Produktdetails
  • Verlag: Vagrius
  • Artikelnr. des Verlages: 4517
  • Seitenzahl: 544
  • Erscheinungstermin: Mai 2007
  • Russisch
  • Gewicht: 550g
  • ISBN-13: 9785969701779
  • ISBN-10: 5969701777
  • Artikelnr.: 22768769
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2007

Wo die Schätze im Berge ruhen
Eine Romanblüte: Im Ural lassen die Kinder der ehemaligen Technologie-Elite ihre Phantasie spielen
Nach Auflösung der Sowjetunion 1991 versprach Boris Jelzin den russischen Regionen „so viel Eigenständigkeit, wie ihr mitnehmen könnt”. Nun pochten die Tataren auf eine weitgehende Unabhängigkeit, der Jekaterinburger Gouverneur Eduard Rossel rief eine Ural-Republik aus, im Kaukasus gärte es. Unter Putin mussten die Regionen die „mitgenommene” Autonomie schon wieder an die Moskauer Machtvertikale zurückgeben. Allerdings begannen sich in diesem chaotischen Jahrzehnt, das durch soziale Erschütterungen und elementaren Überlebenskampf geprägt war, lokale Identitäten herauszuschälen.
An der geistigen Provinzialität der Provinz hat die erzwungene Distanzierung der russischen Regionen von Moskau bislang wenig geändert. Lediglich der steinige Ural entpuppt sich als fruchtbarer Boden für einen kulturellen Aufschwung. Insbesondere drei Schriftsteller – der 38-jährige Alexej Iwanow aus Perm, der 50-jährige Jekaterinburger Igor Sachnowskij und Olga Slawnikowa – sind die Meister aus dem Ural, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Vielfalt der Genres – Erzählung, historischer Roman, intellektueller Thriller, Fantasy, Gesellschaftsroman –, stilistische Souveränität und sprachlicher Reichtum, vom Lokalkolorit ganz zu schweigen, zeichnen diese Autoren aus. Selbst die Erotik, die in der heutigen Literatur fast nur als abgeschmackter Wiederholungszwang daherkommt, feiert in Sachnowskijs Erzählungsband „Glückliche und Wahnsinnige” (2003) eine unerwartete Wiederkehr.
Die Intensität des raffinierten Sujets, die bestechende Frische und Ungezwungenheit des erotischen Erlebnisses lässt den Leser das Buch geradezu verschlingen. Alexei Iwanows Erotik ist indes ganz anderer Art. In seinem gerade erschienenen Roman mit dem auf Russisch obszön klingenden Titel „Bluda und MUDO” – „Unzucht und Hoden” – schafft dieser vielseitige und produktive Schriftsteller ein soziales Portrait eines Provinzmilieus, das aus der Perspektive des geschiedenen, gegen Alkoholismus „geimpften” und sexbesessenen Künstlers Morschow beschrieben wird. Der Titel nimmt den freizügigen Charakter eines zwanglos aufgebauten, barocken Werks vorweg, in dem die obszöne Sprache als natürliches Element der Kommunikation und des Denkens fungiert. Seine intellektuelle und künstlerische Energie verbraucht Morschow entweder mit Prostituierten oder mit jungen Lehrerinnen, die ihre erotischen Sehnsüchte auf die vor Ort vorhandene männliche Klientel projizieren. Die Lehrer sind im Zentrum für außerschulische Erziehung – MUDO – tätig. Allerdings läuft das Projekt Gefahr, abgewickelt zu werden.
Ein barockes Sprachkunstwerk
Um ihre Unersetzlichkeit zu beweisen, organisieren sie ein Sommerlager und täuschen eine Einladung amerikanischer Kinder vor. Nun müssen sie befürchten, vom Schulamt entlarvt zu werden. Morschow organisiert den Betrug und spannt die tölpelhaften Einwohner, die Kleinkriminellen und unbefriedigten Frauen des vor sich hin dämmernden Provinzstädtchens für die Erhaltung des Zentrums ein. Virtuos bedient sich der Autor der Sprache der Gosse, deren routinierte Normalität besonders grotesk im Munde der Kinder klingt. Integriert in intellektuelle Reflexionen und angereichert mit Internet-Jargon, erinnert die Sprachgewalt Iwanows an das unerschöpfliche Mundwerk des genialischen Wenedikt Jerofejew. Durch das barocke Sprachelement wird das abgründige, selbstdestruktive Provinzstädtchen ästhetisiert und damit aufgewertet. Dank Morschow gelingt es den Lehrern, die Abwicklung des MUDO abzuwehren. Unstillbare Triebe und hohe Erziehungskunst, Deprivation und Pflichtbewusstsein, eine blühende Phantasie und die Dummheit seiner Protagonisten verschmelzen in Iwanows Werk zu einem Gemälde des russischen Daseins, das mehr über die wahren „Zustände” im Land verrät als Hunderte soziologische Analysen.
