Philipp Sarasin untersucht in seinem gefeierten Buch die Linien, Muster und Ähnlichkeiten, die die Ereignisse des Jahres 1977 miteinander verbinden - und er erzählt davon, wie der Glaube an ein gemeinsames Allgemeines, der die Moderne formte, zu zerbröckeln begann. 1977 führt uns ein Jahr vor Augen, in dem nur die Unsicherheit gewiss und die Ahnung verbreitet war, dass die alten Koordinaten der industriellen Gesellschaft in Zukunft keine Orientierung mehr bieten würden. Eine phänomenale Zeitreise in die Geschichte unserer Gegenwart.
»Philipp Sarasins 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart entfaltet eine Sogwirkung. Hineingezogen wird man in den Strudel der Ereignisse dieses Schlüsseljahres, ja der Siebziger insgesamt.« Andreas Reckwitz Süddeutsche Zeitung 20211229
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Ulrich Gutmair hält Philipp Sarasins Studie für klug gemacht. Wie der Autor sich den Wendeereignissen des Jahres 1977 widmet, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind, findet er trotz aller Willkür der Jahreswahl einleuchtend. Der Kniff, sich über den Tod je einer öffentlichen Figur im Jahr 1977, Anais Nin, Ernst Bloch oder Fanny Lou Hamer, sowie den Zeitgenossen bekannte Ereignisse den historischen Brüchen zu nähern, findet Gutmair schlau, weil zu erkennen ist, wie wirkmächtig der Einzelne in unserer Zeit ist, und weil der Autor so "Rückwärtsprojektionen" vermeidet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2021Die tiefere Botschaft des Langstreckenlaufs
Auf dem Weg zur Ich-AG: Philipp Sarasin untersucht die Bedeutung des Jahres 1977 für unsere Gegenwart
In der Zeitgeschichtsschreibung wird die politische Epochenschwelle der Jahre 1989/1990 seit einiger Zeit von jener der späten siebziger Jahre verdrängt. So unterschiedliche Autoren wie Lutz Raphael, Frank Bösch und Grégoire Chamayou haben zuletzt in vielbeachteten Arbeiten argumentiert, dass sich vor allem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre jene sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Umbrüche im Maschinenraum moderner Gesellschaften vollzogen haben, die zehn Jahre später als schnelle Bewegung in den alten Formen und Fassaden der Herrschaft und Herrschaftslegitimation sichtbar wurden.
War es die ökonomische Transformation der alten Industriegesellschaften, der Aufstieg der Dienstleistungs- und Finanzmärkte und die beginnende Digitalisierung? Oder die Erschöpfung des utopischen Denkens der Revolutionen? Oder eine kulturelle Krise des Universellen in den sich formierenden "Singularitäten", die Jean Baudrillard 1977 ausrief und deren Gesellschaft Andreas Reckwitz in jener Zeit beginnen lässt.
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin charakterisiert diese Epochenschwelle zur Gegenwart in seinem neuen Buch gerade damit, dass es all dies zugleich war, und zwar ohne dass sich das eine noch systematisch auf das andere beziehen oder aus dem anderen erklären ließe. Er bedient sich dafür der inzwischen populären Form des Jahresbuches und konzentriert seine fulminante "Kurze Geschichte der Gegenwart" auf 1977, das Jahr, in dem der Deutsche Herbst endete, in dem die Hegemonie des "Neoliberalismus" und der Punk begannen, in dem die erste menschliche In-Vitro-Fertilisation erfolgreich durchgeführt wurde und in dem auch Donald Trump seinen ersten Auftritt als windiger Geschäftemacher bei einem dubiosen Immobiliendeal mit der New York State Urban Development Corporation hatte.
