Hatice Akyün ist Türkin und lebt seit dreißig Jahren in Deutschland. Sie trägt kein Kopftuch, ist nicht zwangsverheiratet und hat mit der fehlerfreien Anwendung von Dativ und Genitiv kein Problem. Hatice Akyün liebt Deutschland von ganzem Herzen - aber ihre Seele ist türkisch. Mit Witz und voller Temperament erzählt die Autorin von den Besuchen in ihrer Heimat und den Eigenarten ihrer Landsleute. Wir erfahren aber auch, welche Vorstellungen Türken über die Deutschen haben: Dass sie Hans und Helga heißen und dass Hans ein Brötchenholer ist. Hatice Akyün nimmt den Leser mit auf eine interessante Reise in die beiden Welten, in denen sie lebt - ein Feuerwerk an hinreißend ironischen Geschichten!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2005Eine Türkin wie wir
Die Journalistin Hatice Akyün feiert ein bißchen zu aufgekratzt die deutsch-türkischen Differenzen
Es muß ums Jahr 1967 herum gewesen sein, als ein junger Mann aus New York, ein Mitglied der mächtigen Lucchese-Familie, sich dazu entschloß, ein anständiger Mensch zu werden und die Karriere im Familienunternehmen zu verweigern: Er meldete sich zur Armee, leistete seinen Dienst in Vietnam, und als er entlassen wurde, suchte er sich eine Wohnung in San Francisco, wo er einen ganzen Kontinent zwischen sich und der Familie hatte; er lebte ein bürgerliches Leben, und eines Abends kaufte er eine Kinokarte und schaute sich den "Paten" an. Am nächsten Tag kündigte er seine Wohnung und seinen Job, er buchte sich einen Flug, einfach, nach New York, und als der junge Mann dort ankam, meldete er sich sofort zurück zum Dienst bei der Familie.
Es muß etwa dreißig Jahre später gewesen sein, als eine Führungskraft aus derselben Familie vor einer schwierigen Operation stand. Es würde viel Blut kosten, das wußte der Mann, und weil er Angst vor Aids hatte, verweigerte er sich den üblichen Konserven. Durch seinen katholischen Körper sollte auf keinen Fall das Blut von Protestanten, Schwarzen oder Schwuchteln fließen. Jedes Mitglied der Familie, das die richtige Blutgruppe hatte, wurde statt dessen zur Ader gelassen - die Operation gelang, der Patient war danach mit HIV infiziert.
Mob und Tadel
Diese beiden wahren Geschichten standen vor ein paar Jahren im "New York"-Magazin, in einem Artikel, der einerseits ein Nachruf auf jene Institution war, welche mal Mob, mal Mafia und im internen Verkehr meistens nur Familie hieß - und vor allem ging es um eine ästhetische Katastrophe. Die Italiener waren zu echten Amerikanern geworden, was zwar, rein gesellschaftlich betrachtet, eine gute Nachricht war. Aber mit dem Verschwinden des Gefälles ging dem Kraftwerk, das ein Jahrhundert lang die Energie für Mythen und Heldensagen, für Filme und Romane, für die Legende von Frank Sinatra, die Trilogie vom "Paten", die Rollen von Robert De Niro geliefert hatte, der Saft aus. Die Italiener bekamen Aids, die Amerikaner tranken Cappuccino, die Differenz löste sich auf, und in Little Italy rückten die Chinesen ein.
Man muß, wenn es eigentlich um Deutsche, Türken und Deutschtürken gehen soll, vielleicht nicht so weit ausholen; aber es hilft: In Berlin-Kreuzberg oder bei den Fremdenfeinden der deutschen Provinz werden wir schon noch früh genug ankommen. Und wenn wir verstehen wollen, was wir hier, in Deutschland, haben und was uns fehlt, dann sollten wir uns die kulturelle Dominanz der Vereinigten Staaten ausnahmsweise mal nicht bloß mit der Marktmacht der dortigen Bewußtseinsindustrie erklären. Sondern auch damit, daß es dort so viele gab und gibt, die draußen stehen und hineinwollen, die Schwarzen, die Iren, die Hispanics, und auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum findet und ereignet sich all das, was zum Rohstoff für die großen Erzählungen taugt.
