Claudia fährt mit Jan in ein Wellnesshotel irgendwo im Grenz-gebiet zwischen Österreich und Liechtenstein. Man hat sie zu einer literaturwissenschaftlichen Tagung eingeladen, dabei ist ihr Roman schon vor zwei Jahren erschienen und erwartungsgemäß von der Kritik ignoriert worden. Nicht mal Jan hat ihn gelesen. Sie verbringen die Tage mit merkwürdigem Sex und noch merkwürdigeren Mahlzeiten. Julius sucht seine Schwester Nora über soziale Netzwerke, er hat sie vor Jahren aus den Augen verloren, jetzt will er ihr vom Tod der Mutter berichten, die im Gefängnis unter ungeklärten Umständen verstorben ist. Nora lebt wohlstandsgelangweilt mit Karim zusammen, sie hat viel Geld mit Weinboutiquen gemacht, er mit Computerspielen. Hast du Lust ein bisschen zu schießen? fragt sie Julius. Der hätte eigentlich lieber ferngesehen ...Rödings Figuren bewegen sich durch eine gefährlich surrende Gegenwart, sie sind gleichermaßen überspannt wie kontrolliert. Man sieht viel fern, das Internet ist überall. Während im Hintergrund schon wieder irgendein Nahost-Konflikt lautlos über den Bildschirm zieht, versucht man sich verzweifelt in unverbindlicher Kommunikation. Alles ist existenziell, nichts ist wichtig. "20XX" ist gleichermaßen erschreckend komisch wie grandios traurig und die Held_innen sind umsponnen von einer virtuos entworfenen Verlorenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2020Von der Last, in diesem Jahrhundert zu leben
Archivarisch, aber ohne erkennbare Ordnung: Philipp Rödings Prosabuch "20XX" maskiert sich als Roman
"Zum Abendessen wurde an diesem Tag zur Vorspeise erst frischer Vogerlsalat mit Speckwürfeln, Eierspalten und Sauerrahmdressing sowie Pastinaken-Schaumsuppe mit Pesto gereicht, als Zwischengang ein rotes Johannisbeer-Sorbet mit Winzersekt und zum Hauptgang ein im Ganzen gebratenes Rinderfilet mit Kartoffelgratin und buntem Frühlingsgemüse." So geht es zwar nicht immer weiter, aber solche absatzlangen Aufzählungen, meist von Speisefolgen, bisweilen auch von Medikamenten oder Weinsorten, haben einen durchaus erklecklichen Anteil an Philipp Rödings jüngstem Werk "20XX". Im Gegensatz dazu fehlt es in diesem wohl aus Ratlosigkeit vom Verlag als "Roman" bezeichneten Buch allerdings an einer erkennbaren durchgängigen Geschichte.
"Kurzgeschichtensammlung" wäre wohl treffender gewählt, stehen doch auch die Protagonisten nur vage in Beziehung zueinander. Wahrscheinlich ist etwa "Nora", nach der auch eine der Erzählsequenzen betitelt ist, die Halbschwester von "Julius" (so immerhin zwei Zwischentitel). Aber letztlich ist das nicht von Belang. Oft wechselt die Erzählperspektive, und die Chronologie ist gleichfalls leicht wirr. Ein Abschnitt ist mit "2001" überschrieben und beginnt dann auch mit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center. Wenige Sätze später sieht man sich aber schon mit dem Irak-Krieg konfrontiert, den der amerikanische Präsident George W. Bush lostrat. Darin eingestreut ist der Bericht von einer Journalistin, die damals als Sexsklavin an einen Milizenführer verkauft wurde und dann eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt, von dem sie nicht mehr loskommt. Der Name für dieses psychologische Phänomen, das ja ein emotionales Naheverhältnis des Opfers zu seinem Peiniger bezeichnet, wird von Röding selbst nie verwendet, aber da ein weiteres - das letzte - Kapitel dann in der Hauptstadt Schwedens angesiedelt ist, liegt ein Zusammenhang nahe.
Spätestens in Stockholm angelangt, schreiben wir dann das Jahr 20XX (offenbar irgendwann in der nahen Zukunft um 2040), in dem sich wiederum merkwürdige Dinge ereignen. Unruhen werden vermeldet, möglicherweise liegt ein Bürgerkrieg in der Luft. Am Ende jedenfalls heißt es lapidar: "Ein paar Minuten später fingen die Gläser auf ihrem Tisch leise zu klirren an."
Philipp Röding, der 1990 in Stuttgart geboren wurde, in Wien, Frankfurt am Main und Illinois Filmtheorie studiert hat und jetzt wieder in Frankfurt lebt, versteht es durchaus, kurze Porträts seiner Protagonisten allein durch die Schilderung von deren Gedankengängen anzulegen. Er spart dabei weder an Überzeichnungen depressiver Zustände noch an der beiläufigen Erwähnung auch seltsamerer Sexualpraktiken. Für sein Figurenensemble ist das freilich alles normal oder liegt zumindest im Bereich der Selbstdiagnosen. Was er in "20XX" allerdings nicht schafft, ist, sein Publikum auch für diese merkwürdigen Typen zu interessieren. Zu belanglos sind die einzelnen Handlungsstränge, zu wenig erkennbar die Verbindungen. Bedenkt man Rödings Studium, käme man freilich noch in Versuchung, hier eine Reminiszenz an Sofia Coppolas "Lost in Translation" zu unterstellen. Denn verloren sind seine Charaktere in diesem Buch allemal.