Und nicht zuletzt schuf das Jahr 1977 mit dem ersten Personal Computer, dem Apple II, langfristig die Voraussetzungen für derartige Jahresbücher. Nur dank digitaler Kataloge, umfassender Zeitungsarchive und vor allem dank Wikipedia weiß man ja überhaupt, was in einem Jahr alles gleichzeitig erschien und passierte, wer siegte, floppte oder starb. So demonstriert das Genre nicht zuletzt, in welchem Maße digitalisierte Quellen den Begriff der Geschichte und die Form ihrer Erzählung verändern.
Sarasin weiß darum und bezieht seine Leser klug in das Spiel ein. So verzichtet er auf jegliche Abbildung. Sein Buch liest man darum mit dem größten Gewinn online: um die Bildwelten nachzuvollziehen, von denen es handelt, und sich durch den im Text mitgeführten Soundtrack zu hören, der einen langen Weg von The Doors bis zu Patti Smith, den Ramones, Talking Heads und The Clash erzählt.
Die Politisierung der Psychologie.
Sarasins hinreißend erzählte und zugleich intellektuell beeindruckende Geschichte des Jahres hat fünf Episoden ohne Rahmenhandlung, die darum nur wechselseitig aufeinander verweisen; keine erzählt ausschließlich den Beginn des Heute. Alles hatte in der klassischen Moderne ja immer schon begonnen, wie Sarasin in fünf geschickt komponierten Nekrologen demonstriert. Da ist einmal das Ende der Revolution als Paradigma der Politik. Sarasin zitiert Baudrillards Ratlosigkeit über eine neue Form einer eigenartig ziellosen politischen Gewalt, von der wir am Ende "nicht mehr wissen, wie wir sie analysieren sollen".
Da ist zum anderen die politische Idee der Menschenrechte und die Politik der Differenz, die sich vor allem im Feminismus als radikale Politik an die freigewordene Stelle der Großideologien schob. Eine dritte Episode handelt von introvertierten Drogentrips und extrovertiertem Sex, die inmitten der Politisierung der Psychologie von halbkriminellen sozialen Praktiken zu öffentlichen Ausdrucksformen wurden. Parallel dazu vollzog sich dank der schnellen Entwicklung der Chiptechnologie der epochale Schritt zur privaten Nutzung digitaler Medien. Die bewegten Bilder begannen allmählich mit den Alltagsgegenständen zu verschwimmen.
Und schließlich verfolgt Sarasin die Herausbildung jener Art ökonomischen Denkens, in dessen Zentrum Hayek, Reagan und Thatcher, freie Märkte und individuelle Selbstkontrolle stehen und das man in der Regel als Neoliberalismus bezeichnet. Dessen Ideengeschichte haben andere Autoren gewiss gründlicher aufgearbeitet, doch auch hier weiß Sarasin überraschende Akzente zu setzen. So reagierten die westlichen Gesellschaften 1977 auf den heraufziehenden Imperativ der Privatisierung von Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat überraschend plötzlich und explizit mit der Sorge um das Selbst der kommenden Ich-AGs. Die definitive Psychoreligion der Siebziger, die Sexhype, Neoliberalismus und Individualisierung in sich vereinte, war, so gesehen, der Langstreckenlauf. Jim Fixx landete 1977 mit dem "Complete Book of Running" einen Weltbestseller - just als Michel Foucault, in vieler Hinsicht der Vordenker hinter Sarasins Geschichte der Gegenwart, während eines Forschungssemesters seine bisherige Machttheorie zu revidieren und eine Analyse neoliberaler Regierungstechnik zu entwickeln begann.
Gewinn an Freiheit und Inklusion.
Um die damit eingetretene Veränderung des Politischen kreist in gewisser Weise das ganze Buch. Seit es sich nicht mehr ungebrochen modern auf das Allgemeine ideologischer Systeme beziehen kann - so lassen sich seine Überlegungen zusammenfassen -, ist frei verantwortetes politisches Handeln, wie es Max Weber für die klassische Moderne formulierte, immer doppelt verdächtig: beargwöhnt von der neoklassischen Ökonomie mit ihren Naturalismen ebenso wie von der radikalen Repräsentationskritik des Feminismus und dem, was man - wiederum seit 1977 - Identitätspolitik nennt.
