Ein wunderbarer Roman über die Entstehung von Kunst, Liebe und Kindern im Abenddämmer eines Imperiums.
Der Held von Ben Lerners Roman ist ein Brooklyner Schriftsteller namens Ben, der einen frechen, von der Kritik gefeierten Erstling über sein junges Leben publiziert hat und nun auf größere Erfolge hoffen darf. Und in der Tat, zu Beginn sitzt er, den lukrativen Vertrag eines Großverlags unterschriftsreif vor sich, mit seiner Agentin in einem überteuerten Restaurant und verzehrt mit der gesalzenen Hand zu Tode massierte Baby-Oktopusse. So schmeckt also der Erfolg?
Etwas später, zurück in seinem weitaus nüchterneren Lebensalltag zwischen Food-Co-op und Ausflügen mit einem mexikanischen Nachbarskind, sehen wir ihn zur Wurzelbehandlung beim Zahnarzt - und sodann beim Neurologen, denn der Zahnarzt hat auf dem Röntgenbild Verdächtiges gefunden: einen, so bleibt zu hoffen, gutartigen Gehirntumor.
Das lässt ihn viel über die Fragilität des menschlichen Lebens nachdenken,umso mehr, als seine alte Collegefreundin Alex ihm auf Spaziergängen durch den Prospect Park oder über die Manhattan Bridge erzählt, wie sehr sie sich von ihm ein Kind wünscht, aber in aller Freundschaft, also durch künstliche Befruchtung.
Dabei wird das Wetter immer schlechter, New York leidet unter Superstürmen, Stromausfällen und Überschwemmungen. Mit der Welt geht es bergab.
Was also tun, was wird die Zukunft bringen?
Ben Lerner beschreibt, gewitzt, lässig und mit einem brillanten Sinn für Komik, was es bedeutet, unsere sattsam bekannten Erste-Welt-Problemchen in den größeren sozialen Kontext des Lebens auf dem Planeten zu stellen. Dies ist ein Buch am Puls der modernen Zeit, doch wenn in einem bekannten Science-fiction-Film um 22:04 Uhr der Blitz in die Rathausturmuhr einschlägt, geht es vielleicht doch noch befreit und mit neuer Hoffnung "Zurück in die Zukunft".
Der Held von Ben Lerners Roman ist ein Brooklyner Schriftsteller namens Ben, der einen frechen, von der Kritik gefeierten Erstling über sein junges Leben publiziert hat und nun auf größere Erfolge hoffen darf. Und in der Tat, zu Beginn sitzt er, den lukrativen Vertrag eines Großverlags unterschriftsreif vor sich, mit seiner Agentin in einem überteuerten Restaurant und verzehrt mit der gesalzenen Hand zu Tode massierte Baby-Oktopusse. So schmeckt also der Erfolg?
Etwas später, zurück in seinem weitaus nüchterneren Lebensalltag zwischen Food-Co-op und Ausflügen mit einem mexikanischen Nachbarskind, sehen wir ihn zur Wurzelbehandlung beim Zahnarzt - und sodann beim Neurologen, denn der Zahnarzt hat auf dem Röntgenbild Verdächtiges gefunden: einen, so bleibt zu hoffen, gutartigen Gehirntumor.
Das lässt ihn viel über die Fragilität des menschlichen Lebens nachdenken,umso mehr, als seine alte Collegefreundin Alex ihm auf Spaziergängen durch den Prospect Park oder über die Manhattan Bridge erzählt, wie sehr sie sich von ihm ein Kind wünscht, aber in aller Freundschaft, also durch künstliche Befruchtung.
Dabei wird das Wetter immer schlechter, New York leidet unter Superstürmen, Stromausfällen und Überschwemmungen. Mit der Welt geht es bergab.
Was also tun, was wird die Zukunft bringen?
Ben Lerner beschreibt, gewitzt, lässig und mit einem brillanten Sinn für Komik, was es bedeutet, unsere sattsam bekannten Erste-Welt-Problemchen in den größeren sozialen Kontext des Lebens auf dem Planeten zu stellen. Dies ist ein Buch am Puls der modernen Zeit, doch wenn in einem bekannten Science-fiction-Film um 22:04 Uhr der Blitz in die Rathausturmuhr einschlägt, geht es vielleicht doch noch befreit und mit neuer Hoffnung "Zurück in die Zukunft".
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
René Hamann hat sich gut unterhalten mit Ben Lerners Beitrag zur "Selfie-Literatur". An der Deckungsgleichheit von Fakt und Fiktion kann das nicht liegen, das Spiel mit Identitäten und Realitäten nämlich beherrscht Lerner laut Hamann ebensogut wie den Stil der Stunde, die zeitgemäße Mischung aus Theorie und Politik, Transzendenz und atmosphärischer Sensibilität. Dass der Roman für den Rezensenten dennoch kein Mainstream ist, hat mit dem weitgehenden Verzicht auf Handlung, Figurenentwicklung und Pointierung zu tun. Doch auch das Selbstreflexive und die vielen kleinen gut geschriebenen Geschichten über Liebe, Elternschaft oder Drogenerfahrungen machen das Buch für ihn zu einem durchaus exklusiven Ereignis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2016Neues vom Rande der Fiktion
Der Amerikaner Ben Lerner hat einen interessanten Roman geschrieben. Er heißt "22:04", spielt in unserer beunruhigenden Gegenwart und schüttelt die Regeln des Genres beträchtlich durcheinander
Ich wünschte, ich wäre verrückt nach diesem Buch. Es heißt "22:04", jedenfalls heißt es so auf Deutsch (im amerikanischen Original ist der Titel "10:04"), und geschrieben hat es der 1979 geborene, also immer noch bequem als jung durchgehende Amerikaner Ben Lerner, der eigentlich Dichter ist, für seine Prosawerke aber weitaus mehr beachtet wird, was natürlich einfach daran liegen mag, dass sich weniger Leser und Rezensenten für Gedichte interessieren als für Romane, mich absolut inklusive.