Den Weg von draußen nach drinnen sind hier Millionen von Türken gegangen - die erste Generation, die aus Anatolien in unsere Städte kam, weil es hier Arbeit und anständige Löhne gab, und die geblieben ist, weil einer, der sich von Duisburg oder Gelsenkirchen aus die Türkei als ein Jenseits des Schönen erträumte, dann in Izmir oder Anatolien die Ordnung und die Sicherheit vermißte, die erste Generation hat die Geschichte erlebt und oft auch erlitten. Und die zweite Generation, jene deutschen Türken, die als Kinder hierherkamen oder hier geboren wurden, die zweite Generation fängt jetzt an, diese Geschichten zu erzählen - und wenngleich alle Integrationsbemühungen unbedingt gutgeheißen und unterstützt werden sollten, muß man doch, aus ästhetischen Gründen jedenfalls, dankbar dafür sein, daß das deutsch-türkische Differenzkraftwerk mit enormer künstlerischer Energie beliefert wird. Welche Sätze und Begriffe da draußen, an der Peripherie, den Blick aufs Zentrum versperren, davon hat Feridun Zaimoglu erzählt, und Imran Ayata, in seinem schönen Prosaband "Hürriyet Love Express", hat darüber geschrieben, wie es ist, wenn man schon mit beiden Beinen drinnen steht, in der deutschen Gesellschaft, und der Kopf aber draußen geblieben ist, und weil beide außer einer sehr undeutschen Energie auch Talent, Ambition und Stil haben, ging es in der Rezeption naturgemäß weniger ums Typische und mehr ums Ayatahafte und Zaimoglueske in dieser Literatur.
Leben in zwei Welten
Insofern ist es gar keine so üble Nachricht, daß die deutsch-türkische Journalistin Hatice Akyün über ihr "Leben in zwei Welten" (so der Untertitel) nicht gerade ein Meisterwerk geschrieben hat. Ihr Stil ist eine aufgekratzte, irgendwie textcheffreundliche Illustriertenprosa ohne besondere Höhen und Tiefen. Die Lektorin war manchmal ein bißchen schlampig (die Familie Akyün fährt in den achtziger Jahren durch "Ex-Jugoslawien"; warum denn nicht gleich: in den ehemaligen Achtzigern?) - und die durchaus sympathische Entschlossenheit der Autorin, sämtliche deutsch-türkischen Differenzen auf der Habenseite ihres Lebenskontos zu verbuchen, führt leider dazu, daß so mancher Konflikt eher kleingeredet als konsequent durchgespielt wird. Ein böser Mensch würde vielleicht nach fünfzig Seiten sagen: Aha, wieder eines jener Bücher, deren Autoren es für eine Autobiographie an Erfahrung fehlt und für einen Roman an Konzentration.
Gute Menschen dagegen werden sich gleich mal freuen darüber, mit welcher Härte hier Hatice Akyün die deutschen Zustände kritisiert - von einem Standpunkt aus, von wo man Kritik gar nicht erwartet hätte. Hatice Akyün ist weder eine Streberin, die deutscher als die Deutschen sein wollte, noch erfüllt sie das geläufige Klischee, wonach den anatolischen Bauernfünfern noch jedes deutsche Mittelzentrum als die große Hure Babylon erscheine und jede deutsche Frau als die Verkörperung sexueller Aggressivität. Hatice Akyün dagegen fordert kürzere Röcke und höhere Absätze. Sie kann nicht verstehen, wie ein Mann bei der ersten Verabredung auf die Idee kommen kann, die Rechnung im Restaurant zu teilen, und die Frage "Hast du dir weh getan, als du vom Himmel gefallen bist?" ist das mindeste, was eine halbwegs attraktive Frau als Kompliment erwarten kann. Hatice Akyüns Kampf gegen die Indifferenz der deutschen Geschlechter ist unerbittlich - und wird nur manchmal ein bißchen peinlich, wenn sie sich selbst als Sexgöttin, femme fatale und Besitzerin der zweitgrößten Schuhsammlung nach Imelda Markos beschreibt. Daß sie das deutsche Essen indiskutabel findet, versteht sich spätestens dann, wenn man erfährt, daß sie die meisten ihrer deutschen Erfahrungen in Duisburg und Berlin gemacht hat. Für ihr harsches Urteil über deutsche Umgangsformen gilt das gleiche.