MARTIN LHOTZKY
Philipp Röding: "20XX". Roman.
Luftschachtverlag, Wien 2020. 178 S., geb., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Archivarisch, aber ohne erkennbare Ordnung: Philipp Rödings Prosabuch "20XX" maskiert sich als Roman
"Zum Abendessen wurde an diesem Tag zur Vorspeise erst frischer Vogerlsalat mit Speckwürfeln, Eierspalten und Sauerrahmdressing sowie Pastinaken-Schaumsuppe mit Pesto gereicht, als Zwischengang ein rotes Johannisbeer-Sorbet mit Winzersekt und zum Hauptgang ein im Ganzen gebratenes Rinderfilet mit Kartoffelgratin und buntem Frühlingsgemüse." So geht es zwar nicht immer weiter, aber solche absatzlangen Aufzählungen, meist von Speisefolgen, bisweilen auch von Medikamenten oder Weinsorten, haben einen durchaus erklecklichen Anteil an Philipp Rödings jüngstem Werk "20XX". Im Gegensatz dazu fehlt es in diesem wohl aus Ratlosigkeit vom Verlag als "Roman" bezeichneten Buch allerdings an einer erkennbaren durchgängigen Geschichte.
"Kurzgeschichtensammlung" wäre wohl treffender gewählt, stehen doch auch die Protagonisten nur vage in Beziehung zueinander. Wahrscheinlich ist etwa "Nora", nach der auch eine der Erzählsequenzen betitelt ist, die Halbschwester von "Julius" (so immerhin zwei Zwischentitel). Aber letztlich ist das nicht von Belang. Oft wechselt die Erzählperspektive, und die Chronologie ist gleichfalls leicht wirr. Ein Abschnitt ist mit "2001" überschrieben und beginnt dann auch mit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center. Wenige Sätze später sieht man sich aber schon mit dem Irak-Krieg konfrontiert, den der amerikanische Präsident George W. Bush lostrat. Darin eingestreut ist der Bericht von einer Journalistin, die damals als Sexsklavin an einen Milizenführer verkauft wurde und dann eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt, von dem sie nicht mehr loskommt. Der Name für dieses psychologische Phänomen, das ja ein emotionales Naheverhältnis des Opfers zu seinem Peiniger bezeichnet, wird von Röding selbst nie verwendet, aber da ein weiteres - das letzte - Kapitel dann in der Hauptstadt Schwedens angesiedelt ist, liegt ein Zusammenhang nahe.
Spätestens in Stockholm angelangt, schreiben wir dann das Jahr 20XX (offenbar irgendwann in der nahen Zukunft um 2040), in dem sich wiederum merkwürdige Dinge ereignen. Unruhen werden vermeldet, möglicherweise liegt ein Bürgerkrieg in der Luft. Am Ende jedenfalls heißt es lapidar: "Ein paar Minuten später fingen die Gläser auf ihrem Tisch leise zu klirren an."
Philipp Röding, der 1990 in Stuttgart geboren wurde, in Wien, Frankfurt am Main und Illinois Filmtheorie studiert hat und jetzt wieder in Frankfurt lebt, versteht es durchaus, kurze Porträts seiner Protagonisten allein durch die Schilderung von deren Gedankengängen anzulegen. Er spart dabei weder an Überzeichnungen depressiver Zustände noch an der beiläufigen Erwähnung auch seltsamerer Sexualpraktiken. Für sein Figurenensemble ist das freilich alles normal oder liegt zumindest im Bereich der Selbstdiagnosen. Was er in "20XX" allerdings nicht schafft, ist, sein Publikum auch für diese merkwürdigen Typen zu interessieren. Zu belanglos sind die einzelnen Handlungsstränge, zu wenig erkennbar die Verbindungen. Bedenkt man Rödings Studium, käme man freilich noch in Versuchung, hier eine Reminiszenz an Sofia Coppolas "Lost in Translation" zu unterstellen. Denn verloren sind seine Charaktere in diesem Buch allemal.
MARTIN LHOTZKY
Philipp Röding: "20XX". Roman.
Luftschachtverlag, Wien 2020. 178 S., geb., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Warum der Verlag Philipp Rödings "20XX" als Roman ausgibt, ist Rezensent Martin Lhotzky ein Rätsel - und es soll nicht das einzige bleiben. Wenn der junge Autor, der Filmtheorie studierte, hier sätzeweise von Speisefolgen, Medikamenten und Weinsorten erzählt, zwischendurch ein ganzes Ensemble von Figuren auftreten lässt, perspektivisch und chronologisch springt, ohne einen Handlungsfaden zu knüpfen, verliert Lhotzky neben dem Überblick auch das Interesse. Zwischen den Schilderungen von Irak-Krieg, 11. September, Sexsklaven-Schicksalen und Selbstdiagnosen macht der Rezensent immerhin ein paar gut gezeichnete Figurenporträts aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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