Sein erster Roman jedenfalls, "Abschied von Atocha", vor ein paar Jahren erschienen, war gleich, zumindest in Amerika, so etwas wie ein Achtungserfolg. Riesenlob der Kritik, nicht millionenfach verkauft oder so, aber von Paul Auster und Jonathan Franzen zum Kauf empfohlen; und der Autor wurde mit Teju Cole und W. G. Sebald verglichen, was jetzt, im Falle Sebalds, größer klingt, als es ist (in Amerika wird sehr schnell mit Sebald verglichen), aber insofern gut passt, als Lerner ebenjenen Sebald zu den für ihn wichtigsten Schriftstellern zählt (zusammen mit Javier Marías und Alexander Kluge). Möglicherweise streut Lerner deswegen in seinen inzwischen zwei Romanen, eben auch im neuen, immer mal wieder Fotos in den Text? Mir hat es sich nicht erschlossen, aber vielleicht ist es ja einfach eine kleine Verbeugung in Richtung Sebald.
Ich glaube jedenfalls, Ben Lerner als Schriftsteller zu bejubeln würde irgendwie bedeuten, sehr modern zu sein.
Die Handlung von "22:04" ist gar nicht so leicht nacherzählt, denn genau genommen gibt es keine oder kaum eine oder keine stringente oder mehrere, von denen ich allerdings nicht richtig verstanden habe, ob sie wirklich so zueinander passen, wie es oberflächlich den Anschein macht. Ein bisschen wirkt es, als hätte Lerner einfach alles verwurstet, was ihm im Zeitraum des Schreibens so unterkam, und jetzt würde einem das Ganze einfach als extrem moderner Roman verkauft. Ein ganzes Buch-Kapitel etwa, "The Golden Vanity", erschien 2012 bereits unter demselben Titel als Kurzgeschichte im "New Yorker" (was im Roman nicht verschwiegen wird). Vielleicht ist das auch einfach ein extrem moderner Roman, dieses Collagierte und assoziativ Zusammengemixte, weil unsere verwirrende Zeit es gar nicht mehr ernsthaft zulässt, Geschichten einer traditionellen Dramaturgie folgend zu erzählen. (Klingt gut, oder? Aber: War nicht jede Zeit für die Menschen, die in ihr lebten, verwirrend? Und würde man sich gerade in Zeiten der Verwirrung nach einer vertrauten Ordnung sehnen?)
In weiten Teilen wird das Buch von einem Ich-Erzähler erzählt, der nicht nur, wie der Autor, Dichter ist und bislang einen, von der Kritik gefeierten Roman veröffentlicht hat; er heißt auch genau so, Ben, wohnt ebenfalls in Brooklyn - und schreibt darüber hinaus auch noch exakt den Roman, den wir als Leser in Händen halten, wenn wir "22:04" in Händen halten. Es gibt aber auch ein Kapitel, in dem der Erzähler als "Der Autor" vorkommt, in dem einzelne Charaktere auf einmal andere Namen bekommen (was vorab erklärt wird) und sogar die echte Ehefrau von Ben Lerner namentlich erwähnt wird, gefolgt von dem Zusatz, sie komme in diesem Buch nicht vor, was sie bis auf diese Stelle auch nicht tut.
Alles ist wie ein Spiel, wo ein Teil mit dem anderen so verschraubt ist, dass es als Aufgabe erscheint, alles zu entwirren und Bezüge als logisch zu erkennen, aber, ganz ehrlich, ob es zuletzt tatsächlich eine zufriedenstellende Lösung gibt oder irgendeinen tieferen Sinn, da bin ich mir eben nicht so sicher. Ich habe den leisen Zweifel, dass das Ganze etwas großartiger wirkt, als es tatsächlich ist, aber da dies eine Einzelmeinung zu sein scheint, zweifle ich gleichzeitig an mir selbst.
Sicher ist, dass Ben Lerner unendlich elegante Schachtelsätze bauen kann. Er kann es sogar so gut, dass er es fast nie lassen kann. Fast jeder seiner Sätze enthält neben den wichtigen Informationen auch noch mindestens eine originelle Randbeobachtung. Es sind Sätze, in denen die Fußnoten, oft witzig, sozusagen schon mitenthalten sind. Gleich der erste Satz zum Beispiel, nicht gerade ein Hineinzieher, dafür randvoll mit interessanten Details: "Die Stadt hatte ein Stück aufgegebene Hochbahntrasse in einen luftigen Grünzug umgewandelt, auf dem die Agentin und ich in der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze südwärts gingen, nach einem sündhaft teuren Festessen in Chelsea, zu dem auch Baby-Oktopusse gehörten, die der Koch buchstäblich zu Tode massiert hatte." (Übrigens: In diesem allerersten Satz klingen bereits zwei noch oft wiederkehrende Motive des Buchs an, nämlich Oktopusse und ungewöhnlich warmes Wetter.) Andere Beispiele fänden sich zuhauf, es ist beinahe schwieriger, Gegenbeispiele zu finden.
Aber beginnen wir mit dem, was noch vor dem ersten Satz steht. Beginnen wir mit einem dem Roman vorangestellten Absatz, der nicht zuletzt dadurch extrem bedeutungsvoll wirkt. Darin steht, die Chassidim glaubten, die kommende Welt wäre wie die jetzige: "Alles wird sein, wie es jetzt ist, nur ein bisschen anders." Ich weiß nicht, an wie vielen Stellen im Roman mir dieses Zitat so oder ein bisschen anders entgegenlachte. Zwölfmal? Vierzehnmal? Dafür, wie oft es dann noch kommt, hat man jedenfalls sehr früh kapiert, dass dies also das Leitmotiv des Buchs sein soll: die Frage nach der Zukunft.
Alles beginnt damit, dass Ben im Buch einen sechsstelligen Vorschuss für einen noch zu schreibenden zweiten Roman bekommt: noch zu schreibend, Zukunft. Nahezu gleichzeitig wird bei ihm ein Krankheitssyndrom diagnostiziert, das tödlich sein kann: kann, mögliche Zukunft. Und dann fragt ihn auch noch seine beste Freundin, Alex (36, Single, Kinderwunsch), ob er ihr Samen spendet für eine künstliche Befruchtung: Er sagt ja. Da könnte also ein Kind entstehen - könnte, mögliche Zukunft.
Auch seinen Titel hat das Buch gewissermaßen der Zukunft entliehen, zumindest der popkulturellen Beschäftigung mit ihr: Um 22.04 Uhr schlägt im Film "Zurück in die Zukunft" der Blitz in den Uhrturm ein, was dafür sorgt, dass Marty (Michael J. Fox) aus den 1950er Jahren zurück in die (von ihm aus gesehen) Zukunft reisen kann.
