Was für ein Mensch willst du sein? Packend, berührend und authentisch
David Safier, den Lesern bislang bekannt als Bestsellerautor humorvoll-intelligenter Bücher wie "Plötzlich Shakespeare", "Mieses Karma" oder "Happy Family" hat mit "28 Tage lang" sein "Herzensprojekt" verwirklicht und einen Roman über den Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto geschrieben. Safier stammt aus einer jüdisch-christlichen Familie. Sein Großvater väterlicherseits ist in Buchenwald umgekommen, die Großmutter starb im Ghetto von Lodz und auch sein Vater wurde von den Nationalsozialisten verfolgt. Er widmet das Buch seinen beiden Söhnen - und will Erwachsene wie Jugendliche ansprechen. So erscheint von "28 Tage lang" auch eine Ausgabe bei rororo rotfuchs, dem Jugendbuchprogramm von Rowohlt. Wie "seine" Leser auf diesen Stoff reagieren werden, darauf ist Safier sehr gespannt - und natürlich möchte er "besonders viele Menschen damit erreichen". Vor allem auch die, " die normalerweise sagen: ‚Ein Buch über den Nationalsozialismus? Da habe ich jetzt keine Lust, das zu lesen.'"
Spannend, emotional und dramatisch: "28 Tage lang" packt den Leser vom ersten Satz an
"28 Tage lang" ist emotional, spannend und dramatisch erzählt und packt einen vom ersten Satz an. David Safier schafft es sofort, uns hineinzuziehen in das Buch und das Leben von Mira, seiner Hauptfigur. Sie ist 16 Jahre alt und lebt im Warschauer Ghetto. Eine der ersten Lektionen, die sie gelernt hat: Auch die Erwachsenen können ihre Kinder hier nicht mehr beschützen. Ihr Vater hat sie, so sieht es Mira, im Stich gelassen, als er sich umbrachte. Zuvor hatte er noch die gesamten Ersparnisse als Schmiergeld eingesetzt, um Miras älteren Bruder Simon bei der Judenpolizei unterzubringen. Die Mutter ist nur noch ein Schatten nach dem Tod ihres geliebten Mannes und Mira sorgt für ihre kleine Schwester Hannah und die Mutter, so gut es eben geht.
Ghetto-Alltag: Deportationen und Hunger - und Mira, 16, erlebt die erste Liebe
Das Grauen des Ghettos, die Willkür, mit der die Nazis regieren, denen ein jüdisches Leben nichts wert ist, die Deportationen, der Hunger, die lebensgefährlichen Schmuggeltouren Miras - Safier lässt den Alltag im Ghetto lebendig werden. Und dennoch, bei all dem Grauen, dem Töten und der Todesangst begleiten wir auch Mira im Erleben ihrer ersten zarten Liebe. Das ist nie unglaubwürdig oder gar sentimental, sondern gelingt David Safier sensibel und atemberaubend dicht. Auch die Komposition von "28 Tage lang", in der Safier historische Fakten und Personen mit der Geschichte fiktiver Figuren verwebt, macht den Roman zu etwas ganz Besonderem.
Was für ein Mensch willst du sein? Wie weit gehst du, um zu überleben?
Da ist der weltberühmte Reformpädagoge Janusz Korczak, der im Ghetto ein Waisenhaus leitete, und da ist die fiktive Figur von Miras Freund Daniel, der im Waisenhaus Korczaks rechte Hand ist. Da sind der Vorsitzende des Judenrates, Adam Czerniakow, oder der Ghettonarr Rubinstein, der "alle gleich, alle gleich" rufend durch die Straßen lief und sich mit List und Witz Essen organisierte.
Und da ist Mira, die bei einer Schmuggeltour außerhalb des Ghettos fast erwischt wird - doch ein junger Mann steht ihr bei und rettet ihr das Leben - mit einem Kuss. Seit dem Kuss ist für Mira nichts mehr, wie es war - und sie wird sich entscheiden müssen, wem ihr Herz wirklich gehört, Daniel oder Amos. Das ist eine der großen Fragen, die Mira beantworten muss. Eine andere: Was für ein Mensch willst du sein? Einer, der sein Leben für andere gibt, oder einer, der andere verrät, um sein eigenes Leben zu schützen? Wie weit gehst du, um zu überleben? Um wenigstens noch einen Tag zu überleben? In der Hölle des Ghettos eine Frage, die sich jeden Tag stellt - oft genug mehrmals.
Die dritte Frage für Mira: Will und kann sie sich den Kämpfern im Ghetto anschließen? Kann sie wirklich Menschen töten? Als sie erfährt, dass alle noch lebenden Ghettobewohner getötet werden sollen - ohne Ausnahmen -, entscheidet sie sich für den Kampf. Er wird 28 Tage dauern, so lange schaffen es die meist jugendlichen Kämpfer, Widerstand zu leisten. So lange dauerte auch der reale Widerstand im Warschauer Ghetto.
"28 Tage lang": David Safier verharmlost nichts - kaum auszuhalten, manche Szenen
David Safier spart in "28 Tage lang" nichts aus, verharmlos nichts - kaum auszuhalten, manche Szenen ... Da gibt eine Mutter ihr Baby in den Tod, um ihr eigenes Leben zu retten, oder da ist diese Frau, die auf einem Platz die Kinder der zur Deportation zusammengetriebenen Menschen "erlöst", indem sie sie noch vor dem Transport vergiftet. Da geht Janusz Korczak zusammen mit seinen 200 Waisenkindern in den Tod, obwohl er sein Leben hätte retten können.
