Vier junge Menschen kämpfen in New York gegen die Allgegenwart der Überwachung, gegen den Anfang vom Ende unserer Freiheit. Immer tiefer verirren sie sich in einem Spiegelkabinett aus Virtualität, Fiktion und Realität. Am Ende stehen drei Tote - und eine Entscheidung.New York. Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die Stadt zur Normalität zurückgefunden, ein neues World Trade Center entsteht - das 1WTC. Tom, ein ehemaliger Mitarbeiter des US-Militärgeheimdiensts, entwirft das Fundament des Gebäudes. Seine Freundin Jennifer, eine Galeristin, lernt in der Bibliothek den deutschen Künstler Mikael Mikael kennen, der sie für sein Filmprojekt engagiert: Zusammen mit der geheimnisvollen Hackerin Asanta dokumentieren sie die allgegenwärtige Überwachung in der Stadt. Als Tom einen mysteriösen Auftrag von seinen ehemaligen Vorgesetzten erhält, beginnt die Grenze zwischen Simulation und Wirklichkeit zu verschwimmen. Am Ende stehen drei Tote - und eine Entscheidung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2011Wo Roman draufsteht, ist nicht immer einer drin
Dies ist kein Spiel: "1WTC" von Friedrich von Borries
Der Glaube an ein unbeobachtetes Leben muss jetzt noch schnell genossen werden, denn mit der ersten Seite dieses Buchs wirkt die totale Überwachung. Friedrich von Borries' Roman "1WTC" beginnt so: "Luftaufnahme. Helikoptergeräusch." Wer meint, schon eine Idee zu haben und World-Trade-Center-Assoziationen durch den Geist schwirren lässt, ist schon verloren. Jetzt gilt: Überdenke alles und alle. Hinterfrage die Bilder. Dieses Buch braucht einen aufmerksamen Leser, der Fragen stellt. Antworten werden dann hereinbrechen.
Friedrich von Borries ist Architekt. Sie wollen die Welt besser machen, sie hoffen, dass wir gern in ihren Häusern wohnen, sie haben Ideale. Auch Friedrich von Borries hatte Ideale. Heute ist er ein "Enttäuschter", aber kein Resignierter. Er ist ein Kämpfer. Er sucht nach anderen Vermittlungsstrategien, um Dinge in Bewegung zu bringen. Wachsende globale Ungleichheit, Umweltzerstörung und Klimawandel, Überwachungstechnologien und Sicherheitspolitik, das sind seine Themen. Damit hat er sich einen Namen gemacht, ist bekannt als unermüdlicher, sympathischer Agitator im Professorenkleid der Hamburger Hochschule für bildende Künste oder auch als Mitkurator der Ausstellung "Klimakapseln" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Doch sein schriftstellerisches Debüt ist die gewagteste, unmittelbarste (und eben auch künstlerischste) Form seiner bisherigen Arbeit.
Sein "Roman", so steht es als Emblem auf dem Umschlag, ist formal radikale Konzeptkunst, streng komponiert, auf dem Reißbrett entwickelt. Trotzdem findet er die Einflugschneise ins Hirn des Lesers sofort: Spannung durch Gewalt. Das Buch ist im Stil eines trashigen Thrillers geschrieben - auf zweihundert lockeren Seiten. Doch das ist nur die Maske. Jedes Detail, jeder Name hat hier eine Funktion. Worum geht es? Friedrich von Borries selbst behauptet in diesem "Roman", dass ein alter Schulfreund zu ihm gekommen sei, ein Künstler, sein Tarnname sei Mikael Mikael, und er habe ihm bei einer Vernissage in der Temporären Kunsthalle in Berlin von unglaublichen Erlebnissen in New York berichtet. Die Folge: Er habe untertauchen müssen, könne nur noch unter dem anderen Namen leben und arbeiten. Mikael Mikael soll es wirklich geben, behauptet der Autor. Der Künstler ist wie Friedrich von Borries 1974 geboren, hat zurzeit tatsächlich ein Stipendium an der Akademie Schloss Solitude und ist bei einer Berliner Schau zum 11. September vertreten.
Diese Spielerei mit Wahrheit und Fiktion ist nicht neu. Sie ist jedoch nur der Nährboden, auf dem Friedrich von Borries' interdisziplinärer, literarischer Wille seinen Raum findet und der Thriller ansetzt; das Hin und Her ist notwendig, um eine Brücke zu schlagen in unsere Realität. Folgenreicher ist die Präzision, mit der Friedrich von Borries die Widersprüchlichkeit unseres Alltags aufzeichnet und sie in jeden seiner Charaktere hineingeschrieben hat: Wer hat das iPhone weggelegt, nachdem bekannt wurde, dass Apple alle Ortsdaten speichert? Diese Widersprüchlichkeit ist das Drama unserer zeitgenössischen Gesellschaft.