Die Zukunft also: "Alles wird genauso sein, wie es jetzt ist - nur ein klein wenig anders." Ja, okay, klingt schön, aber bedeutet das eigentlich irgendwas?
Zunächst war ich lange sehr beeindruckt von diesem Buch. Denn tatsächlich greift Lerner viele Motive, die er einführt, ein paar Seiten später wieder auf, nur ein klein wenig anders. Das hat beinahe etwas von einem Musikstück, ist auf jeden Fall extrem komponiert. So finden wir einen Oktopus wie aus dem ersten Satz zwei Seiten später in der kardiologischen Abteilung des Mount-Sinai-Krankenhauses in New York wieder, wo Meerestiere an die Wand gemalt sind, weil es die Kinderabteilung ist, in der Ben auf den Arzt wartet, da das Marfan-Syndrom, das er unter Umständen hat, meist in der Kindheit diagnostiziert wird und ein Meerestier-Wandgemälde auf Kinder wohl beruhigend wirken soll. Ben sitzt da auf einem Kinderstuhl. Einige Seiten später tut er dies erneut: in einer Schule, in der er einem Achtjährigen Nachhilfe gibt. Mit jenem spricht er über die Dinosaurier, die ja durch eine Naturkatastrophe ausstarben - dies wird in Bezug gesetzt zur Naturkatastrophe unserer Tage, dem Klimawandel, der andauernd als ungewöhnlich warmes Wetter im Text vorkommt etc. etc. Es hat etwas von einem Memory-Spiel: Wann wird welches Motiv wieder aufgedeckt?
Der Ton ist insgesamt hoffnungslos, aber nicht indifferent. Sagen wir: angemessen ernst angesichts der Sinnlosigkeit jeglichen Tuns. (",Ich glaube nicht, dass es noch eine Eiszeit geben wird', log ich, während ich ein weiteres ausgestorbenes Tier ausschnitt.") Der Autor hat diesen Röntgenblick, den zum Beispiel Depressive haben, in allem immer schon das Ende mitzusehen, ohne dass jemand widersprechen könnte und damit recht hätte (". . . beluden uns die Teller mit einem unstimmigen Gemisch überteuerter, verderblicher Waren . . .").
Manchmal wirkt Lerners Stil, nahezu nichts jemals einfach nur zu benennen, sondern stets einen originellen Schlenker hinzuzufügen, etwas prätentiös. Nie ist etwas einfach nur, alles ist in verschiedenen Ebenen durchleuchtet und auf manchmal ermüdende Weise schlau vorgeführt. ("Sharon bestellte Pfefferminztee und ich, was ich für einen schlichten Filterkaffee hielt, der sich jedoch als sündhaft teure, sortenreine Chemex-Geschichte erwies"; "Jedes Mal, wenn ich sie lachen hörte oder ihre Stimme aus dem allgemeinen Lärm herausfiltern konnte oder sie sich anmutig durch ein Zimmer bewegen sah, fuhr ich heftig zusammen und kam mir vor, als fiele ich, eine Empfindung, die den myoklonischen Zuckungen gleicht, die einen, wenn man gerade in den Schlaf hinübergleitet, heftig aufwecken . . .")
Ein paarmal spricht Ben den Leser direkt an ("vielleicht haben Sie mich gesehen"); ansonsten ist es, als folge man, staunend und leicht eingeschüchtert, dem Selbstgespräch eines sehr intelligenten, übrigens extrem kunst-affinen Erzählers; eine Art halblaut vorgetragener Stream of Consciousness, der immer wieder mal von vollkommen klar wirkenden Passagen unterbrochen wird, die sich lesen, als wären sie für etwas anderes geschrieben und für diesen Roman leicht abgeändert worden. Da gibt es etwa eine tolle, kleine Episode, wie Ben sich einmal in eine Frau verguckt, von der er glaubt, sie sei die Tochter eines mit ihm befreundeten Ehepaares. Jahre später erfährt er, dass die beiden kinderlos sind. Diese eigentlich in sich abgeschlossene Erzählung hat einen ganz anderen Zug als alles, was vorausgegangen war, liest sich viel konzentrierter. Dasselbe gilt für eine Passage, in der Ben sich in Marfa, Texas, aufhält. (Man merke auf: Marfan-Syndrom - Marfa.) Er nimmt dort die Droge Ketamin, was sich sehr komisch liest und genauso wenig zum Rest des Buchs passen mag wie die Geschichte mit der falschen Tochter, weshalb es also vielleicht doch ins Buch passt, das sich ja aus Einzelteilen zu einem Ganzen zu fügen anstrengt, wobei die größte Anstrengung zu sein scheint, nie diese Sache mit den Zeiten aus den Augen zu verlieren. Hierbei gilt: Die Vergangenheit: zu nichts zu gebrauchen (höchstens zum Verklären der eigenen Jugend). Die Gegenwart: ungewöhnlich warm und so voller sozialer Ungerechtigkeiten, dass man nur zum Globalisierungsgegner werden kann. Und die Zukunft? Ach, die Zukunft. Halt genau gleich, nur ein bisschen anders. Dies stelle man sich aufs Buch verteilt etwa einhundert Mal vor, und man weiß, was an diesem eigentlich schlauen, geistreichen und manchmal wirklich saukomischen Buch etwas nervt.
Ich bin also leider nicht verrückt nach diesem Buch, das von sich selbst behauptet (S. 305), genau am Rand der Fiktion geschrieben worden zu sein, aber manchmal hatte ich es schon sehr, sehr gern. Zum Beispiel hier: "Kennen Sie die unangenehme Erfahrung, sich von jemandem zu verabschieden, nur um dann festzustellen, dass der Betreffende in die gleiche Richtung will, was bedeutet, dass der soziale Austausch sich über seinen rituellen Abschluss hinaus fortsetzen muss, wofür es keine festen Gepflogenheiten gibt, an denen man sich orientieren könnte?" An Stellen wie diesen liebte ich dieses Buch.
JOHANNA ADORJÁN.
