Produktdetails
- Romans Graphiqu
- Verlag: Ed. Flammarion Siren / Sarbacane
- Erscheinungstermin: 26. April 2021
- Französisch
- Abmessung: 27mm x 258mm x 260mm
- Gewicht: 1411g
- ISBN-13: 9782377316588
- Artikelnr.: 61459463
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2021Der Staub der Wirklichkeit
Das wahre Orwell-Jahr beginnt gerade erst: Deutsche Verlage überbieten einander mit Neuübersetzungen von "1984" und "Farm der Tiere". Warum?
Von Tobias Döring
Ein alltägliches Ereignis: Ein Mann namens Winston Smith betritt das Haus. Draußen ist es ungemütlich kalt und windig, deshalb schließt er schnell die Tür. Aber das gelingt ihm doch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass mit dem scharfen Wind eine Dreck-und-Staub-Wolke ins Haus gelangt. Das scheint kaum der Rede wert, und dennoch bietet diese kleine Szene nichts Geringeres als das Erzählprogramm eines der wirkmächtigsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Werk für unsere Vorstellungs- wie auch Erfahrungswelten, ja unsere Alltagssprache prägend ist wie das kaum eines anderen.
Es handelt sich um die Eingangsszene von George Orwells "1984", erschienen im Juni 1949, sieben Monate bevor der Autor im Alter von 46 Jahren starb. Vieles darin ist bedeutungsträchtig, nicht zuletzt der Name des Protagonisten, der mit "Winston" die Erinnerung an den britischen Kriegshelden Winston Churchill aufruft und ihm mit "Smith" einen Allerweltsnamen gibt. Am bedeutendsten ist hier aber das scheinbar Nebensächlichste: der Staub, der ins Haus hineinwirbelt, im Englischen "a swirl of gritty dust". Dieses Adjektiv hat es in sich: "gritty" heißt so viel wie "sandig" oder "grobkörnig", von kleingeschroteter, doch harter und zählebiger Beschaffenheit. Es steht für allerhand, was knirscht und schleift und sich nicht draußen halten lässt. Die Dreck-und-Staub-Wolke zeigt damit sofort programmatisch an, worauf sich der Autor einlässt: die Zumutungen einer Wirklichkeit, vor der andere die Tür lieber verschließen.
Orwell, der eigentlich Eric Blair hieß, ist mit seinem Künstlernamen zu einer Chiffre geworden, mit der sich alles bezeichnen lässt, was mit Überwachung, Unterdrückung, Wahrheitsfälschung, Totalitarismus, Spitzelei, Personenkult oder Kontrollwahn zu tun hat. Man braucht von diesem Autor keine Zeile gelesen haben und kennt doch viele seiner Ausdrücke wie "Big Brother" oder "Neusprech" oder Slogans wie "Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen", wie sie seinen beiden bekanntesten Romanen "Farm der Tiere" und "1984" entstammen. Vielleicht ist uns das Formelrepertoire dieser Texte zu selbstverständlich geworden, um uns darüber zu wundern, wie es sein kann, dass politische Satiren aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs immer noch so unentbehrlich sind. Deshalb lohnt es umso mehr, sie endlich wieder (oder überhaupt) zu lesen und zu fragen, wie sich Orwell - der Klischees verabscheute und größten Wert auf das Literarische, nicht bloß Politische in seinem Werk legte - aus dem Chiffrehaften lösen lässt.
Denkpol sucht Denkkrim.