Der Bruder, ein Checker
Die interessanteste Figur in diesem Buch ist aber, auch wenn die Autorin das anders sieht, gar nicht Hatice Akyün. Die interessanteste Figur ist der Vater, ein Mann, der aufgewachsen ist in Anatolien. Als er dann in Deutschland war, stand er vor der Wahl, entweder seine sämtlichen Töchter, weil die westlich leben wollten, zu verstoßen. Oder, was äußerst schmerzhaft gewesen sein muß, in wenigen Jahren all das nachzuholen, wofür deutsche Väter und Töchter vier bis fünf Generationen gebraucht haben. Es ist sehr komisch, wenn Hatice Akyün von den wiederkehrenden Heiratsgesprächen mit ihrem Vater berichtet: Erst mußte es ein Türke sein, dann zumindest ein Muslim, nach ein paar Jahren hätte der Vater auch einen Deutschen als Schwiegersohn akzeptiert, und heute muß er damit leben, daß die Tochter sechsunddreißig ist und noch immer nicht verheiratet - nach türkischen Lebensbauplänen eine uralte Jungfer.
Hübsche Skizzen sind das, lehrreich für all jene, die sich eine türkische Familie nur als Frauengefängnis vorstellen können - vor allem aber formulieren sie das Versprechen, daß man Figuren wie Herrn Akyün demnächst in großen Filmen und Romanen begegnen werde. Und genau dort und lieber nicht im wirklichen Leben möchte man auch Hatices Bruder treffen, einen jungen Mann, der zu stolz ist, sich als Deutscher zu geben und einer ordentlichen deutschen Arbeit nachzugehen, ein Blender, Checker, Tagedieb, der, wie er hier beschrieben wird, vielleicht nicht ganz das Format von Don Vito Corleone hat. Aber für Johnny Boy Civello in "Mean Streets" würde es, einen guten Drehbuchautor vorausgesetzt, schon reichen - eine Rolle, die immerhin groß genug für De Niro war.
Und bevor man jetzt Hatice Akyün die Harmlosigkeit ihrer Prosa vorwirft, sollte man noch einmal einen Blick nach Amerika werfen. Es ist ja offensichtlich, daß die Geschichten derer, die an der Peripherie standen und hineinwollten, immer auch etwas über das Zentrum zu sagen hatten. Aber die Voraussetzung dafür, daß die Leute im Zentrum sich für diese Geschichten interessierten, war ein Bewußtsein davon, daß das Selbstportrait Amerikas unvollständig gewesen wäre ohne die Männer mit den breiten Schulterpolstern und die Großmütter, die jeden Morgen zur Messe gingen.
Was das deutsche Selbstportrait angeht, da gibt es eine Menge blinder Flecken - und vermutlich muß man uns ja so betont harmlos kommen, damit wir, ohne Angst zu kriegen, begreifen, wie türkisch wir längst geworden sind.
CLAUDIUS SEIDL
Hatice Akyün: "Einmal Hans mit scharfer Soße". Goldmann-Verlag 2005. 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Journalistin Hatice Akyün feiert ein bißchen zu aufgekratzt die deutsch-türkischen Differenzen
Es muß ums Jahr 1967 herum gewesen sein, als ein junger Mann aus New York, ein Mitglied der mächtigen Lucchese-Familie, sich dazu entschloß, ein anständiger Mensch zu werden und die Karriere im Familienunternehmen zu verweigern: Er meldete sich zur Armee, leistete seinen Dienst in Vietnam, und als er entlassen wurde, suchte er sich eine Wohnung in San Francisco, wo er einen ganzen Kontinent zwischen sich und der Familie hatte; er lebte ein bürgerliches Leben, und eines Abends kaufte er eine Kinokarte und schaute sich den "Paten" an. Am nächsten Tag kündigte er seine Wohnung und seinen Job, er buchte sich einen Flug, einfach, nach New York, und als der junge Mann dort ankam, meldete er sich sofort zurück zum Dienst bei der Familie.
Es muß etwa dreißig Jahre später gewesen sein, als eine Führungskraft aus derselben Familie vor einer schwierigen Operation stand. Es würde viel Blut kosten, das wußte der Mann, und weil er Angst vor Aids hatte, verweigerte er sich den üblichen Konserven. Durch seinen katholischen Körper sollte auf keinen Fall das Blut von Protestanten, Schwarzen oder Schwuchteln fließen. Jedes Mitglied der Familie, das die richtige Blutgruppe hatte, wurde statt dessen zur Ader gelassen - die Operation gelang, der Patient war danach mit HIV infiziert.
