Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2008Ein Schmalzhering für Tschechow
Britische Nachkriegskomödie: "Drei Schwestern", jüdisch, hoffnungslos, verrückt - da kann auch Gershwin nicht mehr helfen.
LIVERPOOL, 6. Februar.
Die Hope Street in Liverpool erzählt sehr schön von dem, was die Stadt einmal war und was aus ihr geworden ist, als das pulsierende Hafenzentrum des Empire seine Vormachtstellung verlor, das sich nun - auch mit Hilfe des Status der Kulturhauptstadt Europas - aus der Misere zu zerren versucht. Am unteren Ende der kopfsteingepflasterten, von sanierten georgianischen Reihenhäusern flankierten Straße steht die anglikanische Kathedrale in neugotischer Wucht. In schwesterlicher Rivalität erhebt sich am oberen Ende die römisch-katholische Kathedrale aus den sechziger Jahren, von den Liverpoolern "Paddy's Wigwam" getauft, womit sie auf deren zeltartige Form ebenso anspielen wie auf die zahlreichen irisch-katholischen Einwanderer, auch Paddys genannt, die sie gerne aufsuchen.
Zwischen beiden Kirchen liegen die Philharmonie, die Kunsthochschule, an der einst John Lennon eingeschrieben war, die Hochschule für die darstellenden Künste, die einst das Gymnasium beherbergte, das Paul McCartney besuchte, und das Everyman Theatre, das zum Auftakt des Kulturhauptstadtjahres eine in die Hope Street verlegte Bearbeitung von Tschechows "Drei Schwestern" darbietet: "Three Sisters on Hope Street" (Drei Schwestern an der Straße der guten Hoffnung). Alle Hoffnung aber ist hier naturgemäß erstickt im kleinbürgerlichen Mief einer jüdischen Familie, die es von New York in den englischen Nordwesten verschlagen hat.
Tschechows Prosorows heißen hier Lasky und sehnen sich nicht nach Moskau, sondern nach den glitzernden Lichtern von Manhattan. Dort verlebten sie zwischen den beiden Weltkriegen ihre Kindheit, bevor der Vater mit ihnen in seine Heimatstadt zurückzog, weil er es nach dem Tod seiner Frau in Amerika nicht mehr aushielt. Diese drei Schwestern, Gertie (Tschechows Olga), May (Tschechows Mascha) und Rita (Tschechows Irina), klimpern Gershwin auf dem Klavier und trösten sich mit Cole-Porter-Liedern. Es ist das Jahr 1946, und für Ablenkung sorgen die in der Stadt stationierten amerikanisch-jüdischen Soldaten. Sie gehen in dem Haus an der Hope Street ein und aus.
Dort gibt es Schmalzhering, Latkes und Kascha. Statt des Brandes, der den Prosorow-Haushalt bei Tschechow aufwühlt, erleben wir antisemitische Krawalle. Aus der alten Amme ist Tante Beil geworden. Der Koffer, mit dem sie vor den Pogromen geflüchtet ist, liegt für den Notfall fertig gepackt unter ihrem Bett. Die matronenhafte Jennie Stoller ahnt immer Böses, brabbelt jiddisch, während sie mit aufgeregter Geschäftigkeit den Haushalt versorgt, und fleht die Schwestern an, sie nicht ins jüdische Altersheim zu verbannen. Der idealistische Baron Tusenbach mutiert zu Tush, einem leidenschaftlichen Zionisten, der mit Rita in ein Kibbuz auswandern will, aus Hauptmann Solyony, der ebenfalls um Rita buhlt, wird Solly, dessen grüblerische Misanthropie sich daraus erklärt, dass er als Soldat die Befreiung von Dachau erlebt hat.