Dazu gibt es jetzt beste Gelegenheit. Gleich ein halbes Dutzend Verlage bringen mit Beginn des Jahres, da das Copyright ausgelaufen ist, Orwell neu auf Deutsch heraus, darunter allein fünf Neuübersetzungen von "1984", dargeboten in verlockender Aufmachung (bei Manesse funkelnde Augen auf dem Schutzumschlag), mit kundigen Anmerkungen (bei dtv und Comino), prominenten Vor- und Nachwortschreibern und vor allem starken Übersetzern. Ein solcher Orwell-Boom setzt darauf, dass uns die Themen, für die dieser Autor steht, derzeit wieder verschärft beschäftigen - Trump, fake news, Corona - und durchaus bestsellerverdächtig sind. Dabei ist es aber unbestreitbar von Gewinn, dass wir seinem Werk jetzt in vielfacher Sprachgestalt begegnen. Bei Romanen, die uns Sprache derart scharfsichtig als Machtwerkzeug vorführen, kommt es auf jedes einzelne Wort an. Und da uns die Übersetzer doch erstaunlich unterschiedliche Versionen bieten, sind wir beim Lesen ständig aufgefordert, aufmerksam die Macht von Wörtern zu bedenken.
Das betrifft zum Beispiel die Bezeichnungen, mit denen "1984" uns die Gegebenheiten seiner Zukunftswelt vermittelt. Heißt das technische Gerät, das dort jede Wohnung dauerhaft mit Propaganda flutet und zugleich überwacht, nun "Bildschirm" (wie bei Eike Schönfeld), "Telemonitor" (Frank Heibert) oder "Teleschirm" (Simone Fischer, Gisbert Haefs und Lutz-W. Wolff)? Lautet der berühmte Slogan, dass uns der Große Bruder "sieht" (Fischer, Heibert), "im Blick hat" (Schönfeld) oder "beobachtet" (Haefs)? Oder braucht der zu Zeiten, da "Big Brother" längst ein Unterhaltungsformat bildet, überhaupt keine Übersetzung (wie bei Wolff)? Gibt es für die Abweichler wie Winston Smith eine Spitzeltruppe namens "Denkpol" (Heibert), oder heißt sie "Gedankenpolizei" (alle anderen)? Und fahndet sie nach "Gedankenverbrechen" (dito) oder nach "Denkkrim" (Heibert)?
Das sind keine Wortklaubereien. Denn ein dystopischer Roman, der seiner Gegenwart dadurch zu Leibe rückt, dass er ihre gefährlichen Tendenzen fortschreibt und in einem düsteren Szenario zur Kenntlichkeit entstellt, muss uns die vertraute Wirklichkeit verfremden und zugleich zu erkennen geben, worauf genau er sich bezieht. Orwell war in erster Linie Reporter, dem es immer darum ging, was er wahrnahm, ohne Wimpernzucken einzufangen. "1984" ist eigentlich eine Zustandsbeschreibung, die Nachrichtenwert beansprucht, da sie unerbittlich über die Beschaffenheit der verkommenen Machtwelt aufklärt, bis hin zu den Dreckpartikeln, die im Getriebe feingerieben werden. Und auch eine politische Parabel wie "Farm der Tiere" lässt sich als Live-Berichterstattung lesen, mit der ein Sozialist dokumentiert, wie er sich mit wachsendem Abscheu vom Stalinismus abwendet.
Für Orwell selbst geschah dies, als er 1936 in den Spanischen Bürgerkrieg zog, um als Freiwilliger zu kämpfen. Gewiss ging es ihm um die große Sache des Sozialismus, der er sich zeitlebens verpflichtet fühlte, und zwar auch noch zehn Jahre später, als er vielen Linken längst als Renegat galt. 1936 aber liefen in Moskau die Schauprozesse. So ging es ihm im Spanien wohl auch darum, der möblierten Lebenswelt in England zu entkommen und sich den Bewährungsproben einer rauhen Gegenwelt entschlossen auszusetzen. Auch darüber hat er ein packendes Buch geschrieben, "Hommage to Catalonia" (1938). Es zeigt, dass er immer dann zu großer Form aufläuft, wenn ihn die Wirklichkeit mit ihren Staub- und Dreckpartikeln in Bedrängnis bringt. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck "nitty-gritty", der das Wesentliche meint: Da kommt Orwell zur Sache.