Ben Lerner: "22:04". Übersetzt von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 320 Seiten, 19,95 Euro. Erscheint am Freitag
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Amerikaner Ben Lerner hat einen interessanten Roman geschrieben. Er heißt "22:04", spielt in unserer beunruhigenden Gegenwart und schüttelt die Regeln des Genres beträchtlich durcheinander
Ich wünschte, ich wäre verrückt nach diesem Buch. Es heißt "22:04", jedenfalls heißt es so auf Deutsch (im amerikanischen Original ist der Titel "10:04"), und geschrieben hat es der 1979 geborene, also immer noch bequem als jung durchgehende Amerikaner Ben Lerner, der eigentlich Dichter ist, für seine Prosawerke aber weitaus mehr beachtet wird, was natürlich einfach daran liegen mag, dass sich weniger Leser und Rezensenten für Gedichte interessieren als für Romane, mich absolut inklusive.
Sein erster Roman jedenfalls, "Abschied von Atocha", vor ein paar Jahren erschienen, war gleich, zumindest in Amerika, so etwas wie ein Achtungserfolg. Riesenlob der Kritik, nicht millionenfach verkauft oder so, aber von Paul Auster und Jonathan Franzen zum Kauf empfohlen; und der Autor wurde mit Teju Cole und W. G. Sebald verglichen, was jetzt, im Falle Sebalds, größer klingt, als es ist (in Amerika wird sehr schnell mit Sebald verglichen), aber insofern gut passt, als Lerner ebenjenen Sebald zu den für ihn wichtigsten Schriftstellern zählt (zusammen mit Javier Marías und Alexander Kluge). Möglicherweise streut Lerner deswegen in seinen inzwischen zwei Romanen, eben auch im neuen, immer mal wieder Fotos in den Text? Mir hat es sich nicht erschlossen, aber vielleicht ist es ja einfach eine kleine Verbeugung in Richtung Sebald.
Ich glaube jedenfalls, Ben Lerner als Schriftsteller zu bejubeln würde irgendwie bedeuten, sehr modern zu sein.
Die Handlung von "22:04" ist gar nicht so leicht nacherzählt, denn genau genommen gibt es keine oder kaum eine oder keine stringente oder mehrere, von denen ich allerdings nicht richtig verstanden habe, ob sie wirklich so zueinander passen, wie es oberflächlich den Anschein macht. Ein bisschen wirkt es, als hätte Lerner einfach alles verwurstet, was ihm im Zeitraum des Schreibens so unterkam, und jetzt würde einem das Ganze einfach als extrem moderner Roman verkauft. Ein ganzes Buch-Kapitel etwa, "The Golden Vanity", erschien 2012 bereits unter demselben Titel als Kurzgeschichte im "New Yorker" (was im Roman nicht verschwiegen wird). Vielleicht ist das auch einfach ein extrem moderner Roman, dieses Collagierte und assoziativ Zusammengemixte, weil unsere verwirrende Zeit es gar nicht mehr ernsthaft zulässt, Geschichten einer traditionellen Dramaturgie folgend zu erzählen. (Klingt gut, oder? Aber: War nicht jede Zeit für die Menschen, die in ihr lebten, verwirrend? Und würde man sich gerade in Zeiten der Verwirrung nach einer vertrauten Ordnung sehnen?)
In weiten Teilen wird das Buch von einem Ich-Erzähler erzählt, der nicht nur, wie der Autor, Dichter ist und bislang einen, von der Kritik gefeierten Roman veröffentlicht hat; er heißt auch genau so, Ben, wohnt ebenfalls in Brooklyn - und schreibt darüber hinaus auch noch exakt den Roman, den wir als Leser in Händen halten, wenn wir "22:04" in Händen halten. Es gibt aber auch ein Kapitel, in dem der Erzähler als "Der Autor" vorkommt, in dem einzelne Charaktere auf einmal andere Namen bekommen (was vorab erklärt wird) und sogar die echte Ehefrau von Ben Lerner namentlich erwähnt wird, gefolgt von dem Zusatz, sie komme in diesem Buch nicht vor, was sie bis auf diese Stelle auch nicht tut.
Alles ist wie ein Spiel, wo ein Teil mit dem anderen so verschraubt ist, dass es als Aufgabe erscheint, alles zu entwirren und Bezüge als logisch zu erkennen, aber, ganz ehrlich, ob es zuletzt tatsächlich eine zufriedenstellende Lösung gibt oder irgendeinen tieferen Sinn, da bin ich mir eben nicht so sicher. Ich habe den leisen Zweifel, dass das Ganze etwas großartiger wirkt, als es tatsächlich ist, aber da dies eine Einzelmeinung zu sein scheint, zweifle ich gleichzeitig an mir selbst.
Sicher ist, dass Ben Lerner unendlich elegante Schachtelsätze bauen kann. Er kann es sogar so gut, dass er es fast nie lassen kann. Fast jeder seiner Sätze enthält neben den wichtigen Informationen auch noch mindestens eine originelle Randbeobachtung. Es sind Sätze, in denen die Fußnoten, oft witzig, sozusagen schon mitenthalten sind. Gleich der erste Satz zum Beispiel, nicht gerade ein Hineinzieher, dafür randvoll mit interessanten Details: "Die Stadt hatte ein Stück aufgegebene Hochbahntrasse in einen luftigen Grünzug umgewandelt, auf dem die Agentin und ich in der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze südwärts gingen, nach einem sündhaft teuren Festessen in Chelsea, zu dem auch Baby-Oktopusse gehörten, die der Koch buchstäblich zu Tode massiert hatte." (Übrigens: In diesem allerersten Satz klingen bereits zwei noch oft wiederkehrende Motive des Buchs an, nämlich Oktopusse und ungewöhnlich warmes Wetter.) Andere Beispiele fänden sich zuhauf, es ist beinahe schwieriger, Gegenbeispiele zu finden.
Aber beginnen wir mit dem, was noch vor dem ersten Satz steht. Beginnen wir mit einem dem Roman vorangestellten Absatz, der nicht zuletzt dadurch extrem bedeutungsvoll wirkt. Darin steht, die Chassidim glaubten, die kommende Welt wäre wie die jetzige: "Alles wird sein, wie es jetzt ist, nur ein bisschen anders." Ich weiß nicht, an wie vielen Stellen im Roman mir dieses Zitat so oder ein bisschen anders entgegenlachte. Zwölfmal? Vierzehnmal? Dafür, wie oft es dann noch kommt, hat man jedenfalls sehr früh kapiert, dass dies also das Leitmotiv des Buchs sein soll: die Frage nach der Zukunft.