Vier junge Menschen erleben wir, die in diesem Konflikt agieren: Der genannte Mikael Mikael zieht nach New York und will dort Kunst machen, ganz einfach. Ein Stipendium ermöglicht ihm die Miete eines kleinen Ateliers. Er wandelt durch die Stadt. Trifft eine alte Freundin - Syana. Sie schlafen miteinander, ganz einfach. Hier erinnert von Borries' Stil an Bernhard Schlinks kühle Kompositionen, die immer schon durchschimmern lassen, dass alles irgendwie schiefgehen wird. Syana ist eine Hackerin und gewagte Spieleentwicklerin, die die Realität mit ihren Programmen durchwebt, bis die Unterscheidung unmöglich wird. Mikael Mikael plant ein Kunstprojekt: Er will sich mit Hilfe von Syana in die Überwachungskameras New Yorks einklinken. Vor den Kameras soll jemand den berühmten Satz des New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani wiederholen: "Show you are not afraid! Go shopping!" Die Aufnahmen sollen dann zu einem Film zusammengeschnitten werden: reinste Aktionskunst.
Doch da ist noch der Architekt Tom, der im Irakkrieg diente, der einen Karrieretraum hat: Er will an der mächtigsten Baustellen der Welt mitwirken, beim "1WTC"-Bau der Firma "SOM" am New Yorker Ground Zero. Er bekommt den Job. Wundert sich noch darüber, wie reibungslos alles klappt. Und weiß bald warum. Der Geheimdienst unterstützt ihn: Er hatte im Irak vorgeschlagen, das "Paradies" nachzubauen, das den islamistischen Selbstmordattentäter nach ihrem Tod versprochen wird. In diesem "Paradies" könnten, übrigens viel effizienter als mit Waterboarding oder anderen Foltermethoden, unter Zuhilfenahme von Drogen Geständnisse und Informationen entlockt werden. Die Pläne klingen absurd, sind aber genial. Tom soll das "Paradies" entwerfen. Syana, Mikael Mikael und Tom werden in ein mörderisches Spiel hineingezogen. Verbunden sind die drei durch Toms ehemalige Freundin Jennifer. Sie lernt nach der Trennung von Tom Mikael Mikael kennen, verliebt sich und wird sein Video-Modell.
Der Plot mag schlicht klingen. Doch die Umsetzung ist geschickt. Denn nicht nur die Leben der Figuren werden im Buch miteinander verwoben. Formal und inhaltlich gibt es noch eine Besonderheit: In Schreibmaschinenschrift und Stakkato-Sprache wird die Perspektive der Überwachungskameras kenntlich gemacht, fettgedruckt und sachlich erfahren wir in Faktenblöcken Hintergründe zu den umfangreichen behandelten Themen. Und schließlich, in einfacher literarischer Sprache, folgen wir Jennifer, Syana, Mikael Mikael und Tom. Der Klappentext verrät es: Drei Menschen werden sterben. Wer schließlich zum Mörder wird, bleibt hier natürlich ungenannt. Doch nicht nur der Geheimdienst tötet in diesem grausamen Spiel.
Friedrich von Borries hat eine neue Form des Romans geschaffen, die nicht Hochkultur sein will und es auch nicht ist, aber als frappierend zeitgenössische Literatur überzeugt, inhaltlich und formal. Sie gebiert, was ihr die schizophrene Gesellschaft aufzeigt. Das Beil der Erkenntnis schlägt schließlich brutal den Schädel des Lesers entzwei. Und nach der letzten Seite ist es egal, aus welchem Grund wir das Buch zu Ende gelesen haben - weil wir Thriller mögen oder Konzeptkunst. Das Entscheidende ist, dass dieser Roman kritisches, aufmerksames Denken und Handeln schult, ganz unmoralisch, nur als Selbstverteidigung für die Gegenwart und Zukunft, die uns bevorsteht. Wer ist noch mal gestorben in diesem Buch? Am Ende bleibt das Gefühl, alle Freiheit verloren zu haben - und sie nur durch aufmerksames Handeln wiedergewinnen zu können. Wir leben eben in einer durch und durch elektronischen Gesellschaft. Das Netz legt sich über unsere Denklandschaften und zieht sich immer weiter zu.