Darum geht es schon in seinem allerersten Buch, für das er 1933 einen Verlag findet, "Ganz unten in Paris und London", eine Sozialreportage aus dem Tagelöhner- und Hungermilieu der Moderne (dank Peter Hillebrand liegt sie jetzt erstmals überhaupt in einer zuverlässigen Übersetzung vor). Mit vierundzwanzig, nach teurer Privatschulerziehung in Eton und freudloser Karriere im Kolonialdienst, war er voller Hoffnung nach Paris gezogen, um sich endlich der Literatur zu widmen. Doch die Romanprojekte scheitern. Bettelarm schlägt er sich durch, arbeitet als Tellerwäscher und erfährt, wie man Schuhsohlen mit Zeitungspapier ausbessert und sich die Knöchelhaut mit schwarzer Tinte einfärbt, damit die Löcher in den Socken nicht so auffallen: So kann man bei Hotelbetreibern renommieren. Und so erfindet sich der Schriftsteller George Orwell, indem er die soziale Wirklichkeit entdeckt.
Komplexe Plotentwicklung und Figurenzeichnung sind dagegen seine Sache nicht, auch nicht in den späteren Romanen, die zu Welterfolgen werden. "1984" ist quälend statisch, monochrom und monoman. Das ist mit Sicherheit Kalkül, denn auf fast jeder Seite geht es hier darum, uns den menschenverachtenden Zynismus eines Machtapparats vorzuführen, der sich selbst als einzigen Zweck setzt. Erzählerische Dynamik lässt sich daraus nicht gewinnen. Wenn Winston Smith daher über die "Ödnis", "Schäbigkeit" und "Lustlosigkeit" (Wolff) oder die "Kargheit", "Schäbigkeit" und "Eintönigkeit" (Haefs) oder auch die "Dürftigkeit", "Schäbigkeit" und "Teilnahmslosigkeit" (Schönfeld) des modernen Lebens nachdenkt, charakterisiert er zugleich, wie der Roman über weite Strecken wirkt. Auch seine Figuren - und besonders die einzig nennenswerte Frauenfigur, die einer Männerphantasie entsprungen scheint - sind schrecklich schablonenhaft. Wahrscheinlich bezieht er gerade daraus viel von seiner Wucht.
Das gilt erst recht für "Farm der Tiere", wo die Typisierung ja ohnehin den Spielregeln des Märchen- oder Fabelwesens, denen der Text folgt, entspricht. Tatsächlich findet Orwell hier zu einer Stringenz des Erzählens, die "1984" abgeht (wohl auch deshalb, weil die Arbeit daran krankheitshalber nicht ganz abgeschlossen werden konnte). Zumal in Ulrich Blumenbachs messerscharfer Übersetzung liest sich dieser große Kurzroman wie mit dem Skalpell geschrieben. Dennoch bleiben Widersprüche, und die Lehrfabel geht nicht klar auf. Darauf hat schon T.S. Eliot hingewiesen, als er 1944 für den Faber-Verlag die Ablehnung des Manuskripts begründete: Warum, so fragte er den Autor, sollten denn die Schweine die Schurken sein? Immerhin seien sie intelligenter als die anderen Tiere und somit besser zur Führung der Farm qualifiziert. "Was also nottut", gab er zu bedenken, "ist nicht mehr Kommunismus, sondern sind mehr Schweine mit Gemeinsinn." So lässt sich die Parabel von der verratenen Revolution bestens zur Verteidigung der Geisteselite nutzen.
Bier im Literglas? Shocking!
Damit legt Eliot den Finger auf einen wunden Punkt, der uns insgesamt begegnet: Orwells Ambivalenz. In fast allem außer den politischen Ansichten zutiefst konservativ, hielt Orwell an den Ritualen jener Ordnungskräfte fest, deren Leitfiguren er gleichwohl als Vertreter des Establishments brandmarkte. Vielleicht weil er einer Kolonialfamilie entstammte - auf die Welt kam er im indischen Motihari, sein Vater organisierte den Opiumhandel mit China -, blieb er in Kleinengland lebenslänglich Sonderling und kompensierte das durch heiße Inbrunst, mit der er sich englischen Traditionen in die Arme warf. Beim Aufbruch nach Spanien machte er sich Sorgen, wie er dort anständigen Tee bekommen sollte, und in "1984" liegt ein besonderer Affront darin, dass der lokale Pub das Bier in Litern, nicht in Pints ausschenkt. Als Autor allerdings zieht er aus der Distanzerfahrung Stärke. Das eigene Land mit fremden Augen zu betrachten und schreibend zu erkunden, was es bietet, schärft den diagnostischen Blick.