Alles beginnt damit, dass Ben im Buch einen sechsstelligen Vorschuss für einen noch zu schreibenden zweiten Roman bekommt: noch zu schreibend, Zukunft. Nahezu gleichzeitig wird bei ihm ein Krankheitssyndrom diagnostiziert, das tödlich sein kann: kann, mögliche Zukunft. Und dann fragt ihn auch noch seine beste Freundin, Alex (36, Single, Kinderwunsch), ob er ihr Samen spendet für eine künstliche Befruchtung: Er sagt ja. Da könnte also ein Kind entstehen - könnte, mögliche Zukunft.
Auch seinen Titel hat das Buch gewissermaßen der Zukunft entliehen, zumindest der popkulturellen Beschäftigung mit ihr: Um 22.04 Uhr schlägt im Film "Zurück in die Zukunft" der Blitz in den Uhrturm ein, was dafür sorgt, dass Marty (Michael J. Fox) aus den 1950er Jahren zurück in die (von ihm aus gesehen) Zukunft reisen kann.
Die Zukunft also: "Alles wird genauso sein, wie es jetzt ist - nur ein klein wenig anders." Ja, okay, klingt schön, aber bedeutet das eigentlich irgendwas?
Zunächst war ich lange sehr beeindruckt von diesem Buch. Denn tatsächlich greift Lerner viele Motive, die er einführt, ein paar Seiten später wieder auf, nur ein klein wenig anders. Das hat beinahe etwas von einem Musikstück, ist auf jeden Fall extrem komponiert. So finden wir einen Oktopus wie aus dem ersten Satz zwei Seiten später in der kardiologischen Abteilung des Mount-Sinai-Krankenhauses in New York wieder, wo Meerestiere an die Wand gemalt sind, weil es die Kinderabteilung ist, in der Ben auf den Arzt wartet, da das Marfan-Syndrom, das er unter Umständen hat, meist in der Kindheit diagnostiziert wird und ein Meerestier-Wandgemälde auf Kinder wohl beruhigend wirken soll. Ben sitzt da auf einem Kinderstuhl. Einige Seiten später tut er dies erneut: in einer Schule, in der er einem Achtjährigen Nachhilfe gibt. Mit jenem spricht er über die Dinosaurier, die ja durch eine Naturkatastrophe ausstarben - dies wird in Bezug gesetzt zur Naturkatastrophe unserer Tage, dem Klimawandel, der andauernd als ungewöhnlich warmes Wetter im Text vorkommt etc. etc. Es hat etwas von einem Memory-Spiel: Wann wird welches Motiv wieder aufgedeckt?
Der Ton ist insgesamt hoffnungslos, aber nicht indifferent. Sagen wir: angemessen ernst angesichts der Sinnlosigkeit jeglichen Tuns. (",Ich glaube nicht, dass es noch eine Eiszeit geben wird', log ich, während ich ein weiteres ausgestorbenes Tier ausschnitt.") Der Autor hat diesen Röntgenblick, den zum Beispiel Depressive haben, in allem immer schon das Ende mitzusehen, ohne dass jemand widersprechen könnte und damit recht hätte (". . . beluden uns die Teller mit einem unstimmigen Gemisch überteuerter, verderblicher Waren . . .").
Manchmal wirkt Lerners Stil, nahezu nichts jemals einfach nur zu benennen, sondern stets einen originellen Schlenker hinzuzufügen, etwas prätentiös. Nie ist etwas einfach nur, alles ist in verschiedenen Ebenen durchleuchtet und auf manchmal ermüdende Weise schlau vorgeführt. ("Sharon bestellte Pfefferminztee und ich, was ich für einen schlichten Filterkaffee hielt, der sich jedoch als sündhaft teure, sortenreine Chemex-Geschichte erwies"; "Jedes Mal, wenn ich sie lachen hörte oder ihre Stimme aus dem allgemeinen Lärm herausfiltern konnte oder sie sich anmutig durch ein Zimmer bewegen sah, fuhr ich heftig zusammen und kam mir vor, als fiele ich, eine Empfindung, die den myoklonischen Zuckungen gleicht, die einen, wenn man gerade in den Schlaf hinübergleitet, heftig aufwecken . . .")
Ein paarmal spricht Ben den Leser direkt an ("vielleicht haben Sie mich gesehen"); ansonsten ist es, als folge man, staunend und leicht eingeschüchtert, dem Selbstgespräch eines sehr intelligenten, übrigens extrem kunst-affinen Erzählers; eine Art halblaut vorgetragener Stream of Consciousness, der immer wieder mal von vollkommen klar wirkenden Passagen unterbrochen wird, die sich lesen, als wären sie für etwas anderes geschrieben und für diesen Roman leicht abgeändert worden. Da gibt es etwa eine tolle, kleine Episode, wie Ben sich einmal in eine Frau verguckt, von der er glaubt, sie sei die Tochter eines mit ihm befreundeten Ehepaares. Jahre später erfährt er, dass die beiden kinderlos sind. Diese eigentlich in sich abgeschlossene Erzählung hat einen ganz anderen Zug als alles, was vorausgegangen war, liest sich viel konzentrierter. Dasselbe gilt für eine Passage, in der Ben sich in Marfa, Texas, aufhält. (Man merke auf: Marfan-Syndrom - Marfa.) Er nimmt dort die Droge Ketamin, was sich sehr komisch liest und genauso wenig zum Rest des Buchs passen mag wie die Geschichte mit der falschen Tochter, weshalb es also vielleicht doch ins Buch passt, das sich ja aus Einzelteilen zu einem Ganzen zu fügen anstrengt, wobei die größte Anstrengung zu sein scheint, nie diese Sache mit den Zeiten aus den Augen zu verlieren. Hierbei gilt: Die Vergangenheit: zu nichts zu gebrauchen (höchstens zum Verklären der eigenen Jugend). Die Gegenwart: ungewöhnlich warm und so voller sozialer Ungerechtigkeiten, dass man nur zum Globalisierungsgegner werden kann. Und die Zukunft? Ach, die Zukunft. Halt genau gleich, nur ein bisschen anders. Dies stelle man sich aufs Buch verteilt etwa einhundert Mal vor, und man weiß, was an diesem eigentlich schlauen, geistreichen und manchmal wirklich saukomischen Buch etwas nervt.