Der Schlüsselbegriff dieser anderen Politik lautet deswegen "Menschenrechte". Sie existierten zwar schon seit der Allgemeinen Erklärung von 1946 und den UN-Menschenrechtspakten von 1966 als Rechtstexte, wurden aber erst mit der Inaugural Address von Jimmy Carter im Januar 1977 zum Teil weltpolitischer Agenden. Sarasin erklärt das als Vorgriff auf die postideologische Konstellation, weil die Politik der Menschenrechte zwei neue Figuren erst hervorbringt: einerseits die individuellen, unschuldigen, traumatisierten Opfer der Herrschaft, die inhaftierten Dissidenten und gefolterten Menschen; andererseits die ihnen beistehenden organisierten Aktivisten, die ihre Feinde nicht mehr ideologisch bezeichnen.
Sarasin besteht darauf, dass diese politische Zuwendung zum Einzelnen und zum Besonderen nicht zu trennen ist von den Politikformen der Identität und der Verschiebung der Wahrheitsregeln; dass in der historischen Konstellation von "1977" das eine nicht ohne das andere zu haben war. Damit tritt er der gängigen Legende entgegen, die Anfälligkeit der Gegenwart für alternative Fakten könnte zwei anderen Leitphänomenen jenes Jahres anzulasten sein: dem Poststrukturalismus oder der Auflösung eines heteronormativen Konsenses.
Das Buch beginnt und endet ausgesprochen akademisch: Moderne, reflexive Moderne oder Postmoderne? Autopoiesis, Ende der Natur oder Regeln für den Menschenpark? Offenbar gehört es zu den Folgen gerade dieser Epoche, dass sich das nicht mehr mit großer Geste geschichtsphilosophisch entscheiden, sondern nur noch mit der Pathosformel der Ambivalenz besichtigen lässt. "Das Erbe von 1977", schließt Sarasin, "ist in diesem Sinne von tiefer Ambivalenz geprägt: Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen und die im Netz sichtbare Vielfalt der Perspektiven können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch."
Doch trüge Sarasins unbedingt lesenswerte Universalgeschichte nicht eigentlich eine viel weitreichendere Schlussfolgerung? Das Erbe von 1977 ist nicht von Ambivalenz geprägt, das Erbe von 1977 ist die Ambivalenz selbst. Es geht mithin um die in sich zerrissene Haltung zu einer Welt, deren innere Widersprüche keinen historischen Bewegungsgesetzen mehr unterliegen, und die darum auch keine vermittelnden politischen Lösungen mehr kennt, sondern nur noch verschiedene Auswege zum Selbst, zum Eigenen anbietet.
FLORIAN MEINEL.
Philipp Sarasin: "1977". Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 502 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf dem Weg zur Ich-AG: Philipp Sarasin untersucht die Bedeutung des Jahres 1977 für unsere Gegenwart
In der Zeitgeschichtsschreibung wird die politische Epochenschwelle der Jahre 1989/1990 seit einiger Zeit von jener der späten siebziger Jahre verdrängt. So unterschiedliche Autoren wie Lutz Raphael, Frank Bösch und Grégoire Chamayou haben zuletzt in vielbeachteten Arbeiten argumentiert, dass sich vor allem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre jene sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Umbrüche im Maschinenraum moderner Gesellschaften vollzogen haben, die zehn Jahre später als schnelle Bewegung in den alten Formen und Fassaden der Herrschaft und Herrschaftslegitimation sichtbar wurden.
War es die ökonomische Transformation der alten Industriegesellschaften, der Aufstieg der Dienstleistungs- und Finanzmärkte und die beginnende Digitalisierung? Oder die Erschöpfung des utopischen Denkens der Revolutionen? Oder eine kulturelle Krise des Universellen in den sich formierenden "Singularitäten", die Jean Baudrillard 1977 ausrief und deren Gesellschaft Andreas Reckwitz in jener Zeit beginnen lässt.