In solchen Passagen finden sich denn auch die intensivsten Stellen: im Dreck und Staub des Wirklichen. "Haben diese verrottenden Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert schon immer das Stadtpanorama bestimmt, ihre mit Holzbalken abgestützten Seitenwände, die Fenster mit Pappe geflickt, die Dächer mit Wellblech, die absurden, in alle Richtungen weggesackten Gartenmauern? Und die Ruinengrundstücke, wo Gipsstaub in der Luft hängt und Weidenröschen auf den Trümmerhaufen wuchern? Die größeren Bombenbrachen, Platz für unzählige verlotterte Siedlungen aus Holzhütten, die nach Hühnerhäusern aussehen?" So übersetzt Frank Heibert den verzweifelten Moment, da Winston Smith die desolate Stadt, in der er lebt, vergeblich mit den dürftigen Erinnerungen an seinen Kindheitsort vergleicht. "Doch es hat keinen Zweck, er weiß es nicht mehr: Aus seiner Kindheit sind nur eine Reihe greller Tableaus geblieben, ohne Hintergrund und weitgehend ohne Sinn."
An solchen Stellen, nicht in den Formeln und Slogans, zeigt sich Orwells Stärke als Stilist. Von den weiteren Übersetzungen überzeugt am meisten die von Gisbert Haefs durch ihre nuancierte und doch zupackende Sprachgebung. Heiberts Fassung aber sticht aus der gesamte Reihe dadurch heraus, dass er einen krassen Eingriff wagt: Er wählt das Präsens als Erzähltempus. Das ist riskant und eigenmächtig, aber schlicht genial. Denn so rückt die gesamte Welt, die hier erzählt wird, nicht nur ins grelle Licht einer unvermittelten Konfrontation; ihr wird zugleich der Hintergrund einer verlässlichen Vergangenheit entzogen, wovon Orwells Geschichte in der Tat erzählt. Im Nachwort erklärt der Übersetzer, dass er die schockierende Wirkung des Romans bei Erstveröffentlichung noch mal herstellen und uns "so nah wie möglich auf die Pelle rücken" will. Das ist gelungen. Ohne einen raunenden Beschwörer des Imperfekts sind wir allen Zumutungen, die wir darin finden, schutzlos ausgeliefert und spüren förmlich allen "gritty dust" (bei Heibert: "körniger Staub") zwischen unseren Zähnen knirschen.
Das Wort "grit" heißt übrigens zugleich auch "Mut", "Entschlossenheit", "Charakterstärke", "Stehvermögen". Es weist damit nicht nur auf Winston Smith und seinen Akt der Auflehnung, der allerdings vergeblich bleibt - wie bei Beckett scheitern Orwells Helden immer -, sondern auch auf seinen Autor. Das ist der Grund, warum der aktuelle Orwell-Boom uns hoffen lassen kann: Womöglich bringt er uns in dieser Zeit mehr "grit".
George Orwell: "1984". Roman.
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Robert Habeck. dtv, München 2021. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Frank Heibert. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a. M. 2021. 336 S., br., 12,- [Euro].
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Insel Verlag, Berlin 2021. 382 S., geb., 20,- [Euro].
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Nachwort von Mirko Bonné. Manesse, München 2021. 446 S., geb., 22,- [Euro].
Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol Verlag, Hamburg 2021. 390 S., geb., 7,95 [Euro].
George Orwell: "Farm der Tiere". Ein Märchen. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse, München 2021. 190 S., geb., 18,- [Euro].
Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol Verlag, Hamburg 2021. 116 S., geb., 5,95 [Euro].
George Orwell: "Ganz unten in Paris und London".