SWANTJE KARICH
Friedrich von Borries: "1WTC". Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 204 S., br., 13,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dies ist kein Spiel: "1WTC" von Friedrich von Borries
Der Glaube an ein unbeobachtetes Leben muss jetzt noch schnell genossen werden, denn mit der ersten Seite dieses Buchs wirkt die totale Überwachung. Friedrich von Borries' Roman "1WTC" beginnt so: "Luftaufnahme. Helikoptergeräusch." Wer meint, schon eine Idee zu haben und World-Trade-Center-Assoziationen durch den Geist schwirren lässt, ist schon verloren. Jetzt gilt: Überdenke alles und alle. Hinterfrage die Bilder. Dieses Buch braucht einen aufmerksamen Leser, der Fragen stellt. Antworten werden dann hereinbrechen.
Friedrich von Borries ist Architekt. Sie wollen die Welt besser machen, sie hoffen, dass wir gern in ihren Häusern wohnen, sie haben Ideale. Auch Friedrich von Borries hatte Ideale. Heute ist er ein "Enttäuschter", aber kein Resignierter. Er ist ein Kämpfer. Er sucht nach anderen Vermittlungsstrategien, um Dinge in Bewegung zu bringen. Wachsende globale Ungleichheit, Umweltzerstörung und Klimawandel, Überwachungstechnologien und Sicherheitspolitik, das sind seine Themen. Damit hat er sich einen Namen gemacht, ist bekannt als unermüdlicher, sympathischer Agitator im Professorenkleid der Hamburger Hochschule für bildende Künste oder auch als Mitkurator der Ausstellung "Klimakapseln" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Doch sein schriftstellerisches Debüt ist die gewagteste, unmittelbarste (und eben auch künstlerischste) Form seiner bisherigen Arbeit.
Sein "Roman", so steht es als Emblem auf dem Umschlag, ist formal radikale Konzeptkunst, streng komponiert, auf dem Reißbrett entwickelt. Trotzdem findet er die Einflugschneise ins Hirn des Lesers sofort: Spannung durch Gewalt. Das Buch ist im Stil eines trashigen Thrillers geschrieben - auf zweihundert lockeren Seiten. Doch das ist nur die Maske. Jedes Detail, jeder Name hat hier eine Funktion. Worum geht es? Friedrich von Borries selbst behauptet in diesem "Roman", dass ein alter Schulfreund zu ihm gekommen sei, ein Künstler, sein Tarnname sei Mikael Mikael, und er habe ihm bei einer Vernissage in der Temporären Kunsthalle in Berlin von unglaublichen Erlebnissen in New York berichtet. Die Folge: Er habe untertauchen müssen, könne nur noch unter dem anderen Namen leben und arbeiten. Mikael Mikael soll es wirklich geben, behauptet der Autor. Der Künstler ist wie Friedrich von Borries 1974 geboren, hat zurzeit tatsächlich ein Stipendium an der Akademie Schloss Solitude und ist bei einer Berliner Schau zum 11. September vertreten.
Diese Spielerei mit Wahrheit und Fiktion ist nicht neu. Sie ist jedoch nur der Nährboden, auf dem Friedrich von Borries' interdisziplinärer, literarischer Wille seinen Raum findet und der Thriller ansetzt; das Hin und Her ist notwendig, um eine Brücke zu schlagen in unsere Realität. Folgenreicher ist die Präzision, mit der Friedrich von Borries die Widersprüchlichkeit unseres Alltags aufzeichnet und sie in jeden seiner Charaktere hineingeschrieben hat: Wer hat das iPhone weggelegt, nachdem bekannt wurde, dass Apple alle Ortsdaten speichert? Diese Widersprüchlichkeit ist das Drama unserer zeitgenössischen Gesellschaft.
Vier junge Menschen erleben wir, die in diesem Konflikt agieren: Der genannte Mikael Mikael zieht nach New York und will dort Kunst machen, ganz einfach. Ein Stipendium ermöglicht ihm die Miete eines kleinen Ateliers. Er wandelt durch die Stadt. Trifft eine alte Freundin - Syana. Sie schlafen miteinander, ganz einfach. Hier erinnert von Borries' Stil an Bernhard Schlinks kühle Kompositionen, die immer schon durchschimmern lassen, dass alles irgendwie schiefgehen wird. Syana ist eine Hackerin und gewagte Spieleentwicklerin, die die Realität mit ihren Programmen durchwebt, bis die Unterscheidung unmöglich wird. Mikael Mikael plant ein Kunstprojekt: Er will sich mit Hilfe von Syana in die Überwachungskameras New Yorks einklinken. Vor den Kameras soll jemand den berühmten Satz des New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani wiederholen: "Show you are not afraid! Go shopping!" Die Aufnahmen sollen dann zu einem Film zusammengeschnitten werden: reinste Aktionskunst.