Was für ein Mensch willst du sein? Diese Frage kann jeder nur für sich selbst beantworten - viele Figuren in "28 Tage lang" entscheiden sich für den Kampf, manche weigern sich, selbst zu töten, auch wenn sie das ihr Leben kosten wird. Doch moralisierend ist "28 Tage lang" nie. Safier bewertet nicht, stellt Kampfesmut nicht über Friedfertigkeit - gerade deshalb berühren die Zeugnisse der Menschlichkeit wie das von Janusz Korczak besonders. Was für ein Mensch willst du sein ...?
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein bisschen zu dick aufgetragen findet Charlotte Theile diesen Roman von David Safier bisweilen. Dass der Autor seiner jugendlichen Heldin etwas zu viel zumutet, wenn er sie als Opfer durch die Hölle des Warschauer Ghettos ziehen und zugleich als aufmüpfigen Teenie von heute erscheinen lässt, liegt für Theile auf der Hand. Lebendig, unterhaltsam und spannend findet sie Miras Geschichte dennoch. Dem riesigen Anspruch, einen Spannungsroman über den Holocaust zu schreiben, mit einer Identifikationsfigur für junge Leser, einer echten Heldin, die auf SS-Männer schießt und mit ihrer kleinen Schwester hadert, wird der Autor laut Rezensentin jedoch nur bedingt gerecht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2014Ein Zeichen hin zum Leben
Als Schriftsteller wurde David Safier mit lustiger, leichter Lektüre populär. Sein neues Buch erzählt vom Kampf der Juden im Warschauer Getto. Der Stoff berührt ihn persönlich.
Von Jörg Thomann
Am Ende unseres Gesprächs an diesem Vormittag wirkt David Safier ein wenig angeschlagen. Am Abend zuvor hier in Köln, wo er auf einem Rheinschiff vor 700 Zuhörern aus seinem neuen Buch gelesen hat, ist es spät geworden, und Safier hat - für seine Verhältnisse - leicht über die Stränge geschlagen und ein bisschen getrunken; eigentlich meidet er Alkohol und Zigaretten und joggt jeden zweiten Tag, weshalb er etliche Kilos verloren hat. Doch nicht nur der ungewohnte Alkohol hat Safier ein wenig mitgenommen, sondern wohl auch das Gespräch selbst, das uns in die Abgründe der deutschen Geschichte geführt hat und tief hinein in seine eigene Familiengeschichte, die mit ihren dramatischen und tragischen Momenten selbst Stoff für ein Buch böte.
Safier ist erst noch dabei, sich daran zu gewöhnen, dass sich ein Interview in eine solche Richtung dreht. Zwar ist er selbst als gelernter Journalist und Autor von fünf sicheren Bestsellern hinreichend routiniert im Mediengeschäft. Allerdings erzählten seine früheren Romane skurrile Geschichten etwa über ein paar friesische Kühe auf dem Weg nach Indien ("Muh!") oder eine Familie, die sich plötzlich in ein Horrorfigurenkabinett mit Werwolf, Vampir und Mumie verwandelt sieht ("Happy Family"). Und da lagen Fragen, inwieweit das alles etwas mit Safier selbst zu tun hat, nicht eben nahe. Nun aber, bei Safiers neuem Buch, ist alles anders. Auch seine Stammleser werden sich umstellen müssen.
"28 Tage lang" erzählt vom Aufstand im Warschauer Getto, bei dem sich im Frühjahr 1943 rund 750 zumeist junge Juden mit dem Mut der Verzweiflung gegen die übermächtigen deutschen Besatzer erhoben. Es war ein bewundernswerter Kampf auf verlorenem Posten, der damit endete, dass die SS die Häuser niederbrannte und das Getto mitsamt seinen Bewohnern nahezu vollständig vernichtete; einigen wenigen Menschen gelang wie durch ein Wunder die Flucht.
Trotz des verheerenden Ausgangs wurde der Aufstand, der den Deutschen erhebliche Verluste beibrachte, zum glanzvollen Symbol des jüdischen Widerstands und zu einem Gründungsmythos des Staates Israel. In Deutschland hingegen ist, was damals geschah, vielen unbekannt; am meisten erfahren hat man hierzulande durch die Memoiren Marcel Reich-Ranickis, der das Getto gemeinsam mit seiner Frau Tosia überlebt hat.
David Safiers Roman hält sich eng an die historischen Fakten, die durch Zeitzeugenberichte und Forschung umfassend dokumentiert sind, er lässt reale Figuren auftreten und schildert das Geschehen doch aus der Perspektive eines fiktiven Protagonisten. Es ist, wie eigentlich stets bei Safier, eine Frau: die bald 17 Jahre alte Mira, die versucht, ihrer kleinen Familie durch Schmuggelgeschäfte ein erträgliches Leben zu erhalten, und sich irgendwann den Kämpfern anschließt. Mit Miras Augen blicken die Leser, Safier möchte vor allem auch die jungen ansprechen, auf das Grauen im Getto und die zaghaft glimmenden Hoffnungsschimmer, die allzu oft brutal niedergetrampelt werden.
Es gibt schockierende Momente in diesem Buch, das Safier ohne Pathos, sondern in typisch knapper, aufs Wesentliche konzentrierter Sprache erzählt, und es fehlt fast völlig das, was seine bisherigen Werke zuvorderst ausgemacht hat: die Komik.