Aus dem Englischen und mit Erläuterungen von Peter Hillebrand. Vorwort von Panait Istrati. Comino Verlag, Berlin 2021. 274 S., br., 9,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das wahre Orwell-Jahr beginnt gerade erst: Deutsche Verlage überbieten einander mit Neuübersetzungen von "1984" und "Farm der Tiere". Warum?
Von Tobias Döring
Ein alltägliches Ereignis: Ein Mann namens Winston Smith betritt das Haus. Draußen ist es ungemütlich kalt und windig, deshalb schließt er schnell die Tür. Aber das gelingt ihm doch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass mit dem scharfen Wind eine Dreck-und-Staub-Wolke ins Haus gelangt. Das scheint kaum der Rede wert, und dennoch bietet diese kleine Szene nichts Geringeres als das Erzählprogramm eines der wirkmächtigsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Werk für unsere Vorstellungs- wie auch Erfahrungswelten, ja unsere Alltagssprache prägend ist wie das kaum eines anderen.
Es handelt sich um die Eingangsszene von George Orwells "1984", erschienen im Juni 1949, sieben Monate bevor der Autor im Alter von 46 Jahren starb. Vieles darin ist bedeutungsträchtig, nicht zuletzt der Name des Protagonisten, der mit "Winston" die Erinnerung an den britischen Kriegshelden Winston Churchill aufruft und ihm mit "Smith" einen Allerweltsnamen gibt. Am bedeutendsten ist hier aber das scheinbar Nebensächlichste: der Staub, der ins Haus hineinwirbelt, im Englischen "a swirl of gritty dust". Dieses Adjektiv hat es in sich: "gritty" heißt so viel wie "sandig" oder "grobkörnig", von kleingeschroteter, doch harter und zählebiger Beschaffenheit. Es steht für allerhand, was knirscht und schleift und sich nicht draußen halten lässt. Die Dreck-und-Staub-Wolke zeigt damit sofort programmatisch an, worauf sich der Autor einlässt: die Zumutungen einer Wirklichkeit, vor der andere die Tür lieber verschließen.
Orwell, der eigentlich Eric Blair hieß, ist mit seinem Künstlernamen zu einer Chiffre geworden, mit der sich alles bezeichnen lässt, was mit Überwachung, Unterdrückung, Wahrheitsfälschung, Totalitarismus, Spitzelei, Personenkult oder Kontrollwahn zu tun hat. Man braucht von diesem Autor keine Zeile gelesen haben und kennt doch viele seiner Ausdrücke wie "Big Brother" oder "Neusprech" oder Slogans wie "Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen", wie sie seinen beiden bekanntesten Romanen "Farm der Tiere" und "1984" entstammen. Vielleicht ist uns das Formelrepertoire dieser Texte zu selbstverständlich geworden, um uns darüber zu wundern, wie es sein kann, dass politische Satiren aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs immer noch so unentbehrlich sind. Deshalb lohnt es umso mehr, sie endlich wieder (oder überhaupt) zu lesen und zu fragen, wie sich Orwell - der Klischees verabscheute und größten Wert auf das Literarische, nicht bloß Politische in seinem Werk legte - aus dem Chiffrehaften lösen lässt.
Denkpol sucht Denkkrim.
Dazu gibt es jetzt beste Gelegenheit. Gleich ein halbes Dutzend Verlage bringen mit Beginn des Jahres, da das Copyright ausgelaufen ist, Orwell neu auf Deutsch heraus, darunter allein fünf Neuübersetzungen von "1984", dargeboten in verlockender Aufmachung (bei Manesse funkelnde Augen auf dem Schutzumschlag), mit kundigen Anmerkungen (bei dtv und Comino), prominenten Vor- und Nachwortschreibern und vor allem starken Übersetzern. Ein solcher Orwell-Boom setzt darauf, dass uns die Themen, für die dieser Autor steht, derzeit wieder verschärft beschäftigen - Trump, fake news, Corona - und durchaus bestsellerverdächtig sind. Dabei ist es aber unbestreitbar von Gewinn, dass wir seinem Werk jetzt in vielfacher Sprachgestalt begegnen. Bei Romanen, die uns Sprache derart scharfsichtig als Machtwerkzeug vorführen, kommt es auf jedes einzelne Wort an. Und da uns die Übersetzer doch erstaunlich unterschiedliche Versionen bieten, sind wir beim Lesen ständig aufgefordert, aufmerksam die Macht von Wörtern zu bedenken.