Doch da ist noch der Architekt Tom, der im Irakkrieg diente, der einen Karrieretraum hat: Er will an der mächtigsten Baustellen der Welt mitwirken, beim "1WTC"-Bau der Firma "SOM" am New Yorker Ground Zero. Er bekommt den Job. Wundert sich noch darüber, wie reibungslos alles klappt. Und weiß bald warum. Der Geheimdienst unterstützt ihn: Er hatte im Irak vorgeschlagen, das "Paradies" nachzubauen, das den islamistischen Selbstmordattentäter nach ihrem Tod versprochen wird. In diesem "Paradies" könnten, übrigens viel effizienter als mit Waterboarding oder anderen Foltermethoden, unter Zuhilfenahme von Drogen Geständnisse und Informationen entlockt werden. Die Pläne klingen absurd, sind aber genial. Tom soll das "Paradies" entwerfen. Syana, Mikael Mikael und Tom werden in ein mörderisches Spiel hineingezogen. Verbunden sind die drei durch Toms ehemalige Freundin Jennifer. Sie lernt nach der Trennung von Tom Mikael Mikael kennen, verliebt sich und wird sein Video-Modell.
Der Plot mag schlicht klingen. Doch die Umsetzung ist geschickt. Denn nicht nur die Leben der Figuren werden im Buch miteinander verwoben. Formal und inhaltlich gibt es noch eine Besonderheit: In Schreibmaschinenschrift und Stakkato-Sprache wird die Perspektive der Überwachungskameras kenntlich gemacht, fettgedruckt und sachlich erfahren wir in Faktenblöcken Hintergründe zu den umfangreichen behandelten Themen. Und schließlich, in einfacher literarischer Sprache, folgen wir Jennifer, Syana, Mikael Mikael und Tom. Der Klappentext verrät es: Drei Menschen werden sterben. Wer schließlich zum Mörder wird, bleibt hier natürlich ungenannt. Doch nicht nur der Geheimdienst tötet in diesem grausamen Spiel.
Friedrich von Borries hat eine neue Form des Romans geschaffen, die nicht Hochkultur sein will und es auch nicht ist, aber als frappierend zeitgenössische Literatur überzeugt, inhaltlich und formal. Sie gebiert, was ihr die schizophrene Gesellschaft aufzeigt. Das Beil der Erkenntnis schlägt schließlich brutal den Schädel des Lesers entzwei. Und nach der letzten Seite ist es egal, aus welchem Grund wir das Buch zu Ende gelesen haben - weil wir Thriller mögen oder Konzeptkunst. Das Entscheidende ist, dass dieser Roman kritisches, aufmerksames Denken und Handeln schult, ganz unmoralisch, nur als Selbstverteidigung für die Gegenwart und Zukunft, die uns bevorsteht. Wer ist noch mal gestorben in diesem Buch? Am Ende bleibt das Gefühl, alle Freiheit verloren zu haben - und sie nur durch aufmerksames Handeln wiedergewinnen zu können. Wir leben eben in einer durch und durch elektronischen Gesellschaft. Das Netz legt sich über unsere Denklandschaften und zieht sich immer weiter zu.
SWANTJE KARICH
Friedrich von Borries: "1WTC". Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 204 S., br., 13,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Friedrich von Borries' Roman "1WTC" hat Swantje Karich ziemlich beeindruckt. Das Buch um vier junge Leute, die in New York beim Bau des neuen World Trade Center in ein absurdes Projekt hineingezogen werden, stellt für sie nicht nur ein intelligentes Spiel mit Fiktion und Realität dar, sondern auch eine präzise Beschreibung unserer von Widersprüchen geprägten Gegenwart. "1WTC" kommt in Karichs Augen im Gewand eines Thrillers daher, dahinter verbirgt sich für sie aber ein durchdachtes, formal wie inhaltlich geschickt komponiertes Werk, das als eine "neue Form des Romans" verstanden werden kann, bietet es doch nicht nur die Perspektive der Protagonisten, sondern auch die der Überwachungskameras sowie, in Blöcken eingestreut, Informationen und Hintergründe über die behandelten Themen. Karichs Fazit: ein Werk zwischen Thriller und Konzeptkunst, das wache Leser braucht und in "kritischem, aufmerksamem Denken und Handeln schult".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Borries hat eine neue Form des Romans geschaffen, die nicht Hochkultur sein will, ... aber als frappierend zeitgenössische Literatur überzeugt, inhaltlich und formal.« Swantje Karich Frankfurter Allgemeine Zeitung 20110909