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin charakterisiert diese Epochenschwelle zur Gegenwart in seinem neuen Buch gerade damit, dass es all dies zugleich war, und zwar ohne dass sich das eine noch systematisch auf das andere beziehen oder aus dem anderen erklären ließe. Er bedient sich dafür der inzwischen populären Form des Jahresbuches und konzentriert seine fulminante "Kurze Geschichte der Gegenwart" auf 1977, das Jahr, in dem der Deutsche Herbst endete, in dem die Hegemonie des "Neoliberalismus" und der Punk begannen, in dem die erste menschliche In-Vitro-Fertilisation erfolgreich durchgeführt wurde und in dem auch Donald Trump seinen ersten Auftritt als windiger Geschäftemacher bei einem dubiosen Immobiliendeal mit der New York State Urban Development Corporation hatte.
Und nicht zuletzt schuf das Jahr 1977 mit dem ersten Personal Computer, dem Apple II, langfristig die Voraussetzungen für derartige Jahresbücher. Nur dank digitaler Kataloge, umfassender Zeitungsarchive und vor allem dank Wikipedia weiß man ja überhaupt, was in einem Jahr alles gleichzeitig erschien und passierte, wer siegte, floppte oder starb. So demonstriert das Genre nicht zuletzt, in welchem Maße digitalisierte Quellen den Begriff der Geschichte und die Form ihrer Erzählung verändern.
Sarasin weiß darum und bezieht seine Leser klug in das Spiel ein. So verzichtet er auf jegliche Abbildung. Sein Buch liest man darum mit dem größten Gewinn online: um die Bildwelten nachzuvollziehen, von denen es handelt, und sich durch den im Text mitgeführten Soundtrack zu hören, der einen langen Weg von The Doors bis zu Patti Smith, den Ramones, Talking Heads und The Clash erzählt.
Die Politisierung der Psychologie.
Sarasins hinreißend erzählte und zugleich intellektuell beeindruckende Geschichte des Jahres hat fünf Episoden ohne Rahmenhandlung, die darum nur wechselseitig aufeinander verweisen; keine erzählt ausschließlich den Beginn des Heute. Alles hatte in der klassischen Moderne ja immer schon begonnen, wie Sarasin in fünf geschickt komponierten Nekrologen demonstriert. Da ist einmal das Ende der Revolution als Paradigma der Politik. Sarasin zitiert Baudrillards Ratlosigkeit über eine neue Form einer eigenartig ziellosen politischen Gewalt, von der wir am Ende "nicht mehr wissen, wie wir sie analysieren sollen".
Da ist zum anderen die politische Idee der Menschenrechte und die Politik der Differenz, die sich vor allem im Feminismus als radikale Politik an die freigewordene Stelle der Großideologien schob. Eine dritte Episode handelt von introvertierten Drogentrips und extrovertiertem Sex, die inmitten der Politisierung der Psychologie von halbkriminellen sozialen Praktiken zu öffentlichen Ausdrucksformen wurden. Parallel dazu vollzog sich dank der schnellen Entwicklung der Chiptechnologie der epochale Schritt zur privaten Nutzung digitaler Medien. Die bewegten Bilder begannen allmählich mit den Alltagsgegenständen zu verschwimmen.
Und schließlich verfolgt Sarasin die Herausbildung jener Art ökonomischen Denkens, in dessen Zentrum Hayek, Reagan und Thatcher, freie Märkte und individuelle Selbstkontrolle stehen und das man in der Regel als Neoliberalismus bezeichnet. Dessen Ideengeschichte haben andere Autoren gewiss gründlicher aufgearbeitet, doch auch hier weiß Sarasin überraschende Akzente zu setzen. So reagierten die westlichen Gesellschaften 1977 auf den heraufziehenden Imperativ der Privatisierung von Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat überraschend plötzlich und explizit mit der Sorge um das Selbst der kommenden Ich-AGs. Die definitive Psychoreligion der Siebziger, die Sexhype, Neoliberalismus und Individualisierung in sich vereinte, war, so gesehen, der Langstreckenlauf. Jim Fixx landete 1977 mit dem "Complete Book of Running" einen Weltbestseller - just als Michel Foucault, in vieler Hinsicht der Vordenker hinter Sarasins Geschichte der Gegenwart, während eines Forschungssemesters seine bisherige Machttheorie zu revidieren und eine Analyse neoliberaler Regierungstechnik zu entwickeln begann.