Das betrifft zum Beispiel die Bezeichnungen, mit denen "1984" uns die Gegebenheiten seiner Zukunftswelt vermittelt. Heißt das technische Gerät, das dort jede Wohnung dauerhaft mit Propaganda flutet und zugleich überwacht, nun "Bildschirm" (wie bei Eike Schönfeld), "Telemonitor" (Frank Heibert) oder "Teleschirm" (Simone Fischer, Gisbert Haefs und Lutz-W. Wolff)? Lautet der berühmte Slogan, dass uns der Große Bruder "sieht" (Fischer, Heibert), "im Blick hat" (Schönfeld) oder "beobachtet" (Haefs)? Oder braucht der zu Zeiten, da "Big Brother" längst ein Unterhaltungsformat bildet, überhaupt keine Übersetzung (wie bei Wolff)? Gibt es für die Abweichler wie Winston Smith eine Spitzeltruppe namens "Denkpol" (Heibert), oder heißt sie "Gedankenpolizei" (alle anderen)? Und fahndet sie nach "Gedankenverbrechen" (dito) oder nach "Denkkrim" (Heibert)?
Das sind keine Wortklaubereien. Denn ein dystopischer Roman, der seiner Gegenwart dadurch zu Leibe rückt, dass er ihre gefährlichen Tendenzen fortschreibt und in einem düsteren Szenario zur Kenntlichkeit entstellt, muss uns die vertraute Wirklichkeit verfremden und zugleich zu erkennen geben, worauf genau er sich bezieht. Orwell war in erster Linie Reporter, dem es immer darum ging, was er wahrnahm, ohne Wimpernzucken einzufangen. "1984" ist eigentlich eine Zustandsbeschreibung, die Nachrichtenwert beansprucht, da sie unerbittlich über die Beschaffenheit der verkommenen Machtwelt aufklärt, bis hin zu den Dreckpartikeln, die im Getriebe feingerieben werden. Und auch eine politische Parabel wie "Farm der Tiere" lässt sich als Live-Berichterstattung lesen, mit der ein Sozialist dokumentiert, wie er sich mit wachsendem Abscheu vom Stalinismus abwendet.
Für Orwell selbst geschah dies, als er 1936 in den Spanischen Bürgerkrieg zog, um als Freiwilliger zu kämpfen. Gewiss ging es ihm um die große Sache des Sozialismus, der er sich zeitlebens verpflichtet fühlte, und zwar auch noch zehn Jahre später, als er vielen Linken längst als Renegat galt. 1936 aber liefen in Moskau die Schauprozesse. So ging es ihm im Spanien wohl auch darum, der möblierten Lebenswelt in England zu entkommen und sich den Bewährungsproben einer rauhen Gegenwelt entschlossen auszusetzen. Auch darüber hat er ein packendes Buch geschrieben, "Hommage to Catalonia" (1938). Es zeigt, dass er immer dann zu großer Form aufläuft, wenn ihn die Wirklichkeit mit ihren Staub- und Dreckpartikeln in Bedrängnis bringt. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck "nitty-gritty", der das Wesentliche meint: Da kommt Orwell zur Sache.