Er habe, sagt Safier beim Gespräch in der Lounge eines Kölner Hotels, seinen Agenten und die Lektorin gebeten, ehrlich zu ihm zu sein, sollten sie den Eindruck haben, dass er sich bei dem Thema verhebe. Sein eigenes Gefühl beim Schreiben aber sei gut gewesen: "Ich habe eine Figur gefunden, mit der ich durch das Buch gehen kann, und einen Sound, mit dem ich leben kann." Ihm schwebte keine nüchterne Geschichtsstunde vor, sondern ein Buch, geschrieben "mit den Mitteln des Spannungsromans", das man trotz seines entsetzlichen Inhalts "gerne lesen" sollte.
Bislang hat ihm dies niemand übelgenommen. Die ersten Kritiker, deren Zunft Safiers frühere Romane geschlossen links liegenließ, haben "28 Tage lang" sehr wohlwollend besprochen. Dafür, vermutet Safier, werde das neue Buch sich kaum ähnlich gut verkaufen wie seine leichtgängigen Bestseller. Doch das, behauptet er, sei ihm egal: "Es ist ein Buch, das ich schreiben wollte."
Und zwar schon seit langer Zeit. Seit 1992, um genau zu sein, als er sich vor einem Gedenkkonzert im Bremer Dom erstmals mit dem Getto-Aufstand beschäftigte, weil man ihn gebeten hatte, eine Rede zu halten. Warum ihn? Weil er, 1966 geboren, im ähnlichen Alter war wie das Gros der Getto-Kämpfer damals, weil er als Radio-Bremen-Mitarbeiter mit seiner angenehmen, warmen Stimme gut reden konnte. Und nicht zuletzt: weil David Safier Jude ist.
In Safiers Schaffen hat sein Judentum bis dato kaum eine Rolle gespielt. Zwar gab es in "Berlin, Berlin", der von Safier erdachten Vorabendserie, die ihm 2003 den Grimme-Preis und 2004 den amerikanischen Fernsehpreis Emmy bescherte, die Nebenfigur eines jüdischen Kochs, doch kaum jemand seiner Fans oder Verächter wäre auf die Idee gekommen, sein Werk unter "Jüdischer Humor" zu rubrizieren. Stattdessen scheint sich Safier mit seinen Büchern - Gesamtauflage mehr als drei Millionen - nahtlos einzureihen neben Tommy Jaud, Ralf Husmann oder Timur Vermes, Deutschlands humoristischen Bestsellerautoren, unter denen Safier vermutlich der am wenigsten zynische ist.
Er habe, so Safier, auch nie den Drang verspürt, sein Judentum auszustellen. Als religiös bezeichnet er sich nicht. "Ich habe meine Barmizwa gemacht, aber ich lebe es nicht im Alltag", sagt er. Safiers Söhne, 18 und 14 Jahre alt, sind christlich erzogen. Für seine Zurückhaltung aber gibt es eine weitere Erklärung, und Safier ist ehrlich genug, sie auszusprechen: "Es hat sicher auch etwas mit Angst zu tun. Mit Ängsten vor Zerstörung, die natürlich völlig irrational sind." Denn "objektiv betrachtet", das weiß Safier, "könnte mein Leben sicherer gar nicht sein. Meine Eltern hingegen hatten überhaupt keine Sicherheit, bei ihnen kam ein Schicksalsschlag nach dem anderen." Und das, was seiner Familie widerfahren ist, hat naturgemäß auch das Leben von Safier geprägt.
Sein Großvater, der Vater seines Vaters, kam im KZ Buchenwald ums Leben, seine Großmutter starb im Getto von Lódz. Sein Vater war in Wien verhaftet, doch durch eine glückliche Fügung freigelassen worden, ihm gelang 1938 die Flucht nach Palästina. Dort kämpfte er erst im Untergrund, dann im Unabhängigkeitskrieg Israels, bis er es irgendwann leid war, Krieger zu sein. Er wurde Zahlmeister auf einem Schiff, fuhr um die Welt und landete im Hafen von Bremen - wo er sich in eine junge Deutsche verliebte. Zwei versehrte Seelen fanden einander: das Bremer Kriegskind, traumatisiert durch die Bombennächte, und der Holocaust-Überlebende, der sich der Liebe wegen dazu entschloss, im Land der Mörder zu leben.
Mit Hilfe der geliebten Frau gelang es ihm, den seine Erlebnisse zum Trinker gemacht hatten, seine Alkoholsucht zu überwinden, und mit 52 Jahren wurde er Vater eines Sohnes. Seine Geburt, sagt David Safier, sei für den Vater "ein Zeichen hin zum Leben" gewesen: "Wenn man so viel Schreckliches erlebt hat und dennoch ein Kind in die Welt setzt, dann zeigt das eine Haltung, die beeindruckend ist." Die Bindung zum Vater, der 1997 starb, sei eine besondere gewesen, sagt Safier und hält kurz inne. "Er ist noch sehr präsent."
Gesprochen wurde im Hause Safier wenig über den Krieg und den Holocaust, und der Sohn hat, selbst als er schon Journalist geworden war, kaum je gefragt: "Der Respekt war so groß. Man merkt es ja, wenn jemand etwas nicht erzählen möchte." Heute, da die Eltern tot sind, ärgert ihn das. Wüsste er mehr über die eigene Familie, dann könnte er manche Dinge besser einordnen, glaubt Safier: "Da ist vielleicht das eine oder andere nicht geheilt."
