Yorkshire, 1983. Ein Schulmädchen wird vermisst. Detective Chief Superintendent Maurice Jobson übernimmt die Ermittlungen und präsentiert der Öffentlichkeit schnell einen Hauptverdächtigen. Als dieser in der Untersuchungshaft angeblich Selbstmord begeht, stellt Rechtsanwalt John Piggott eigene Nachforschungen an und stößt auf kriminelle Machenschaften, die bis in höchste Polizeikreise reichen: Pornohandel, schmutzige Immobiliengeschäfte und eine Reihe von Kindesentführungen, die nie aufgeklärt wurden. Auch damals hieß der leitende Ermittler Maurice Jobson. Temporeich und mit großer Leidenschaft erzählt David Peace von dunklen Obsessionen, vermeintlich rechtschaffenen Bürgern und einem tödlichen Spiel mit der Wahrheit. '1983' ist der vierte und letzte Teil des Red Riding Quartetts, einer Chronik Englands in den siebziger und frühen achtziger Jahren, mit der David Peace zu einer der wichtigsten Stimmen der neuen englischen Literatur avancierte.
Die Masse macht's nicht
Serienkiller tun, was sie tun müssen: Sie morden weiter, in den harten, finsteren und furiosen Romanen des Briten David Peace, oder in weiblicher Gestalt, in den Bestsellern der Amerikanerin Chelsea Cain
Er war ja schon ein bisschen unpopulär geworden, ein Fall für die Out-Spalten, für "Was macht eigentlich?", nachdem Autor, Verlag und Filmproduzenten aus einem Hannibal Lecter auch noch den letzten Blutstropfen gepresst hatten. Doch der Serienkiller ist zäher, als man gedacht hat - zumindest ist er als fiktionaler Held genauso beharrlich wie in der Ausübung seines Kerngeschäfts. Er mordet weiter, in kleinen Variationen, nur auf Buchseiten zum Glück. Und die realen Serienmörder von früher behalten ihre Wirkung. Zwei Romane sind jetzt erschienen, deren Autoren sich in Interviews daran erinnern, wie ein realer Killer sie als Kinder und Jugendliche obsessiv beschäftigte. Aus der Obsession ist Literatur geworden, was erst einmal nicht schlecht ist, aber am Ende zu sehr unterschiedlichen Resultaten führt.
Für David Peace, über dessen Nachnamen man nach Lektüre seiner Bücher schon ein wenig grübelt, war es der "Yorkshire Ripper", der von 1975 bis zu seiner Festnahme 1981 dreizehn Frauen umbrachte und in die populäre Mythologie einging. Peace, der heute vierzig ist und in Tokio lebt, ist in West Yorkshire aufgewachsen, und er lässt die Präsenz des Rippers auf eine sehr geschickte Weise in seinen Romanen spürbar werden: in der Beunruhigung und der Hysterie, in dem Druck auf die Polizei, und in zwei Romanen seines "Red Riding Quartet" gibt es explizite Querverbindungen. In "1977" glaubt die Polizei bei einem Mordfall, es handle sich um einen Trittbrettfahrer des Rippers, und in "1980" schickt das Innenministerium einen Mann nach Yorkshire, welcher der örtlichen Polizei auf die Finger schauen soll.
Peace' Romane sind ein Zeitbild, ein finsteres Sittenbild aus der nordenglischen Provinz: vier Bücher, die wie vier Höllenkreise wirken. Sie sind hart und unbarmherzig, sie sind nicht einfach nur blutig und haben einen enormen body count, eine hohe Opferzahl. Sie haben eine Wucht und eine Wut, die sich im Stil niederschlägt, da ist eine zentrifugale Kraft in den wechselnden Perspektiven, eine Zersplitterung, die allein Peace' Sprache auffängt. Dass er mit James Ellroy verglichen worden ist, leuchtet nicht nur wegen dessen "L. A. Quartet" ein. Der Stakkato-Stil, die harten Beats, die knappen Dialoge sind wie bei Ellroy die Form, in der Gewalt und Grauen sich ausdrücken. Es ist eine Welt ohne Mitleid, von der Peace sagt, es gehe nicht um Erlösung - das Streben danach müsse reichen. Alle sind hier verstrickt: die Zeitungsreporter, die Spuren suchen, auch der Anwalt, der sich in "1983" nicht zufriedengibt mit den Ergebnissen der Polizei, und die Polizei ohnehin, die vertuscht, Geständnisse erpresst, Schuldige deckt und davon profitiert.