Darum geht es schon in seinem allerersten Buch, für das er 1933 einen Verlag findet, "Ganz unten in Paris und London", eine Sozialreportage aus dem Tagelöhner- und Hungermilieu der Moderne (dank Peter Hillebrand liegt sie jetzt erstmals überhaupt in einer zuverlässigen Übersetzung vor). Mit vierundzwanzig, nach teurer Privatschulerziehung in Eton und freudloser Karriere im Kolonialdienst, war er voller Hoffnung nach Paris gezogen, um sich endlich der Literatur zu widmen. Doch die Romanprojekte scheitern. Bettelarm schlägt er sich durch, arbeitet als Tellerwäscher und erfährt, wie man Schuhsohlen mit Zeitungspapier ausbessert und sich die Knöchelhaut mit schwarzer Tinte einfärbt, damit die Löcher in den Socken nicht so auffallen: So kann man bei Hotelbetreibern renommieren. Und so erfindet sich der Schriftsteller George Orwell, indem er die soziale Wirklichkeit entdeckt.
Komplexe Plotentwicklung und Figurenzeichnung sind dagegen seine Sache nicht, auch nicht in den späteren Romanen, die zu Welterfolgen werden. "1984" ist quälend statisch, monochrom und monoman. Das ist mit Sicherheit Kalkül, denn auf fast jeder Seite geht es hier darum, uns den menschenverachtenden Zynismus eines Machtapparats vorzuführen, der sich selbst als einzigen Zweck setzt. Erzählerische Dynamik lässt sich daraus nicht gewinnen. Wenn Winston Smith daher über die "Ödnis", "Schäbigkeit" und "Lustlosigkeit" (Wolff) oder die "Kargheit", "Schäbigkeit" und "Eintönigkeit" (Haefs) oder auch die "Dürftigkeit", "Schäbigkeit" und "Teilnahmslosigkeit" (Schönfeld) des modernen Lebens nachdenkt, charakterisiert er zugleich, wie der Roman über weite Strecken wirkt. Auch seine Figuren - und besonders die einzig nennenswerte Frauenfigur, die einer Männerphantasie entsprungen scheint - sind schrecklich schablonenhaft. Wahrscheinlich bezieht er gerade daraus viel von seiner Wucht.
Das gilt erst recht für "Farm der Tiere", wo die Typisierung ja ohnehin den Spielregeln des Märchen- oder Fabelwesens, denen der Text folgt, entspricht. Tatsächlich findet Orwell hier zu einer Stringenz des Erzählens, die "1984" abgeht (wohl auch deshalb, weil die Arbeit daran krankheitshalber nicht ganz abgeschlossen werden konnte). Zumal in Ulrich Blumenbachs messerscharfer Übersetzung liest sich dieser große Kurzroman wie mit dem Skalpell geschrieben. Dennoch bleiben Widersprüche, und die Lehrfabel geht nicht klar auf. Darauf hat schon T.S. Eliot hingewiesen, als er 1944 für den Faber-Verlag die Ablehnung des Manuskripts begründete: Warum, so fragte er den Autor, sollten denn die Schweine die Schurken sein? Immerhin seien sie intelligenter als die anderen Tiere und somit besser zur Führung der Farm qualifiziert. "Was also nottut", gab er zu bedenken, "ist nicht mehr Kommunismus, sondern sind mehr Schweine mit Gemeinsinn." So lässt sich die Parabel von der verratenen Revolution bestens zur Verteidigung der Geisteselite nutzen.
Bier im Literglas? Shocking!
Damit legt Eliot den Finger auf einen wunden Punkt, der uns insgesamt begegnet: Orwells Ambivalenz. In fast allem außer den politischen Ansichten zutiefst konservativ, hielt Orwell an den Ritualen jener Ordnungskräfte fest, deren Leitfiguren er gleichwohl als Vertreter des Establishments brandmarkte. Vielleicht weil er einer Kolonialfamilie entstammte - auf die Welt kam er im indischen Motihari, sein Vater organisierte den Opiumhandel mit China -, blieb er in Kleinengland lebenslänglich Sonderling und kompensierte das durch heiße Inbrunst, mit der er sich englischen Traditionen in die Arme warf. Beim Aufbruch nach Spanien machte er sich Sorgen, wie er dort anständigen Tee bekommen sollte, und in "1984" liegt ein besonderer Affront darin, dass der lokale Pub das Bier in Litern, nicht in Pints ausschenkt. Als Autor allerdings zieht er aus der Distanzerfahrung Stärke. Das eigene Land mit fremden Augen zu betrachten und schreibend zu erkunden, was es bietet, schärft den diagnostischen Blick.