Der letzte Roman von Olga Slawnikowa „2017” (2006) endet mit der Flucht des Helden am hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution. Ende der achtziger Jahre kommt der nun 40-jährige Krylow als Kind russischer Flüchtlinge aus Mittelasien in eine Industriestadt am Riphaeia – wie Slawnikowa den Ural in Anlehnung an dessen antiken Namen Riphaei montes bezeichnet. In der Gosse, wo Prügeleien die „einzige Form der Liebe zum Leben” sind, durchläuft er seine Lebensschule. Krylow prügelt sich, stiehlt, schiebt und schafft es nebenbei an die Uni. Schon als Jugendlicher entdeckt er sein Gefühl für Steine. Im Studium begegnet er einem langweiligen Professor Anfilogow, der ein zweites Leben als Chitnik – als illegaler Edelsteinsammler – führt. Der Professor erkennt die Gabe Krylows und bringt ihn in seiner Werkstatt unter. Zwei Leitmotive, die unbehauste Liebe von Krylow und Tanja und die Edelsteinsucht von Anfilogow, die ihn das Leben kostet, sind in den chaotischen und halbkriminellen Alltag Jekaterinburgs eingebettet und verknüpfen sich mit den Mythen des Ural und den Taiga-Expeditionen zu einem spannenden Thriller. Die ehemalige Frau Krylows, Tamara, steinreiche Besitzerin eines Bestattungsunternehmens, lässt ihn beschatten und findet die Identität seiner Geliebten heraus, die sich als Ehefrau des besessenen Professors entpuppt, für dessen Tod auf einem von Cyanid vergifteten Rubinfeld in der Taiga ein Unternehmen Tamaras verantwortlich ist. Tanja erbt das Schweizer Konto und andere Schätze des Professors und verliert über dem plötzlichen Reichtum ihre Liebe zu Krylow. Tamara verliert ihrerseits den Schutz mächtiger Paten und wird zum Abschuss freigegeben. Unterdessen braut sich im Lande etwas zusammen, das sich aus der karnevalesken Feier des 100. Jahrestages der Revolution als Déjà-vu-Aufstand entwickelt. Die als Weiß- und Rotgardisten verkleideten Demonstranten liefern sich echte Kämpfe, es werden Terrorakte durchgeführt und in Moskau wird der alternde Präsident in ein Krankenhaus eingeliefert. Krylow will nicht abwarten, bis er von der Rebellion eingeholt wird und ergreift mit einem schweren Rucksack, der vermutlich die Schätze des Urals enthält, die Flucht.
In den Tiefen der Berge
Dass ausgerechnet der steinige Ural nach einem Jahrzehnt der Wirren zur Geburtstätte großer zeitgenössischer Prosa wird, ist kein Zufall. Die sowjetischen Waffenschmieden beschäftigten die wissenschaftlich-technische Intelligenz aus der ganzen Sowjetunion. Ihre begabten und risikofreudigen Kinder gingen ihre eigenen Wege und profitierten dabei vom postsowjetischen Chaos und dem unverwechselbaren Genius Loci: dem Sog und Zauber der in den Tiefen der Berge verborgenen Schätze. Gerade in den neunziger Jahren, als die staatliche Kontrolle nicht mehr funktionierte, erreichte das Edelsteinfieber ein ungeahntes Ausmaß und die alte Mythologie des Ural lebte wieder auf. Wie nur wenige Orte im weiten Land erwies sich der Ural mit seinem harschen Klima, mit den sozialen und ökologischen Problemen, mit pauperisierten Unterschichten und kriminellen Oberschichten als eine wahre Fundgrube für die schriftstellerische Imagination.SONJA MARGOLINA
Blick vom Mun Poopoo-Nyor-Berg im Ural, Russlands produktivster Provinz Foto: Arco Images
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