Ich bin also leider nicht verrückt nach diesem Buch, das von sich selbst behauptet (S. 305), genau am Rand der Fiktion geschrieben worden zu sein, aber manchmal hatte ich es schon sehr, sehr gern. Zum Beispiel hier: "Kennen Sie die unangenehme Erfahrung, sich von jemandem zu verabschieden, nur um dann festzustellen, dass der Betreffende in die gleiche Richtung will, was bedeutet, dass der soziale Austausch sich über seinen rituellen Abschluss hinaus fortsetzen muss, wofür es keine festen Gepflogenheiten gibt, an denen man sich orientieren könnte?" An Stellen wie diesen liebte ich dieses Buch.
JOHANNA ADORJÁN.
Ben Lerner: "22:04". Übersetzt von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 320 Seiten, 19,95 Euro. Erscheint am Freitag
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2016Ein klein
wenig anders
Ben Lerners hinreißend schräger
New-York-Roman „22:04“
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Etwa zur Zeit der Entwicklung des synapsiden Schädelfensters wurde mir bewusst, dass ich pinkeln musste.“ Ein Roman, in dem so ein Satz steht, kann gar nicht schlecht sein. „22:04“ heißt dieser Roman, und er handelt von einem Schriftsteller namens Ben Lerner, der nur zufällig mit dem Schriftsteller Ben Lerner identisch ist, der ihn geschrieben hat. Denn: Vorsicht! „22:04“ ist ein gefaktes Selfie, auch wenn Autor und Ich-Erzähler den selben Namen tragen und beider Biografien weitgehend übereinstimmen – bis hin zu einem Detail, das man leicht für einen ausgedachten Arty-farty-Gag halten könnte: dass Ben und Ben am Marfan-Syndrom, einer Bindegewebskrankheit, leiden und der eine wie der andere ein Aufenthaltsstipendium im texanischen Marfa erhalten hat.
Das Marfan-Syndrom spielt im Roman insofern eine Rolle, als Bens Zeugungsfähigkeit dadurch beeinträchtigt ist – was wiederum insofern eine Rolle spielt, als seine alte College-Freundin Alex sich gerade ihn, die „Pussy“, als Samenspender ausgesucht hat. Ben vermutet dahinter eine neue feministische Fortpflanzungsstrategie, um potenziell katastrophale Väter an der Gründung einer Kernfamilie zu hindern. Weil er wissen will, wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben, unternimmt Ben mit Roberto, dem achtjährigen Sohn seiner Nachbarn, einen Ausflug zu den Dinos ins American Museum of Natural History. Und weil Alex arbeitslos ist – und wohl auch aus schlechtem Gender-Gewissen –, hat Ben sich bereit erklärt, die Kosten für die künstliche Befruchtung zu übernehmen, und sich hierfür einen Finanzierungsplan überlegt.
Eine im New Yorker veröffentlichte Kurzgeschichte über einen jungen Autor, der eine gefälschte Email-Korrespondenz mit jüngst verstorbenen literarischen Berühmtheiten zu Geld machen will, hat ihm zu einem Buchvertrag verholfen. Mit dem Vorschuss im sechsstelligen Bereich will er die Inseminationen bezahlen. „Das Archiv fälschen, um Fertilitätsbehandlungen zu subventionieren; die Vergangenheit fingieren, um die Zukunft zu finanzieren – das gefällt mir“, sagt eine ältere Schriftsteller-Kollegin bei einem Autoren-Abendessen über die Rückkopplungen zwischen Schein und Sein. An dem Dinner nimmt auch ein unerträglich eitler Schriftsteller aus Südafrika teil, unschwer zu identifizieren als J. M. Coetzee. Nachdem er das Tischgespräch mehr oder weniger monologisch bestritten hat, drückt er zum Abschied sein Bedauern darüber aus, dass er gar keine Gelegenheit gehabt habe, sich nach ihren bestimmt großartigen Schreib-Projekten zu erkundigen.
Was Bens eigenes Schreib-Projekt angeht, so gefällt ihm die Idee, dass bei einer literarischen Hoffnung wie ihm das symbolische Kapital des virtuellen Romans mehr wert sei als der tatsächliche Roman, die Spekulationsblase wichtiger als das Resultat, wie seine Agentin ihm erklärt. Am Ende wird er nicht seine Kurzgeschichte zu dem Roman ausbauen, für den er den Vorschuss erhalten hat, sondern genau den Roman schreiben, den wir gerade lesen. Man darf das getrost verraten, da keine Spoiler-Gefahr besteht bei einem Buch, das ohnehin ein Meta-Roman sein will, mit ständigen Loops zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Lerner versteht das als höhere Form von Realismus.
Ben Lerner, der 1979 in Topeka, Kansas geboren wurde und als literarisches Wunderkind gilt, ist eigentlich Lyriker. Bekannt geworden wurde er jedoch vor allem mit seinem Romandebüt „Abschied von Atocha“ (2011), für das er sich von Jonathan Franzen bis zum Star-Kritiker James Wood Lob abgeholt hat. Sein zweiter Roman „22:04“, der nun auf Deutsch erscheint, ist trotz Lerners selbstreferenzieller Poetologie kein akademisches Glasperlenspiel für Literatur-Nerds. Angelegt ist das Buch allerdings mehr als Album denn als geschlossene Erzählung, dank eingefügter Bilder, mit denen Lerner Vorbildern wie Alexander Kluge und W.G. Sebald nacheifert, und verschiedener Binnenerzählungen – unter anderem zweigt Ben Geld von seinem Vorschuss ab, um im Selbstverlag ein Buch herauszubringen, das aus seinem Museumsbesuch mit Roberto hervorgegangen ist und genau vier Seiten umfasst.
Allerdings braucht der Autor eine ganze Weile, um sein Perpetuum mobile, dessen Verweise und motivischen Cluster eher viral organisiert sind, in Gang zu bringen. Das ganze Gebilde soll an eine freitragende Konstruktion erinnern, ähnlich der Brooklyn Bridge, die Manhattan und Brooklyn, das böse New York (Goldman Sachs) und das gute (verwuschelte Bohème) verbindet, und die im Buch immer wieder als Über-Metapher beschworen wird. Würde Ben Lerner sich nicht so hingebungsvoll darüber lustig machen, könnte es einem schon ziemlich auf die Nerven gehen: das schwatzhafte Milieu politisch hyperkorrekter Hipster und prekarisierter Akademiker, die sich von Antidepressiva und Bio-Flavonoiden ernähren. Tagsüber sitzen sie mit extravaganten Symptomen bei Fachärzten herum, abends unter altertümlichen Edison-Glühbirnen in Flüsterkneipen. Bei zu Tode massierten Baby-Oktopussen plaudert man über die Pflichtstunden im genossenschaftlichen Nonprofit-Supermarkt oder die „Poetik der modalen Instabilität“ – ungerührt von den apokalyptischen Vorboten des Supersturms Sandy.