Im Wissen, welch unerhörte Begebenheit seine Existenz für die Familie bedeutete, fühlte Safier sich stets verpflichtet, und als er bei Radio Bremen anfing, merkte er, wie stolz der Vater war, der ihn gern als Moderator des dortigen Regionalfernsehens gesehen hätte. Safier hat es wesentlich weiter gebracht, doch der Erfolg hat ihm nicht die latente Unsicherheit genommen. "Ich fühle mich überall sehr wohl", sagt er. "Doch nach wie vor spüre ich: Ein bisschen gehöre ich da noch nicht dazu." Es gebe in seinem Leben nur wenige Dinge und Menschen, denen er vertraue, "dann aber komplett".
Sein, wie er sagt, "komisches Sicherheitsbedürfnis" hält ihn bis heute dort verankert, wo er geboren wurde: in Bremen. Es erklärt auch seine Faszination fürs Religiöse, das so viel Trost und Geborgenheit schaffen kann. Zwar hat Safier seit dem Tod des Vaters keine Synagoge mehr betreten, sein Werk jedoch ist durchzogen von spirituellen Begebenheiten. Im Roman "Mieses Karma" durchläuft die Protagonistin einen aberwitzigen Reinkarnationskreislauf, in der Serie "Zwei Engel für Amor" wird der römische Liebesgott lebendig, im Buch "Jesus liebt mich", kürzlich von und mit Florian David Fitz verfilmt, tritt der Heiland persönlich auf.
Ob jedoch Gläubiger, Atheist oder Zweifelnder - ein jeder muss für sich jene Frage beantworten, die sich Mira in "28 Tage lang" stets aufs Neue stellt: Was für ein Mensch willst du sein? Denn auch im schier unvorstellbaren Schrecken, von dem sein Buch berichtet, gab es laut Safier Momente, "in denen man Glück und Barmherzigkeit" und "menschliche Größe" erlebte. Verkörpert etwa durch den Pädagogen und Schriftsteller Janusz Korczak, der die todgeweihten Kinder des von ihm geleiteten Waisenhauses bei ihrem Gang nach Treblinka nicht im Stich ließ.
Scheinbar simple moralische Urteile freilich spart sich das Buch. Es beißt sich fest am praktisch unauflösbaren Konflikt, ob man sich fügen oder kämpfen soll, Letzteres auf die Gefahr hin, das Leid zu verlängern. Ihm selbst, glaubt er, hätte zu jedwedem Heldentum die Kraft gefehlt, doch mit seinen Mitteln hält er die Erinnerung an diejenigen, die sich aufopferten, wach: indem er von ihnen erzählt.
Im allerengsten Kreis der jungen Leserschaft, um die er sich mit "28 Tage lang" besonders bemüht, ist er damit schon auf offene Ohren gestoßen: Safiers älterer Sohn hat das Buch mit Begeisterung gelesen und unter seinen Freunden verteilt. Beim zweiten S0hn, sagt Safier, der nun, am Ende dieser kurzen, doch schmerzlichen Reise in die Vergangenheit, wieder lachen kann, ist er noch nicht so weit, aber vorsichtig optimistisch: "Er wartet auf das Hörbuch."
David Safier, "28 Tage lang", Kindler Verlag, 416 Seiten, 16,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Schriftsteller wurde David Safier mit lustiger, leichter Lektüre populär. Sein neues Buch erzählt vom Kampf der Juden im Warschauer Getto. Der Stoff berührt ihn persönlich.
Von Jörg Thomann
Am Ende unseres Gesprächs an diesem Vormittag wirkt David Safier ein wenig angeschlagen. Am Abend zuvor hier in Köln, wo er auf einem Rheinschiff vor 700 Zuhörern aus seinem neuen Buch gelesen hat, ist es spät geworden, und Safier hat - für seine Verhältnisse - leicht über die Stränge geschlagen und ein bisschen getrunken; eigentlich meidet er Alkohol und Zigaretten und joggt jeden zweiten Tag, weshalb er etliche Kilos verloren hat. Doch nicht nur der ungewohnte Alkohol hat Safier ein wenig mitgenommen, sondern wohl auch das Gespräch selbst, das uns in die Abgründe der deutschen Geschichte geführt hat und tief hinein in seine eigene Familiengeschichte, die mit ihren dramatischen und tragischen Momenten selbst Stoff für ein Buch böte.
Safier ist erst noch dabei, sich daran zu gewöhnen, dass sich ein Interview in eine solche Richtung dreht. Zwar ist er selbst als gelernter Journalist und Autor von fünf sicheren Bestsellern hinreichend routiniert im Mediengeschäft. Allerdings erzählten seine früheren Romane skurrile Geschichten etwa über ein paar friesische Kühe auf dem Weg nach Indien ("Muh!") oder eine Familie, die sich plötzlich in ein Horrorfigurenkabinett mit Werwolf, Vampir und Mumie verwandelt sieht ("Happy Family"). Und da lagen Fragen, inwieweit das alles etwas mit Safier selbst zu tun hat, nicht eben nahe. Nun aber, bei Safiers neuem Buch, ist alles anders. Auch seine Stammleser werden sich umstellen müssen.
"28 Tage lang" erzählt vom Aufstand im Warschauer Getto, bei dem sich im Frühjahr 1943 rund 750 zumeist junge Juden mit dem Mut der Verzweiflung gegen die übermächtigen deutschen Besatzer erhoben. Es war ein bewundernswerter Kampf auf verlorenem Posten, der damit endete, dass die SS die Häuser niederbrannte und das Getto mitsamt seinen Bewohnern nahezu vollständig vernichtete; einigen wenigen Menschen gelang wie durch ein Wunder die Flucht.