"1983", der letzte Teil der Tetralogie, wirkt noch zerklüfteter als seine Vorgänger. Die Sprünge in der Zeit und zwischen den Perspektiven sind brachial, Fetzen von Radionachrichten werden dazwischengeschossen, Nachrichten vom bevorstehenden Erdrutschsieg Margaret Thatchers, Songzeilen, albtraumartige Phantasien, die zwischen Lyrik und Delirium oszillieren. Man glaubt fast, den stechenden Geruch von Blut und Kotze, von Schweiß, Urin und verkochtem Gemüse zu spüren; das ist so plastisch geschildert wie die Fäulnis der Korruption im Polizeiapparat, der Handel mit Kinderpornographie in den besseren Kreisen, die abstoßenden Details vergangener und aktueller Morde an kleinen Mädchen.
Peace erzählt von Schuld, die nicht gesühnt wird, von Scham, die nicht vergeht. Und er quält einen mit Wiederholungen, so lange, bis man begreift, dass es einen Sinn hat, wenn er zum Beispiel den Ablauf eines Polizeiverhörs mehrfach beschreibt, wie ein atavistisches Ritual: der Schlag mit den Handschellen auf die Hand des Verdächtigen, die flach auf dem Tisch liegen muss; die erste, dann die zweite Zigarette, die die Ermittler rauchen, um sie plötzlich auszudrücken auf dem Handrücken des Verhörten; die Tritte in den Unterleib, der Atem des Polizeihundes im Gesicht des Gepeinigten.
Es ist bisweilen eklig, es ist abstoßend, die Wiederholungen mit ihren minimalen Variationen hämmern wie ein Kopfschmerz, aber diese brutal verknappte Sprache erzeugt irgendwann einen Sog, der mindestens so stark ist wie jener, der vom Fortgang des Plots ausgeht. Peace ist ein Erzähler, der keine Gefangenen macht, und wer mit "1983" in seine Welt einsteigt, hat nur zwei Möglichkeiten: Nie wieder - oder alles lesen, sofort, und das nicht nur, weil diese vier Romane ein dichtes, sorgfältig geknüpftes Netz bilden, dessen lose Fäden in "1983" zusammengeführt werden - jedes der vier Bücher kann auch mühelos auf eigenen Füßen stehen.
Wie schal wirkt dagegen die narrative Gemütlichkeit von Chelsea Cain, der amerikanischen Bestsellerautorin, die nach "Furie" (2007) gleich einen schönen Vorschuss für zwei weitere Bücher bekam. Gretchen Lowell heißt ihre Serienkillerin, das ist, immerhin, schon ein kleiner Distinktionsgewinn. Der Polizist, der Gretchen verfolgt hat, ist ihr verfallen, obwohl sie ihm in "Furie" die Milz entfernt und ihn beinahe umgebracht hat. Diese Double-Bind-Beziehung ist jedoch nur die etwas grobschlächtige Verlängerung, das Ausplaudern all dessen, was zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling mit Grund nur Andeutung blieb. Hier darf die schlaue Soziopathin auch sexy sein. Doch was immer Blutiges in dem neuen Buch "Grazie" geschieht, die Beschreibungen von Leichen mit geleeartiger Masse in leeren Augenhöhlen und was der drastischen Details mehr sind, da ist immer nur diese glatte, völlig ambitionslose und zur Redundanz neigende Gebrauchsprosa, die es auch nicht versäumt, farbliche Entsprechungen zwischen einem Pullover und einer Schreibtischunterlage mitzuteilen.
Das Grauen hat keine Sprache, es hat keine Form, keinen Stil, und die Masse der Morde allein macht's auch nicht. Die Jugendobsession der heute 35-jährigen Chelsea Cain für den Green River Killer aus Oregon ist zum wohltemperierten kleinen Schauer geworden. Ein bisschen langatmig ist das Ganze auch. 150 Seiten dauert es bis zu Gretchens Ausbruch, und es ist klar, dass sie am Ende entkommen wird - es sind ja nun mal drei Bücher bestellt. Von den Romanen David Peace' ist diese etwas plumpe "Grazie" weiter entfernt als Oregon von Yorkshire. Und wenn man sich von der Literaturkritik nicht ausreden lassen will, dass Kriminalromane mehr als ein nettes Zerstreuungsangebot sind, dann wünscht man sich auch künftig lieber Bücher, die wie ein Schlag auf den Solarplexus wirken, als die nächste Serie einer Serienkillerin.
