Schauerromans des achtzehnten Jahrhunderts mit folgenden Sätzen: "Die Szene spielt sich in Polen ab, das heißt überall. Eine Gräfin mit fliegenden Haaren flieht aus einem brennenden Schloß. Soldaten haben die Zofen und die Pagen zwischen den Statuen, die erst langsam ihr leeres schönes Antlitz gen Himmel wandten, bevor sie zerschellten, hastig aufgeschlitzt; die lange Zeit wiederhallenden Schreie verloren sich schließlich in den Spiegeln."
Hinter dem lapidaren Zusatz "das heißt überall" verbirgt sich eine persönliche Anklage Foucaults, ein Urteil über die Conditio humana, der das Schlachten zur zweiten Natur geworden ist. "Überall" heißt bei ihm auch "immer", Raum und Zeit gehen in seiner Philosophie keine klare Distinktion mehr ein; Foucault rehabilitiert den Raum gegenüber der Zeit und bringt beide für sein Geschichtsverständnis so zentralen Kategorien gerade dadurch einander nahe. Und in der Lebendigkeit seiner Schilderung bei gleichzeitig extremer Ästhetisierung der Szene läßt er einen Kontrast entstehen, der seinesgleichen in der Literatur kaum hat. Es ist der Blick von Lampedusa, der im blühenden Garten des "Leoparden" die Leiche des bourbonischen Soldaten verwesen läßt. Und im Oxymoron der in den Spiegeln verhallenden Schreie ist zugleich der Ton der Moderne zu hören wie auch die Neigung der literarischen Vorlage zur Kolportage, die die blondgelockte Gräfin den Launen einer grausamen Welt aussetzt.
Alsbald entwickelt sich dieser Aufsatz mit dem programmatischen Titel "Ein so grausames Wissen" zur Vorahnung von "Überwachen und Strafen", denn die Gräfin wird vielfältigen Verfolgungen und Martern unterworfen. Mit einem Schlenker zu Sade, neben Nietzsche der wichtigste Gewährsmann, entwickelt Foucault eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, die verstehen läßt, warum er ersteres vier Jahre später so bereitwillig opfert. In den Handlungen des sadistisch Liebenden erkennt Foucault ein Begehren, das jenen "seine absoluten Rechte als Subjekt" behalten läßt, "während das Opfer immer nur die ferne, rätselhafte und narrative Einheit aus einem Objekt des Begehrens und einem Subjekt des Leidens ist". Die Annahme, über die bloße Funktion eines Lebens hinaus könne dieses auch für mich einen Zweck haben, ermöglicht erst jenes Begehren, das den Handelnden zum absoluten Subjekt werden läßt, für den sich alles nur um ihn zu drehen scheint; was zur Folge hat, daß die Behandelte nur im Leiden zu sich kommen kann und sonst ganz dem Begehrenden gehört. Beide Subjektentstehungen sind negativ besetzt, wenn auch Foucault seine Faszination nicht verleugnen kann. Er selbst ist zweifelsohne ein Begehrender. Doch gegen sein Begehren, oder besser: seine Begierde, setzt er den Tod des Subjekts, das deshalb keinen Menschen mehr aus dessen allein auf das eigene Leben und den eigenen Tod gerichtetem Funktionieren lösen und zum Objekt machen kann, dessen Funktionieren nur noch zur Quelle von Schmerz wird. Alles Leid kommt vom Subjekt her.
Diese Reste existentialistischer Prägung schüttelt Foucault in den Folgejahren ab, und in "Überwachen und Strafen" ist seine Anteilnahme kaschiert von dem, was er selbst "Archäologie" genannt, ein "Forschungsfeld", das er 1966 im Gespräch so beschrieben hat: "Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch deren Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche verweisen auf ein implizites Wissen, das dieser Gesellschaft eigen ist. Genau dieses Wissen wollte ich untersuchen, als Bedingung der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken." Da ist es wieder, das Perpetuum mobile, die ursprünglichen Formen des Denkens, die keiner Kritik zugänglich sind. Foucault behandelt sie, wie er zwei Jahre später ausführt, "ohne jeden Verweis auf einen Ursprung, ohne den geringsten Bezug auf den Beginn einer arché". Doch immerhin kann man in seinem eigenen Werk Ursprünge nachweisen, "Ein so grausames Wissen" ist einer davon.
Eine Stelle besonders läßt - erstmals in den "Schriften" - den späteren Foucault nicht nur ahnen, er ist hier gleichsam schon bei sich. "Der Käfig hat vielfältige Funktionen: Man ist darin nackt, weil die Durchsichtigkeit darin ohne eine Zuflucht oder ein mögliches Versteck ist; durch das Ungleichgewicht, das diesem Ort der Einsperrung zu eigen ist, ist das Objekt für die Henker stets in Reichweite, während die selbst unerreichbar sind; gefangen im Innern eines Spielraumes von Gesten, von denen keine physisch unmöglich ist, aber von denen auch keine sich zum Schutz oder zur Befreiung eignet, kommt man nur so weit, wie die Ketten es erlauben; der Käfig ist der Raum, in dem die Freiheit nachgeahmt wird, aber in dem ihr Trugbild an all den vom Blick durchlaufenen Stellen durch das Vorhandensein der Gitterstäbe vernichtet wird." Schwer, sich Foucault hier nicht als Rilke-Leser vorzustellen. Doch im Käfig sitzt ein Mensch, der in den Augen anderer Menschen ganz auf einen Objektstatus reduziert wird.