Trotz des verheerenden Ausgangs wurde der Aufstand, der den Deutschen erhebliche Verluste beibrachte, zum glanzvollen Symbol des jüdischen Widerstands und zu einem Gründungsmythos des Staates Israel. In Deutschland hingegen ist, was damals geschah, vielen unbekannt; am meisten erfahren hat man hierzulande durch die Memoiren Marcel Reich-Ranickis, der das Getto gemeinsam mit seiner Frau Tosia überlebt hat.
David Safiers Roman hält sich eng an die historischen Fakten, die durch Zeitzeugenberichte und Forschung umfassend dokumentiert sind, er lässt reale Figuren auftreten und schildert das Geschehen doch aus der Perspektive eines fiktiven Protagonisten. Es ist, wie eigentlich stets bei Safier, eine Frau: die bald 17 Jahre alte Mira, die versucht, ihrer kleinen Familie durch Schmuggelgeschäfte ein erträgliches Leben zu erhalten, und sich irgendwann den Kämpfern anschließt. Mit Miras Augen blicken die Leser, Safier möchte vor allem auch die jungen ansprechen, auf das Grauen im Getto und die zaghaft glimmenden Hoffnungsschimmer, die allzu oft brutal niedergetrampelt werden.
Es gibt schockierende Momente in diesem Buch, das Safier ohne Pathos, sondern in typisch knapper, aufs Wesentliche konzentrierter Sprache erzählt, und es fehlt fast völlig das, was seine bisherigen Werke zuvorderst ausgemacht hat: die Komik.
Er habe, sagt Safier beim Gespräch in der Lounge eines Kölner Hotels, seinen Agenten und die Lektorin gebeten, ehrlich zu ihm zu sein, sollten sie den Eindruck haben, dass er sich bei dem Thema verhebe. Sein eigenes Gefühl beim Schreiben aber sei gut gewesen: "Ich habe eine Figur gefunden, mit der ich durch das Buch gehen kann, und einen Sound, mit dem ich leben kann." Ihm schwebte keine nüchterne Geschichtsstunde vor, sondern ein Buch, geschrieben "mit den Mitteln des Spannungsromans", das man trotz seines entsetzlichen Inhalts "gerne lesen" sollte.
Bislang hat ihm dies niemand übelgenommen. Die ersten Kritiker, deren Zunft Safiers frühere Romane geschlossen links liegenließ, haben "28 Tage lang" sehr wohlwollend besprochen. Dafür, vermutet Safier, werde das neue Buch sich kaum ähnlich gut verkaufen wie seine leichtgängigen Bestseller. Doch das, behauptet er, sei ihm egal: "Es ist ein Buch, das ich schreiben wollte."
Und zwar schon seit langer Zeit. Seit 1992, um genau zu sein, als er sich vor einem Gedenkkonzert im Bremer Dom erstmals mit dem Getto-Aufstand beschäftigte, weil man ihn gebeten hatte, eine Rede zu halten. Warum ihn? Weil er, 1966 geboren, im ähnlichen Alter war wie das Gros der Getto-Kämpfer damals, weil er als Radio-Bremen-Mitarbeiter mit seiner angenehmen, warmen Stimme gut reden konnte. Und nicht zuletzt: weil David Safier Jude ist.
In Safiers Schaffen hat sein Judentum bis dato kaum eine Rolle gespielt. Zwar gab es in "Berlin, Berlin", der von Safier erdachten Vorabendserie, die ihm 2003 den Grimme-Preis und 2004 den amerikanischen Fernsehpreis Emmy bescherte, die Nebenfigur eines jüdischen Kochs, doch kaum jemand seiner Fans oder Verächter wäre auf die Idee gekommen, sein Werk unter "Jüdischer Humor" zu rubrizieren. Stattdessen scheint sich Safier mit seinen Büchern - Gesamtauflage mehr als drei Millionen - nahtlos einzureihen neben Tommy Jaud, Ralf Husmann oder Timur Vermes, Deutschlands humoristischen Bestsellerautoren, unter denen Safier vermutlich der am wenigsten zynische ist.
Er habe, so Safier, auch nie den Drang verspürt, sein Judentum auszustellen. Als religiös bezeichnet er sich nicht. "Ich habe meine Barmizwa gemacht, aber ich lebe es nicht im Alltag", sagt er. Safiers Söhne, 18 und 14 Jahre alt, sind christlich erzogen. Für seine Zurückhaltung aber gibt es eine weitere Erklärung, und Safier ist ehrlich genug, sie auszusprechen: "Es hat sicher auch etwas mit Angst zu tun. Mit Ängsten vor Zerstörung, die natürlich völlig irrational sind." Denn "objektiv betrachtet", das weiß Safier, "könnte mein Leben sicherer gar nicht sein. Meine Eltern hingegen hatten überhaupt keine Sicherheit, bei ihnen kam ein Schicksalsschlag nach dem anderen." Und das, was seiner Familie widerfahren ist, hat naturgemäß auch das Leben von Safier geprägt.
Sein Großvater, der Vater seines Vaters, kam im KZ Buchenwald ums Leben, seine Großmutter starb im Getto von Lódz. Sein Vater war in Wien verhaftet, doch durch eine glückliche Fügung freigelassen worden, ihm gelang 1938 die Flucht nach Palästina. Dort kämpfte er erst im Untergrund, dann im Unabhängigkeitskrieg Israels, bis er es irgendwann leid war, Krieger zu sein. Er wurde Zahlmeister auf einem Schiff, fuhr um die Welt und landete im Hafen von Bremen - wo er sich in eine junge Deutsche verliebte. Zwei versehrte Seelen fanden einander: das Bremer Kriegskind, traumatisiert durch die Bombennächte, und der Holocaust-Überlebende, der sich der Liebe wegen dazu entschloss, im Land der Mörder zu leben.