In solchen Passagen finden sich denn auch die intensivsten Stellen: im Dreck und Staub des Wirklichen. "Haben diese verrottenden Häuser aus dem neunzehnten Jahrhundert schon immer das Stadtpanorama bestimmt, ihre mit Holzbalken abgestützten Seitenwände, die Fenster mit Pappe geflickt, die Dächer mit Wellblech, die absurden, in alle Richtungen weggesackten Gartenmauern? Und die Ruinengrundstücke, wo Gipsstaub in der Luft hängt und Weidenröschen auf den Trümmerhaufen wuchern? Die größeren Bombenbrachen, Platz für unzählige verlotterte Siedlungen aus Holzhütten, die nach Hühnerhäusern aussehen?" So übersetzt Frank Heibert den verzweifelten Moment, da Winston Smith die desolate Stadt, in der er lebt, vergeblich mit den dürftigen Erinnerungen an seinen Kindheitsort vergleicht. "Doch es hat keinen Zweck, er weiß es nicht mehr: Aus seiner Kindheit sind nur eine Reihe greller Tableaus geblieben, ohne Hintergrund und weitgehend ohne Sinn."
An solchen Stellen, nicht in den Formeln und Slogans, zeigt sich Orwells Stärke als Stilist. Von den weiteren Übersetzungen überzeugt am meisten die von Gisbert Haefs durch ihre nuancierte und doch zupackende Sprachgebung. Heiberts Fassung aber sticht aus der gesamte Reihe dadurch heraus, dass er einen krassen Eingriff wagt: Er wählt das Präsens als Erzähltempus. Das ist riskant und eigenmächtig, aber schlicht genial. Denn so rückt die gesamte Welt, die hier erzählt wird, nicht nur ins grelle Licht einer unvermittelten Konfrontation; ihr wird zugleich der Hintergrund einer verlässlichen Vergangenheit entzogen, wovon Orwells Geschichte in der Tat erzählt. Im Nachwort erklärt der Übersetzer, dass er die schockierende Wirkung des Romans bei Erstveröffentlichung noch mal herstellen und uns "so nah wie möglich auf die Pelle rücken" will. Das ist gelungen. Ohne einen raunenden Beschwörer des Imperfekts sind wir allen Zumutungen, die wir darin finden, schutzlos ausgeliefert und spüren förmlich allen "gritty dust" (bei Heibert: "körniger Staub") zwischen unseren Zähnen knirschen.
Das Wort "grit" heißt übrigens zugleich auch "Mut", "Entschlossenheit", "Charakterstärke", "Stehvermögen". Es weist damit nicht nur auf Winston Smith und seinen Akt der Auflehnung, der allerdings vergeblich bleibt - wie bei Beckett scheitern Orwells Helden immer -, sondern auch auf seinen Autor. Das ist der Grund, warum der aktuelle Orwell-Boom uns hoffen lassen kann: Womöglich bringt er uns in dieser Zeit mehr "grit".
George Orwell: "1984". Roman.
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Robert Habeck. dtv, München 2021. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Frank Heibert. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a. M. 2021. 336 S., br., 12,- [Euro].
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Insel Verlag, Berlin 2021. 382 S., geb., 20,- [Euro].
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Nachwort von Mirko Bonné. Manesse, München 2021. 446 S., geb., 22,- [Euro].
Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol Verlag, Hamburg 2021. 390 S., geb., 7,95 [Euro].
George Orwell: "Farm der Tiere". Ein Märchen. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse, München 2021. 190 S., geb., 18,- [Euro].
Aus dem Englischen von Simone Fischer. Nikol Verlag, Hamburg 2021. 116 S., geb., 5,95 [Euro].
George Orwell: "Ganz unten in Paris und London".
Aus dem Englischen und mit Erläuterungen von Peter Hillebrand. Vorwort von Panait Istrati. Comino Verlag, Berlin 2021. 274 S., br., 9,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main