Damit hat Foucault die Vorgeschichte dessen erzählt, was er dreizehn Jahre später in "Überwachen und Strafen" analysieren wird. In "Ein so grausames Wissen" wird das Verlies als Gegenstück zum Käfig identifiziert, weil "nichts von dem, was es verbirgt, sichtbar wird. Selbst seine Existenz entgeht dem Blick. Ein absolutes Gefängnis, gegen das kein Anschlag möglich ist: Es ist die Hölle, aber ohne deren tiefere Gerechtigkeit." Im Buch von 1975, das den Untertitel "Die Geburt des Gefängnisses" trägt, spielen die archaischen Formen der Haft keine Rolle mehr, Käfig und Verlies ergänzen sich zum Dritten, zum Gefängnis eben. Die Haft ist keine Demütigung mehr wie im Käfig und keine Verdammung zur Unsichtbarkeit wie im Verlies. Sie verspricht nun eine Befreiung des Gefangenen aus dem Objektstatus. Nicht zufällig bildet sich das Gefängnissystem im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert aus, gemeinsam mit dem Selbstverständnis des Menschen als Subjekt. Nicht zufällig bildet sich Foucaults Studie in den frühen siebziger Jahren aus, als er sich für die Gefangenenbewegung engagiert.
Zwischendurch aber, zwischen 1962 und den frühen siebziger Jahren, verlor Foucault den Käfig aus den Augen. Er wurde zur bloßen Metapher in "Die Ordnung der Dinge", bei der Analyse von Velázquez' "Hoffräulein". In dieser Bildbeschreibung, die Foucault bereits 1965 vorabdrucken ließ, findet sich eine bemerkenswerte Passage, die sich dem im Gemälde dargestellten Maler (ein Selbstporträt von Velázquez) widmet: Er ist "vollständig sichtbar; jedenfalls wird er nicht von der großen Leinwand verdeckt, hinter der er möglicherweise gleich verschwinden wird, wenn er ein wenig vortritt und sich wieder an die Arbeit macht; ohne Zweifel ist er eben erst vor den Augen des Betrachters erschienen, als er aus diesem virtuellen Käfig heraustrat, der die Fläche des gerade in Arbeit befindlichen Bildes nach hinten projiziert". Von einer terminologischen Stringenz bei Foucault ist noch nichts zu spüren, der undurchsichtige Käfig von 1965 hat nichts gemein mit dem von 1962. Wo dieser ausstellte und demütigte, verbirgt jener und schützt gar vor den Blicken der Betrachter. Die konzentrierte Foucault-Lektüre verrätselt manches eher, als daß es ein großes Ganzes entstehen ließe. Dabei philosophierte Foucault doch auf eine Weise, die am Ende Hegel viel näher zu sein schien als dem bewunderten Nietzsche - strukturell betrachtet, nicht inhaltlich. Was ist denn die "Archäologie des Wissens" anderes als Foucaults "Phänomenologie des Geistes", eine Einleitung ins System seines Denkens?
Doch die "Schriften" zeigen Foucault als Essayisten und Gesprächspartner mit vielerlei Interessen. Wer hätte etwa gedacht, 1954 bei ihm - der Proust vorwarf, die Franzosen für Joyce blind gemacht zu haben - eine Anspielung auf die "Recherche" zu finden? Foucaults Welt wird hier im Stadium vor ihrem bloßen Funktionieren gezeigt, als auch ihr Autor noch als Subjekt auftrat, in jenen Jahren, als er im Jaguar-Sportwagen die europäischen Straßen zwischen Schweden und Frankreich unsicher machte, als er zum Kreis um Boulez zählte, als er seine Homosexualität auszuleben begann. Sein Leben entsprach nie der bloßen Funktion, und ein Satz, der, herausgelöst aus Foucaults Nachwort zu Flauberts "Versuchung des heiligen Antonius", wie ein makelloser Aphorismus klingt ("Das Imaginäre haust zwischen dem Buch und der Lampe"), läßt auch etwas von der Tragik spüren, als die er selbst sein Leben begreifen mußte, das ein Subjekt hervorbrachte, das in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts kaum schöner zu finden war. Deshalb die Rastlosigkeit des Denkens, deshalb die wechselnden Allianzen, deshalb der philosophische Kreuzzug des Michel Foucault, letzter der Ritter seiner Profession.
Michel Foucault: "Schriften - Dits et Ecrits". Band 1: 1954-1969. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Legrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 1088 S., geb. 168,-, br. 98,- DM.
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