Mit Hilfe der geliebten Frau gelang es ihm, den seine Erlebnisse zum Trinker gemacht hatten, seine Alkoholsucht zu überwinden, und mit 52 Jahren wurde er Vater eines Sohnes. Seine Geburt, sagt David Safier, sei für den Vater "ein Zeichen hin zum Leben" gewesen: "Wenn man so viel Schreckliches erlebt hat und dennoch ein Kind in die Welt setzt, dann zeigt das eine Haltung, die beeindruckend ist." Die Bindung zum Vater, der 1997 starb, sei eine besondere gewesen, sagt Safier und hält kurz inne. "Er ist noch sehr präsent."
Gesprochen wurde im Hause Safier wenig über den Krieg und den Holocaust, und der Sohn hat, selbst als er schon Journalist geworden war, kaum je gefragt: "Der Respekt war so groß. Man merkt es ja, wenn jemand etwas nicht erzählen möchte." Heute, da die Eltern tot sind, ärgert ihn das. Wüsste er mehr über die eigene Familie, dann könnte er manche Dinge besser einordnen, glaubt Safier: "Da ist vielleicht das eine oder andere nicht geheilt."
Im Wissen, welch unerhörte Begebenheit seine Existenz für die Familie bedeutete, fühlte Safier sich stets verpflichtet, und als er bei Radio Bremen anfing, merkte er, wie stolz der Vater war, der ihn gern als Moderator des dortigen Regionalfernsehens gesehen hätte. Safier hat es wesentlich weiter gebracht, doch der Erfolg hat ihm nicht die latente Unsicherheit genommen. "Ich fühle mich überall sehr wohl", sagt er. "Doch nach wie vor spüre ich: Ein bisschen gehöre ich da noch nicht dazu." Es gebe in seinem Leben nur wenige Dinge und Menschen, denen er vertraue, "dann aber komplett".
Sein, wie er sagt, "komisches Sicherheitsbedürfnis" hält ihn bis heute dort verankert, wo er geboren wurde: in Bremen. Es erklärt auch seine Faszination fürs Religiöse, das so viel Trost und Geborgenheit schaffen kann. Zwar hat Safier seit dem Tod des Vaters keine Synagoge mehr betreten, sein Werk jedoch ist durchzogen von spirituellen Begebenheiten. Im Roman "Mieses Karma" durchläuft die Protagonistin einen aberwitzigen Reinkarnationskreislauf, in der Serie "Zwei Engel für Amor" wird der römische Liebesgott lebendig, im Buch "Jesus liebt mich", kürzlich von und mit Florian David Fitz verfilmt, tritt der Heiland persönlich auf.
Ob jedoch Gläubiger, Atheist oder Zweifelnder - ein jeder muss für sich jene Frage beantworten, die sich Mira in "28 Tage lang" stets aufs Neue stellt: Was für ein Mensch willst du sein? Denn auch im schier unvorstellbaren Schrecken, von dem sein Buch berichtet, gab es laut Safier Momente, "in denen man Glück und Barmherzigkeit" und "menschliche Größe" erlebte. Verkörpert etwa durch den Pädagogen und Schriftsteller Janusz Korczak, der die todgeweihten Kinder des von ihm geleiteten Waisenhauses bei ihrem Gang nach Treblinka nicht im Stich ließ.
Scheinbar simple moralische Urteile freilich spart sich das Buch. Es beißt sich fest am praktisch unauflösbaren Konflikt, ob man sich fügen oder kämpfen soll, Letzteres auf die Gefahr hin, das Leid zu verlängern. Ihm selbst, glaubt er, hätte zu jedwedem Heldentum die Kraft gefehlt, doch mit seinen Mitteln hält er die Erinnerung an diejenigen, die sich aufopferten, wach: indem er von ihnen erzählt.
Im allerengsten Kreis der jungen Leserschaft, um die er sich mit "28 Tage lang" besonders bemüht, ist er damit schon auf offene Ohren gestoßen: Safiers älterer Sohn hat das Buch mit Begeisterung gelesen und unter seinen Freunden verteilt. Beim zweiten S0hn, sagt Safier, der nun, am Ende dieser kurzen, doch schmerzlichen Reise in die Vergangenheit, wieder lachen kann, ist er noch nicht so weit, aber vorsichtig optimistisch: "Er wartet auf das Hörbuch."
David Safier, "28 Tage lang", Kindler Verlag, 416 Seiten, 16,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2014Es gibt kein richtiges Dating im falschen
David Safier verpflanzt ein Mädchen von heute in die Schreckenskulisse des Zweiten Weltkriegs
Als Mira das erste Mal einen Menschen erschießt, ist sie 16 Jahre alt. Abzudrücken fällt ihr schwerer als erwartet, hinterher ist ihr übel, sie übergibt sich sogar – aber dann muss sie lachen. Endlich! Endlich ist es gelungen, den Deutschen Angst zu machen, ihnen Schaden zuzufügen. Rache zu üben für das, was sie ihrer Familie, ihrem Volk Tag für Tag antun. Rache für Chelmno und für das, was in den Gaskammern von Treblinka passiert.