Doch spätestens, wenn Ben ausführt, dass ausgerechnet Ronald Reagan in ihm den Wunsch geweckt habe, Dichter zu werden, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. In dessen Fernsehansprache an die Nation nach dem Challenger-Absturz hatte seine Redenschreiberin eine Zeile implementiert, die tatsächlich aus einem pathetischen Gedicht eines Weltkriegs-Piloten stammt. Dieser wiederum hatte seinerseits diesen Vers einer Anthologie von Flieger-Lyrik entlehnt. Dass es sich um ein zweifaches Plagiat handelt, macht für Ben das Ganze um so faszinierender. Denn schlechte Formen von Kollektivität betrachtet er als Garanten ihrer besseren Möglichkeiten. Dabei beruft er sich auf ein Wort der Chassidim, das er zuerst bei Walter Benjamin gelesen hat, demzufolge es in der kommenden Welt genauso sein werde „wie hier – nur ein klein wenig anders.“
Sinnhafte Ordnung aber, Erlösung also von der Kontingenz, gibt es letztlich nur in der Kunst, die, wie es einmal heißt, mehr bieten müsse „als stilisierte Verzweiflung“. Und darum ist Ben so angetan von der Idee Alenas, der Frau, mit der er tatsächlich zusammen ist. Sie hat eine Galerie für Kunstwerke „mit Totalschaden“ gegründet, für Objekte, die aufgrund einer Beschädigung ihren Marktwert verloren haben. Für Ben sind das utopische Readymades, die von ihrem Status als Warenfetisch befreit wurden – die Errettung der Kunst vor dem Branding.
Natürlich ist das Buch selbst auch ein utopisches Readymade, genauso wie das projektierte Kind, das Alex und Ben zeugen wollen – als Dauerinstallation, wenn man so will. In einer abgründig komischen Szene imaginiert Lerner einen Dialog zwischen Ben und seinem künftigen Kind, in dem er diesem seine In-vitro-Entstehung als eine Version von „Es braucht ein ganzes Dorf“ erzählt. In seinem Eifer, alles mit allem zu analogisieren, überspannt Ben Lerner gelegentlich den Brooklyn-Brückenbogen. Aber das schmälert nicht das Vergnügen an diesem wunderbar neurotischen Stück Hornbrillen-Literatur. „22:04“ ist leuchtende Großstadtprosa gewordene Prokrastination und im besten Sinne „ein klein wenig anders“.
Ben Lerner: 22:04. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Ein eitel monologisierender
Autor ist unschwer als
J. M. Coetzee zu erkennen
22:04
Uhr
heißt der Roman. Der Titel spielt an auf Bens Lieblingsfilm
„Zurück in die Zukunft“, in dem der Blitz, dessen Energie den Zeitreisenden Marty wieder in die Gegenwart befördert,
genau um diese Uhrzeit in den
Glockenturm einschlägt.
„Ich hatte gehört, dass Taxis infolge des Sturms mehrere Fahrgäste aufnehmen konnten.“ Geflutete Yellow Cabs in Hoboken. Foto: AFP
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wenig anders
Ben Lerners hinreißend schräger
New-York-Roman „22:04“
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Etwa zur Zeit der Entwicklung des synapsiden Schädelfensters wurde mir bewusst, dass ich pinkeln musste.“ Ein Roman, in dem so ein Satz steht, kann gar nicht schlecht sein. „22:04“ heißt dieser Roman, und er handelt von einem Schriftsteller namens Ben Lerner, der nur zufällig mit dem Schriftsteller Ben Lerner identisch ist, der ihn geschrieben hat. Denn: Vorsicht! „22:04“ ist ein gefaktes Selfie, auch wenn Autor und Ich-Erzähler den selben Namen tragen und beider Biografien weitgehend übereinstimmen – bis hin zu einem Detail, das man leicht für einen ausgedachten Arty-farty-Gag halten könnte: dass Ben und Ben am Marfan-Syndrom, einer Bindegewebskrankheit, leiden und der eine wie der andere ein Aufenthaltsstipendium im texanischen Marfa erhalten hat.
Das Marfan-Syndrom spielt im Roman insofern eine Rolle, als Bens Zeugungsfähigkeit dadurch beeinträchtigt ist – was wiederum insofern eine Rolle spielt, als seine alte College-Freundin Alex sich gerade ihn, die „Pussy“, als Samenspender ausgesucht hat. Ben vermutet dahinter eine neue feministische Fortpflanzungsstrategie, um potenziell katastrophale Väter an der Gründung einer Kernfamilie zu hindern. Weil er wissen will, wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben, unternimmt Ben mit Roberto, dem achtjährigen Sohn seiner Nachbarn, einen Ausflug zu den Dinos ins American Museum of Natural History. Und weil Alex arbeitslos ist – und wohl auch aus schlechtem Gender-Gewissen –, hat Ben sich bereit erklärt, die Kosten für die künstliche Befruchtung zu übernehmen, und sich hierfür einen Finanzierungsplan überlegt.
Eine im New Yorker veröffentlichte Kurzgeschichte über einen jungen Autor, der eine gefälschte Email-Korrespondenz mit jüngst verstorbenen literarischen Berühmtheiten zu Geld machen will, hat ihm zu einem Buchvertrag verholfen. Mit dem Vorschuss im sechsstelligen Bereich will er die Inseminationen bezahlen. „Das Archiv fälschen, um Fertilitätsbehandlungen zu subventionieren; die Vergangenheit fingieren, um die Zukunft zu finanzieren – das gefällt mir“, sagt eine ältere Schriftsteller-Kollegin bei einem Autoren-Abendessen über die Rückkopplungen zwischen Schein und Sein. An dem Dinner nimmt auch ein unerträglich eitler Schriftsteller aus Südafrika teil, unschwer zu identifizieren als J. M. Coetzee. Nachdem er das Tischgespräch mehr oder weniger monologisch bestritten hat, drückt er zum Abschied sein Bedauern darüber aus, dass er gar keine Gelegenheit gehabt habe, sich nach ihren bestimmt großartigen Schreib-Projekten zu erkundigen.