Mob und Tadel
Diese beiden wahren Geschichten standen vor ein paar Jahren im "New York"-Magazin, in einem Artikel, der einerseits ein Nachruf auf jene Institution war, welche mal Mob, mal Mafia und im internen Verkehr meistens nur Familie hieß - und vor allem ging es um eine ästhetische Katastrophe. Die Italiener waren zu echten Amerikanern geworden, was zwar, rein gesellschaftlich betrachtet, eine gute Nachricht war. Aber mit dem Verschwinden des Gefälles ging dem Kraftwerk, das ein Jahrhundert lang die Energie für Mythen und Heldensagen, für Filme und Romane, für die Legende von Frank Sinatra, die Trilogie vom "Paten", die Rollen von Robert De Niro geliefert hatte, der Saft aus. Die Italiener bekamen Aids, die Amerikaner tranken Cappuccino, die Differenz löste sich auf, und in Little Italy rückten die Chinesen ein.
Man muß, wenn es eigentlich um Deutsche, Türken und Deutschtürken gehen soll, vielleicht nicht so weit ausholen; aber es hilft: In Berlin-Kreuzberg oder bei den Fremdenfeinden der deutschen Provinz werden wir schon noch früh genug ankommen. Und wenn wir verstehen wollen, was wir hier, in Deutschland, haben und was uns fehlt, dann sollten wir uns die kulturelle Dominanz der Vereinigten Staaten ausnahmsweise mal nicht bloß mit der Marktmacht der dortigen Bewußtseinsindustrie erklären. Sondern auch damit, daß es dort so viele gab und gibt, die draußen stehen und hineinwollen, die Schwarzen, die Iren, die Hispanics, und auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum findet und ereignet sich all das, was zum Rohstoff für die großen Erzählungen taugt.
Den Weg von draußen nach drinnen sind hier Millionen von Türken gegangen - die erste Generation, die aus Anatolien in unsere Städte kam, weil es hier Arbeit und anständige Löhne gab, und die geblieben ist, weil einer, der sich von Duisburg oder Gelsenkirchen aus die Türkei als ein Jenseits des Schönen erträumte, dann in Izmir oder Anatolien die Ordnung und die Sicherheit vermißte, die erste Generation hat die Geschichte erlebt und oft auch erlitten. Und die zweite Generation, jene deutschen Türken, die als Kinder hierherkamen oder hier geboren wurden, die zweite Generation fängt jetzt an, diese Geschichten zu erzählen - und wenngleich alle Integrationsbemühungen unbedingt gutgeheißen und unterstützt werden sollten, muß man doch, aus ästhetischen Gründen jedenfalls, dankbar dafür sein, daß das deutsch-türkische Differenzkraftwerk mit enormer künstlerischer Energie beliefert wird. Welche Sätze und Begriffe da draußen, an der Peripherie, den Blick aufs Zentrum versperren, davon hat Feridun Zaimoglu erzählt, und Imran Ayata, in seinem schönen Prosaband "Hürriyet Love Express", hat darüber geschrieben, wie es ist, wenn man schon mit beiden Beinen drinnen steht, in der deutschen Gesellschaft, und der Kopf aber draußen geblieben ist, und weil beide außer einer sehr undeutschen Energie auch Talent, Ambition und Stil haben, ging es in der Rezeption naturgemäß weniger ums Typische und mehr ums Ayatahafte und Zaimoglueske in dieser Literatur.
Leben in zwei Welten
Insofern ist es gar keine so üble Nachricht, daß die deutsch-türkische Journalistin Hatice Akyün über ihr "Leben in zwei Welten" (so der Untertitel) nicht gerade ein Meisterwerk geschrieben hat. Ihr Stil ist eine aufgekratzte, irgendwie textcheffreundliche Illustriertenprosa ohne besondere Höhen und Tiefen. Die Lektorin war manchmal ein bißchen schlampig (die Familie Akyün fährt in den achtziger Jahren durch "Ex-Jugoslawien"; warum denn nicht gleich: in den ehemaligen Achtzigern?) - und die durchaus sympathische Entschlossenheit der Autorin, sämtliche deutsch-türkischen Differenzen auf der Habenseite ihres Lebenskontos zu verbuchen, führt leider dazu, daß so mancher Konflikt eher kleingeredet als konsequent durchgespielt wird. Ein böser Mensch würde vielleicht nach fünfzig Seiten sagen: Aha, wieder eines jener Bücher, deren Autoren es für eine Autobiographie an Erfahrung fehlt und für einen Roman an Konzentration.