PETER KÖRTE
David Peace: "1983". Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, 512 Seiten, 22 Euro (auch "1974", "1977" und "1980" sind als Hardcover bei Liebeskind und als Taschenbuch im Heyne-Verlag erschienen).
Chelsea Cain: "Grazie". Roman. Aus dem Englischen von Fred Kinzel. Limes, 384 Seiten, 19,95 Euro
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Serienkiller tun, was sie tun müssen: Sie morden weiter, in den harten, finsteren und furiosen Romanen des Briten David Peace, oder in weiblicher Gestalt, in den Bestsellern der Amerikanerin Chelsea Cain
Er war ja schon ein bisschen unpopulär geworden, ein Fall für die Out-Spalten, für "Was macht eigentlich?", nachdem Autor, Verlag und Filmproduzenten aus einem Hannibal Lecter auch noch den letzten Blutstropfen gepresst hatten. Doch der Serienkiller ist zäher, als man gedacht hat - zumindest ist er als fiktionaler Held genauso beharrlich wie in der Ausübung seines Kerngeschäfts. Er mordet weiter, in kleinen Variationen, nur auf Buchseiten zum Glück. Und die realen Serienmörder von früher behalten ihre Wirkung. Zwei Romane sind jetzt erschienen, deren Autoren sich in Interviews daran erinnern, wie ein realer Killer sie als Kinder und Jugendliche obsessiv beschäftigte. Aus der Obsession ist Literatur geworden, was erst einmal nicht schlecht ist, aber am Ende zu sehr unterschiedlichen Resultaten führt.
Für David Peace, über dessen Nachnamen man nach Lektüre seiner Bücher schon ein wenig grübelt, war es der "Yorkshire Ripper", der von 1975 bis zu seiner Festnahme 1981 dreizehn Frauen umbrachte und in die populäre Mythologie einging. Peace, der heute vierzig ist und in Tokio lebt, ist in West Yorkshire aufgewachsen, und er lässt die Präsenz des Rippers auf eine sehr geschickte Weise in seinen Romanen spürbar werden: in der Beunruhigung und der Hysterie, in dem Druck auf die Polizei, und in zwei Romanen seines "Red Riding Quartet" gibt es explizite Querverbindungen. In "1977" glaubt die Polizei bei einem Mordfall, es handle sich um einen Trittbrettfahrer des Rippers, und in "1980" schickt das Innenministerium einen Mann nach Yorkshire, welcher der örtlichen Polizei auf die Finger schauen soll.
Peace' Romane sind ein Zeitbild, ein finsteres Sittenbild aus der nordenglischen Provinz: vier Bücher, die wie vier Höllenkreise wirken. Sie sind hart und unbarmherzig, sie sind nicht einfach nur blutig und haben einen enormen body count, eine hohe Opferzahl. Sie haben eine Wucht und eine Wut, die sich im Stil niederschlägt, da ist eine zentrifugale Kraft in den wechselnden Perspektiven, eine Zersplitterung, die allein Peace' Sprache auffängt. Dass er mit James Ellroy verglichen worden ist, leuchtet nicht nur wegen dessen "L. A. Quartet" ein. Der Stakkato-Stil, die harten Beats, die knappen Dialoge sind wie bei Ellroy die Form, in der Gewalt und Grauen sich ausdrücken. Es ist eine Welt ohne Mitleid, von der Peace sagt, es gehe nicht um Erlösung - das Streben danach müsse reichen. Alle sind hier verstrickt: die Zeitungsreporter, die Spuren suchen, auch der Anwalt, der sich in "1983" nicht zufriedengibt mit den Ergebnissen der Polizei, und die Polizei ohnehin, die vertuscht, Geständnisse erpresst, Schuldige deckt und davon profitiert.
"1983", der letzte Teil der Tetralogie, wirkt noch zerklüfteter als seine Vorgänger. Die Sprünge in der Zeit und zwischen den Perspektiven sind brachial, Fetzen von Radionachrichten werden dazwischengeschossen, Nachrichten vom bevorstehenden Erdrutschsieg Margaret Thatchers, Songzeilen, albtraumartige Phantasien, die zwischen Lyrik und Delirium oszillieren. Man glaubt fast, den stechenden Geruch von Blut und Kotze, von Schweiß, Urin und verkochtem Gemüse zu spüren; das ist so plastisch geschildert wie die Fäulnis der Korruption im Polizeiapparat, der Handel mit Kinderpornographie in den besseren Kreisen, die abstoßenden Details vergangener und aktueller Morde an kleinen Mädchen.