Was Bens eigenes Schreib-Projekt angeht, so gefällt ihm die Idee, dass bei einer literarischen Hoffnung wie ihm das symbolische Kapital des virtuellen Romans mehr wert sei als der tatsächliche Roman, die Spekulationsblase wichtiger als das Resultat, wie seine Agentin ihm erklärt. Am Ende wird er nicht seine Kurzgeschichte zu dem Roman ausbauen, für den er den Vorschuss erhalten hat, sondern genau den Roman schreiben, den wir gerade lesen. Man darf das getrost verraten, da keine Spoiler-Gefahr besteht bei einem Buch, das ohnehin ein Meta-Roman sein will, mit ständigen Loops zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Lerner versteht das als höhere Form von Realismus.
Ben Lerner, der 1979 in Topeka, Kansas geboren wurde und als literarisches Wunderkind gilt, ist eigentlich Lyriker. Bekannt geworden wurde er jedoch vor allem mit seinem Romandebüt „Abschied von Atocha“ (2011), für das er sich von Jonathan Franzen bis zum Star-Kritiker James Wood Lob abgeholt hat. Sein zweiter Roman „22:04“, der nun auf Deutsch erscheint, ist trotz Lerners selbstreferenzieller Poetologie kein akademisches Glasperlenspiel für Literatur-Nerds. Angelegt ist das Buch allerdings mehr als Album denn als geschlossene Erzählung, dank eingefügter Bilder, mit denen Lerner Vorbildern wie Alexander Kluge und W.G. Sebald nacheifert, und verschiedener Binnenerzählungen – unter anderem zweigt Ben Geld von seinem Vorschuss ab, um im Selbstverlag ein Buch herauszubringen, das aus seinem Museumsbesuch mit Roberto hervorgegangen ist und genau vier Seiten umfasst.
Allerdings braucht der Autor eine ganze Weile, um sein Perpetuum mobile, dessen Verweise und motivischen Cluster eher viral organisiert sind, in Gang zu bringen. Das ganze Gebilde soll an eine freitragende Konstruktion erinnern, ähnlich der Brooklyn Bridge, die Manhattan und Brooklyn, das böse New York (Goldman Sachs) und das gute (verwuschelte Bohème) verbindet, und die im Buch immer wieder als Über-Metapher beschworen wird. Würde Ben Lerner sich nicht so hingebungsvoll darüber lustig machen, könnte es einem schon ziemlich auf die Nerven gehen: das schwatzhafte Milieu politisch hyperkorrekter Hipster und prekarisierter Akademiker, die sich von Antidepressiva und Bio-Flavonoiden ernähren. Tagsüber sitzen sie mit extravaganten Symptomen bei Fachärzten herum, abends unter altertümlichen Edison-Glühbirnen in Flüsterkneipen. Bei zu Tode massierten Baby-Oktopussen plaudert man über die Pflichtstunden im genossenschaftlichen Nonprofit-Supermarkt oder die „Poetik der modalen Instabilität“ – ungerührt von den apokalyptischen Vorboten des Supersturms Sandy.
Doch spätestens, wenn Ben ausführt, dass ausgerechnet Ronald Reagan in ihm den Wunsch geweckt habe, Dichter zu werden, kann man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. In dessen Fernsehansprache an die Nation nach dem Challenger-Absturz hatte seine Redenschreiberin eine Zeile implementiert, die tatsächlich aus einem pathetischen Gedicht eines Weltkriegs-Piloten stammt. Dieser wiederum hatte seinerseits diesen Vers einer Anthologie von Flieger-Lyrik entlehnt. Dass es sich um ein zweifaches Plagiat handelt, macht für Ben das Ganze um so faszinierender. Denn schlechte Formen von Kollektivität betrachtet er als Garanten ihrer besseren Möglichkeiten. Dabei beruft er sich auf ein Wort der Chassidim, das er zuerst bei Walter Benjamin gelesen hat, demzufolge es in der kommenden Welt genauso sein werde „wie hier – nur ein klein wenig anders.“
Sinnhafte Ordnung aber, Erlösung also von der Kontingenz, gibt es letztlich nur in der Kunst, die, wie es einmal heißt, mehr bieten müsse „als stilisierte Verzweiflung“. Und darum ist Ben so angetan von der Idee Alenas, der Frau, mit der er tatsächlich zusammen ist. Sie hat eine Galerie für Kunstwerke „mit Totalschaden“ gegründet, für Objekte, die aufgrund einer Beschädigung ihren Marktwert verloren haben. Für Ben sind das utopische Readymades, die von ihrem Status als Warenfetisch befreit wurden – die Errettung der Kunst vor dem Branding.
Natürlich ist das Buch selbst auch ein utopisches Readymade, genauso wie das projektierte Kind, das Alex und Ben zeugen wollen – als Dauerinstallation, wenn man so will. In einer abgründig komischen Szene imaginiert Lerner einen Dialog zwischen Ben und seinem künftigen Kind, in dem er diesem seine In-vitro-Entstehung als eine Version von „Es braucht ein ganzes Dorf“ erzählt. In seinem Eifer, alles mit allem zu analogisieren, überspannt Ben Lerner gelegentlich den Brooklyn-Brückenbogen. Aber das schmälert nicht das Vergnügen an diesem wunderbar neurotischen Stück Hornbrillen-Literatur. „22:04“ ist leuchtende Großstadtprosa gewordene Prokrastination und im besten Sinne „ein klein wenig anders“.
Ben Lerner: 22:04. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 Seiten, 19,95 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Ein eitel monologisierender
Autor ist unschwer als
J. M. Coetzee zu erkennen
22:04
Uhr
heißt der Roman. Der Titel spielt an auf Bens Lieblingsfilm
„Zurück in die Zukunft“, in dem der Blitz, dessen Energie den Zeitreisenden Marty wieder in die Gegenwart befördert,
genau um diese Uhrzeit in den
Glockenturm einschlägt.
„Ich hatte gehört, dass Taxis infolge des Sturms mehrere Fahrgäste aufnehmen konnten.“ Geflutete Yellow Cabs in Hoboken. Foto: AFP
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Mit "22:04" legt der New Yorker Autor Ben Lerner einen subtilen und bisweilen enorm lustigen Roman vor, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion bewegt. NZZ am Sonntag