Gute Menschen dagegen werden sich gleich mal freuen darüber, mit welcher Härte hier Hatice Akyün die deutschen Zustände kritisiert - von einem Standpunkt aus, von wo man Kritik gar nicht erwartet hätte. Hatice Akyün ist weder eine Streberin, die deutscher als die Deutschen sein wollte, noch erfüllt sie das geläufige Klischee, wonach den anatolischen Bauernfünfern noch jedes deutsche Mittelzentrum als die große Hure Babylon erscheine und jede deutsche Frau als die Verkörperung sexueller Aggressivität. Hatice Akyün dagegen fordert kürzere Röcke und höhere Absätze. Sie kann nicht verstehen, wie ein Mann bei der ersten Verabredung auf die Idee kommen kann, die Rechnung im Restaurant zu teilen, und die Frage "Hast du dir weh getan, als du vom Himmel gefallen bist?" ist das mindeste, was eine halbwegs attraktive Frau als Kompliment erwarten kann. Hatice Akyüns Kampf gegen die Indifferenz der deutschen Geschlechter ist unerbittlich - und wird nur manchmal ein bißchen peinlich, wenn sie sich selbst als Sexgöttin, femme fatale und Besitzerin der zweitgrößten Schuhsammlung nach Imelda Markos beschreibt. Daß sie das deutsche Essen indiskutabel findet, versteht sich spätestens dann, wenn man erfährt, daß sie die meisten ihrer deutschen Erfahrungen in Duisburg und Berlin gemacht hat. Für ihr harsches Urteil über deutsche Umgangsformen gilt das gleiche.
Der Bruder, ein Checker
Die interessanteste Figur in diesem Buch ist aber, auch wenn die Autorin das anders sieht, gar nicht Hatice Akyün. Die interessanteste Figur ist der Vater, ein Mann, der aufgewachsen ist in Anatolien. Als er dann in Deutschland war, stand er vor der Wahl, entweder seine sämtlichen Töchter, weil die westlich leben wollten, zu verstoßen. Oder, was äußerst schmerzhaft gewesen sein muß, in wenigen Jahren all das nachzuholen, wofür deutsche Väter und Töchter vier bis fünf Generationen gebraucht haben. Es ist sehr komisch, wenn Hatice Akyün von den wiederkehrenden Heiratsgesprächen mit ihrem Vater berichtet: Erst mußte es ein Türke sein, dann zumindest ein Muslim, nach ein paar Jahren hätte der Vater auch einen Deutschen als Schwiegersohn akzeptiert, und heute muß er damit leben, daß die Tochter sechsunddreißig ist und noch immer nicht verheiratet - nach türkischen Lebensbauplänen eine uralte Jungfer.
Hübsche Skizzen sind das, lehrreich für all jene, die sich eine türkische Familie nur als Frauengefängnis vorstellen können - vor allem aber formulieren sie das Versprechen, daß man Figuren wie Herrn Akyün demnächst in großen Filmen und Romanen begegnen werde. Und genau dort und lieber nicht im wirklichen Leben möchte man auch Hatices Bruder treffen, einen jungen Mann, der zu stolz ist, sich als Deutscher zu geben und einer ordentlichen deutschen Arbeit nachzugehen, ein Blender, Checker, Tagedieb, der, wie er hier beschrieben wird, vielleicht nicht ganz das Format von Don Vito Corleone hat. Aber für Johnny Boy Civello in "Mean Streets" würde es, einen guten Drehbuchautor vorausgesetzt, schon reichen - eine Rolle, die immerhin groß genug für De Niro war.
Und bevor man jetzt Hatice Akyün die Harmlosigkeit ihrer Prosa vorwirft, sollte man noch einmal einen Blick nach Amerika werfen. Es ist ja offensichtlich, daß die Geschichten derer, die an der Peripherie standen und hineinwollten, immer auch etwas über das Zentrum zu sagen hatten. Aber die Voraussetzung dafür, daß die Leute im Zentrum sich für diese Geschichten interessierten, war ein Bewußtsein davon, daß das Selbstportrait Amerikas unvollständig gewesen wäre ohne die Männer mit den breiten Schulterpolstern und die Großmütter, die jeden Morgen zur Messe gingen.
Was das deutsche Selbstportrait angeht, da gibt es eine Menge blinder Flecken - und vermutlich muß man uns ja so betont harmlos kommen, damit wir, ohne Angst zu kriegen, begreifen, wie türkisch wir längst geworden sind.
CLAUDIUS SEIDL
Hatice Akyün: "Einmal Hans mit scharfer Soße". Goldmann-Verlag 2005. 18 Euro
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