Gewinn an Freiheit und Inklusion.
Um die damit eingetretene Veränderung des Politischen kreist in gewisser Weise das ganze Buch. Seit es sich nicht mehr ungebrochen modern auf das Allgemeine ideologischer Systeme beziehen kann - so lassen sich seine Überlegungen zusammenfassen -, ist frei verantwortetes politisches Handeln, wie es Max Weber für die klassische Moderne formulierte, immer doppelt verdächtig: beargwöhnt von der neoklassischen Ökonomie mit ihren Naturalismen ebenso wie von der radikalen Repräsentationskritik des Feminismus und dem, was man - wiederum seit 1977 - Identitätspolitik nennt.
Der Schlüsselbegriff dieser anderen Politik lautet deswegen "Menschenrechte". Sie existierten zwar schon seit der Allgemeinen Erklärung von 1946 und den UN-Menschenrechtspakten von 1966 als Rechtstexte, wurden aber erst mit der Inaugural Address von Jimmy Carter im Januar 1977 zum Teil weltpolitischer Agenden. Sarasin erklärt das als Vorgriff auf die postideologische Konstellation, weil die Politik der Menschenrechte zwei neue Figuren erst hervorbringt: einerseits die individuellen, unschuldigen, traumatisierten Opfer der Herrschaft, die inhaftierten Dissidenten und gefolterten Menschen; andererseits die ihnen beistehenden organisierten Aktivisten, die ihre Feinde nicht mehr ideologisch bezeichnen.
Sarasin besteht darauf, dass diese politische Zuwendung zum Einzelnen und zum Besonderen nicht zu trennen ist von den Politikformen der Identität und der Verschiebung der Wahrheitsregeln; dass in der historischen Konstellation von "1977" das eine nicht ohne das andere zu haben war. Damit tritt er der gängigen Legende entgegen, die Anfälligkeit der Gegenwart für alternative Fakten könnte zwei anderen Leitphänomenen jenes Jahres anzulasten sein: dem Poststrukturalismus oder der Auflösung eines heteronormativen Konsenses.
Das Buch beginnt und endet ausgesprochen akademisch: Moderne, reflexive Moderne oder Postmoderne? Autopoiesis, Ende der Natur oder Regeln für den Menschenpark? Offenbar gehört es zu den Folgen gerade dieser Epoche, dass sich das nicht mehr mit großer Geste geschichtsphilosophisch entscheiden, sondern nur noch mit der Pathosformel der Ambivalenz besichtigen lässt. "Das Erbe von 1977", schließt Sarasin, "ist in diesem Sinne von tiefer Ambivalenz geprägt: Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen und die im Netz sichtbare Vielfalt der Perspektiven können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch."
Doch trüge Sarasins unbedingt lesenswerte Universalgeschichte nicht eigentlich eine viel weitreichendere Schlussfolgerung? Das Erbe von 1977 ist nicht von Ambivalenz geprägt, das Erbe von 1977 ist die Ambivalenz selbst. Es geht mithin um die in sich zerrissene Haltung zu einer Welt, deren innere Widersprüche keinen historischen Bewegungsgesetzen mehr unterliegen, und die darum auch keine vermittelnden politischen Lösungen mehr kennt, sondern nur noch verschiedene Auswege zum Selbst, zum Eigenen anbietet.
FLORIAN MEINEL.
Philipp Sarasin: "1977". Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 502 S., geb., 32,- Euro.
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