Warschauer Ghetto, April 1943. Die SS hat es mit etwas völlig Neuem, Unerwartetem zu tun: Juden wehren sich. Junge Menschen, 13 bis 29 Jahre alt, ausrangierte Pistolen der polnischen Armee in den Händen, Todesverachtung im Blick. Menschen wie Mira, Arzttochter, behütet aufgewachsen, die innerhalb weniger Jahren so viel Tod, Folter und Gleichgültigkeit mit angesehen haben, dass sie nun schießen können – auch wenn vor der Mündung ein Kind steht, das sie sonst für ein Stück Brot an die Deutschen verraten würde.
Harter Stoff für einen Spannungsroman, erst recht für einen, der sich an Jugendliche richtet. David Safier schrieb bisher über philosophierende Kühe, die durch Norddeutschland reisen. In „28 Tage lang“ versucht er sich am großen Roman. Seine jüdischen Großeltern haben den Holocaust nicht überlebt, die Geschichte des Aufstands im Warschauer Ghetto trug er immer mit sich herum. Nun soll sie junge Leute erreichen. Außerdem soll sie unterhalten. Ein riesiger Anspruch.
Mira, die 16-jährige Hauptperson der Geschichte, erlebt fast alles, was das Ghetto ausmacht: 1942 ist sie Schmugglerin, unterhält allein ihre kleine Familie. Sie dated einen der Jungs aus dem weltbekannten Waisenhaus von Janusz Korzac, sieht wie ihr Bruder bei der Judenpolizei die Arbeiten übernimmt, die selbst der SS zu schmutzig sind. Sie sieht, wie Korzac mit seinen Waisenkindern ins KZ abtransportiert wird. Sie besucht ihre beste Freundin Ruth im Bordell, sie steht auf dem Sammelplatz für die Züge und bekommt von einer Frau, die nur für sich selbst einen Freikauf-Schein hat, ihr neugeborenes Kind in die Hand gedrückt. Nur eine halbe Stunde später muss sie das Baby weitergeben, um selbst zu überleben.
Die Frage, die Mira bei all dem mit sich herumträgt, ist grundsätzlich: Was für ein Mensch will ich sein? Je länger sie im Ghetto überlebt, desto mehr spürt Mira, dass sie nicht zu den ganz Guten gehört. Zu denen, die sich, wenn es sein muss, für völlig Fremde opfern. Die es schaffen, in jedem Menschen das Beste zu sehen, selbst in denen, die eine SS-Uniform tragen. Irgendwann, ganz am Ende der Geschichte, schreit ihr erster Freund sie an: „Du denkst nur ans Töten! Nur an Tod, Tod, Tod.“
Das Gegenteil ist wahr. Mira will leben. Wenn sie nicht kämpft, denkt sie nach, auch über eine Welt, die sie eigentlich nicht kennen kann und die ziemlich genauso aussieht, wie die, in der wir heute leben. David Safier hat Mira als Identifikationsfigur entworfen. Sie ist also alles auf einmal: Widerstandskämpferin, Heldin und ganz normaler Teenie. Ein Mädchen, das nicht gern beim Abwasch hilft und genervt ist, wenn seine kleine Schwester knutschend auf der Treppe vorm Haus sitzt. Nachts träumt sich Mira in eine Geschichte hinein, 777 Inseln, auf denen Kapitän Karotte und der Spiegelmeister gegeneinander kämpfen. Tags schießt sie auf Männer in SS-Uniformen und wundert sich, dass sie selbst nie getroffen wird.
Verwunderlich ist das in der Tat. Mira soll so viel in sich vereinen, so normal, so philosophisch, so superheldengleich sein, dass es schwerfällt, ihre Geschichte zu glauben. Außerdem ist sie ein modernes Mädchen, mehr von 2014 als von 1942. David Safier hat bis auf die Charaktere alle bekannten historischen Details übernommen: den Mafiaboss, der seine Bunker nach Konzentrationslagern benannt hat, den verrückten Rubinstein, der hüpfend und Witze reißend durchs Ghetto hüpfte. In diese historische Kulisse setzt er Mira hinein. An den stärksten Stellen des Buches ist es der Blick einer 16-Jährigen auf das Ghetto, die Deutschen und die Juden, der den Wahnsinn der damaligen Zeit erlebbar macht. An anderen hat man Hollywood-Bilder im Kopf: Stuntmen, die wild um sich schießend durch die Luft fliegen, brennende Panzer, ein hübsches, ausgezehrtes Mädchen mit Asche im Gesicht und rauchender Pistole in der Hand. Fahnen, die im Sonnenuntergang wehen, jugendliche Revolutionäre mit scharf geschnittenen Gesichtern, die im Bunker pathetische Reden schwingen.
Das ist lebendig, unterhaltsam, manchmal sehr spannend. Wenn es nicht so dick aufgetragen wäre, könnte man es freilich besser ertragen.
CHARLOTTE THEILE
David Safier: 28 Tage lang. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 416 Seiten. 16,95 Euro, E-Book 14,99 Euro.
Der große Anspruch hat einen hohen Preis: David Safier.
Foto: Carmen Jaspersen/dpA
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David Safier verpflanzt ein Mädchen von heute in die Schreckenskulisse des Zweiten Weltkriegs
Als Mira das erste Mal einen Menschen erschießt, ist sie 16 Jahre alt. Abzudrücken fällt ihr schwerer als erwartet, hinterher ist ihr übel, sie übergibt sich sogar – aber dann muss sie lachen. Endlich! Endlich ist es gelungen, den Deutschen Angst zu machen, ihnen Schaden zuzufügen. Rache zu üben für das, was sie ihrer Familie, ihrem Volk Tag für Tag antun. Rache für Chelmno und für das, was in den Gaskammern von Treblinka passiert.