Peace erzählt von Schuld, die nicht gesühnt wird, von Scham, die nicht vergeht. Und er quält einen mit Wiederholungen, so lange, bis man begreift, dass es einen Sinn hat, wenn er zum Beispiel den Ablauf eines Polizeiverhörs mehrfach beschreibt, wie ein atavistisches Ritual: der Schlag mit den Handschellen auf die Hand des Verdächtigen, die flach auf dem Tisch liegen muss; die erste, dann die zweite Zigarette, die die Ermittler rauchen, um sie plötzlich auszudrücken auf dem Handrücken des Verhörten; die Tritte in den Unterleib, der Atem des Polizeihundes im Gesicht des Gepeinigten.
Es ist bisweilen eklig, es ist abstoßend, die Wiederholungen mit ihren minimalen Variationen hämmern wie ein Kopfschmerz, aber diese brutal verknappte Sprache erzeugt irgendwann einen Sog, der mindestens so stark ist wie jener, der vom Fortgang des Plots ausgeht. Peace ist ein Erzähler, der keine Gefangenen macht, und wer mit "1983" in seine Welt einsteigt, hat nur zwei Möglichkeiten: Nie wieder - oder alles lesen, sofort, und das nicht nur, weil diese vier Romane ein dichtes, sorgfältig geknüpftes Netz bilden, dessen lose Fäden in "1983" zusammengeführt werden - jedes der vier Bücher kann auch mühelos auf eigenen Füßen stehen.
Wie schal wirkt dagegen die narrative Gemütlichkeit von Chelsea Cain, der amerikanischen Bestsellerautorin, die nach "Furie" (2007) gleich einen schönen Vorschuss für zwei weitere Bücher bekam. Gretchen Lowell heißt ihre Serienkillerin, das ist, immerhin, schon ein kleiner Distinktionsgewinn. Der Polizist, der Gretchen verfolgt hat, ist ihr verfallen, obwohl sie ihm in "Furie" die Milz entfernt und ihn beinahe umgebracht hat. Diese Double-Bind-Beziehung ist jedoch nur die etwas grobschlächtige Verlängerung, das Ausplaudern all dessen, was zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling mit Grund nur Andeutung blieb. Hier darf die schlaue Soziopathin auch sexy sein. Doch was immer Blutiges in dem neuen Buch "Grazie" geschieht, die Beschreibungen von Leichen mit geleeartiger Masse in leeren Augenhöhlen und was der drastischen Details mehr sind, da ist immer nur diese glatte, völlig ambitionslose und zur Redundanz neigende Gebrauchsprosa, die es auch nicht versäumt, farbliche Entsprechungen zwischen einem Pullover und einer Schreibtischunterlage mitzuteilen.
Das Grauen hat keine Sprache, es hat keine Form, keinen Stil, und die Masse der Morde allein macht's auch nicht. Die Jugendobsession der heute 35-jährigen Chelsea Cain für den Green River Killer aus Oregon ist zum wohltemperierten kleinen Schauer geworden. Ein bisschen langatmig ist das Ganze auch. 150 Seiten dauert es bis zu Gretchens Ausbruch, und es ist klar, dass sie am Ende entkommen wird - es sind ja nun mal drei Bücher bestellt. Von den Romanen David Peace' ist diese etwas plumpe "Grazie" weiter entfernt als Oregon von Yorkshire. Und wenn man sich von der Literaturkritik nicht ausreden lassen will, dass Kriminalromane mehr als ein nettes Zerstreuungsangebot sind, dann wünscht man sich auch künftig lieber Bücher, die wie ein Schlag auf den Solarplexus wirken, als die nächste Serie einer Serienkillerin.
PETER KÖRTE
David Peace: "1983". Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, 512 Seiten, 22 Euro (auch "1974", "1977" und "1980" sind als Hardcover bei Liebeskind und als Taschenbuch im Heyne-Verlag erschienen).
Chelsea Cain: "Grazie". Roman. Aus dem Englischen von Fred Kinzel. Limes, 384 Seiten, 19,95 Euro
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