Warschauer Ghetto, April 1943. Die SS hat es mit etwas völlig Neuem, Unerwartetem zu tun: Juden wehren sich. Junge Menschen, 13 bis 29 Jahre alt, ausrangierte Pistolen der polnischen Armee in den Händen, Todesverachtung im Blick. Menschen wie Mira, Arzttochter, behütet aufgewachsen, die innerhalb weniger Jahren so viel Tod, Folter und Gleichgültigkeit mit angesehen haben, dass sie nun schießen können – auch wenn vor der Mündung ein Kind steht, das sie sonst für ein Stück Brot an die Deutschen verraten würde.
Harter Stoff für einen Spannungsroman, erst recht für einen, der sich an Jugendliche richtet. David Safier schrieb bisher über philosophierende Kühe, die durch Norddeutschland reisen. In „28 Tage lang“ versucht er sich am großen Roman. Seine jüdischen Großeltern haben den Holocaust nicht überlebt, die Geschichte des Aufstands im Warschauer Ghetto trug er immer mit sich herum. Nun soll sie junge Leute erreichen. Außerdem soll sie unterhalten. Ein riesiger Anspruch.
Mira, die 16-jährige Hauptperson der Geschichte, erlebt fast alles, was das Ghetto ausmacht: 1942 ist sie Schmugglerin, unterhält allein ihre kleine Familie. Sie dated einen der Jungs aus dem weltbekannten Waisenhaus von Janusz Korzac, sieht wie ihr Bruder bei der Judenpolizei die Arbeiten übernimmt, die selbst der SS zu schmutzig sind. Sie sieht, wie Korzac mit seinen Waisenkindern ins KZ abtransportiert wird. Sie besucht ihre beste Freundin Ruth im Bordell, sie steht auf dem Sammelplatz für die Züge und bekommt von einer Frau, die nur für sich selbst einen Freikauf-Schein hat, ihr neugeborenes Kind in die Hand gedrückt. Nur eine halbe Stunde später muss sie das Baby weitergeben, um selbst zu überleben.
Die Frage, die Mira bei all dem mit sich herumträgt, ist grundsätzlich: Was für ein Mensch will ich sein? Je länger sie im Ghetto überlebt, desto mehr spürt Mira, dass sie nicht zu den ganz Guten gehört. Zu denen, die sich, wenn es sein muss, für völlig Fremde opfern. Die es schaffen, in jedem Menschen das Beste zu sehen, selbst in denen, die eine SS-Uniform tragen. Irgendwann, ganz am Ende der Geschichte, schreit ihr erster Freund sie an: „Du denkst nur ans Töten! Nur an Tod, Tod, Tod.“
Das Gegenteil ist wahr. Mira will leben. Wenn sie nicht kämpft, denkt sie nach, auch über eine Welt, die sie eigentlich nicht kennen kann und die ziemlich genauso aussieht, wie die, in der wir heute leben. David Safier hat Mira als Identifikationsfigur entworfen. Sie ist also alles auf einmal: Widerstandskämpferin, Heldin und ganz normaler Teenie. Ein Mädchen, das nicht gern beim Abwasch hilft und genervt ist, wenn seine kleine Schwester knutschend auf der Treppe vorm Haus sitzt. Nachts träumt sich Mira in eine Geschichte hinein, 777 Inseln, auf denen Kapitän Karotte und der Spiegelmeister gegeneinander kämpfen. Tags schießt sie auf Männer in SS-Uniformen und wundert sich, dass sie selbst nie getroffen wird.
Verwunderlich ist das in der Tat. Mira soll so viel in sich vereinen, so normal, so philosophisch, so superheldengleich sein, dass es schwerfällt, ihre Geschichte zu glauben. Außerdem ist sie ein modernes Mädchen, mehr von 2014 als von 1942. David Safier hat bis auf die Charaktere alle bekannten historischen Details übernommen: den Mafiaboss, der seine Bunker nach Konzentrationslagern benannt hat, den verrückten Rubinstein, der hüpfend und Witze reißend durchs Ghetto hüpfte. In diese historische Kulisse setzt er Mira hinein. An den stärksten Stellen des Buches ist es der Blick einer 16-Jährigen auf das Ghetto, die Deutschen und die Juden, der den Wahnsinn der damaligen Zeit erlebbar macht. An anderen hat man Hollywood-Bilder im Kopf: Stuntmen, die wild um sich schießend durch die Luft fliegen, brennende Panzer, ein hübsches, ausgezehrtes Mädchen mit Asche im Gesicht und rauchender Pistole in der Hand. Fahnen, die im Sonnenuntergang wehen, jugendliche Revolutionäre mit scharf geschnittenen Gesichtern, die im Bunker pathetische Reden schwingen.
Das ist lebendig, unterhaltsam, manchmal sehr spannend. Wenn es nicht so dick aufgetragen wäre, könnte man es freilich besser ertragen.
CHARLOTTE THEILE
David Safier: 28 Tage lang. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014. 416 Seiten. 16,95 Euro, E-Book 14,99 Euro.
Der große Anspruch hat einen hohen Preis: David Safier.
Foto: Carmen Jaspersen/dpA
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Ein überwältigendes Buch über den Aufstand im Warschauer Ghetto News