Fliegerführer Vince Samuel, der in die Rolle des Oberstleutnants Werschinin schlüpft und die frustierte May mit seiner romantischen Allüre erobert, schimpft über den "österreichischen Nudnik Adolf", von dem es immer geheißen habe, dass er sich nicht durchsetzen werde. Der zeitungsbesessene Militärarzt Tschebutykin hat in der Hope Street seinen Auftritt als der Logiergast Nathan Weinberg, dessen Gebrochenheit Pete Voss mit heiserem Bass glänzen lässt. Er verdient sein Geld mit Hinterhofabtreibungen und ertränkt seinen Weltekel in Alkohol. Der Lehrer Mordy, von Elliott Levey gespielt als Karikatur des getretenen und zugleich selbstgefälligen Juden, erzählt immer im falschen Moment einen jüdischen Witz und treibt seine Frau May mit seiner pingeligen Gutmütigkeit zur Verzweiflung und in Samuels Arme. Andrej hat sich in den Patoffelhelden Anton Ben Caplans verwandelt. Seine herrschsüchtige Frau Debbie (Tschechows Natascha) stößt alle mit ihrem kleinkötigen Fisimatenten vor den Kopf. Daisy Lewis spielt sie als ordinäre Aufsteigerin, die mit schwerem Liverpooler Akzent spricht.
Vom kultivierten großbürgerlichen Milieu der russischen Provinz haftet ihnen nichts mehr an. Vielmehr haben sie die Autoren Diane Samuels und Tracy-Ann Oberman ins Spießbürgertum versetzt. Auch in dem schweren spätviktorianischen Mobiliar des Hauses an der Hope Street, wo das Metronom die tote Zeit schlägt, sich die erotisch-füllige May Suzan Sylvesters gelangweilt über dem Klavier räkelt, Samantha Robinsons zwischen jungmädchenhaften Zukunftsträumen und Resignation schwankende Rita sich in den Sessel fläzt und die spinöse Gertie Anna Francolini märtyrerhaft seufzend über den Schulbüchern sitzt, spiegeln sich die engstirnigen Verhältnisse, in denen die Laskys unter Lindsay Posners effizienter Regie gefangen sind. "If it ain't broke, don't fix it", sagen die New Yorker. Der Spruch drängt sich bei dieser Bearbeitung von Tschechows Meisterwerk unwillkürlich auf.
GINA THOMAS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Britische Nachkriegskomödie: "Drei Schwestern", jüdisch, hoffnungslos, verrückt - da kann auch Gershwin nicht mehr helfen.
LIVERPOOL, 6. Februar.
Die Hope Street in Liverpool erzählt sehr schön von dem, was die Stadt einmal war und was aus ihr geworden ist, als das pulsierende Hafenzentrum des Empire seine Vormachtstellung verlor, das sich nun - auch mit Hilfe des Status der Kulturhauptstadt Europas - aus der Misere zu zerren versucht. Am unteren Ende der kopfsteingepflasterten, von sanierten georgianischen Reihenhäusern flankierten Straße steht die anglikanische Kathedrale in neugotischer Wucht. In schwesterlicher Rivalität erhebt sich am oberen Ende die römisch-katholische Kathedrale aus den sechziger Jahren, von den Liverpoolern "Paddy's Wigwam" getauft, womit sie auf deren zeltartige Form ebenso anspielen wie auf die zahlreichen irisch-katholischen Einwanderer, auch Paddys genannt, die sie gerne aufsuchen.
Zwischen beiden Kirchen liegen die Philharmonie, die Kunsthochschule, an der einst John Lennon eingeschrieben war, die Hochschule für die darstellenden Künste, die einst das Gymnasium beherbergte, das Paul McCartney besuchte, und das Everyman Theatre, das zum Auftakt des Kulturhauptstadtjahres eine in die Hope Street verlegte Bearbeitung von Tschechows "Drei Schwestern" darbietet: "Three Sisters on Hope Street" (Drei Schwestern an der Straße der guten Hoffnung). Alle Hoffnung aber ist hier naturgemäß erstickt im kleinbürgerlichen Mief einer jüdischen Familie, die es von New York in den englischen Nordwesten verschlagen hat.
Tschechows Prosorows heißen hier Lasky und sehnen sich nicht nach Moskau, sondern nach den glitzernden Lichtern von Manhattan. Dort verlebten sie zwischen den beiden Weltkriegen ihre Kindheit, bevor der Vater mit ihnen in seine Heimatstadt zurückzog, weil er es nach dem Tod seiner Frau in Amerika nicht mehr aushielt. Diese drei Schwestern, Gertie (Tschechows Olga), May (Tschechows Mascha) und Rita (Tschechows Irina), klimpern Gershwin auf dem Klavier und trösten sich mit Cole-Porter-Liedern. Es ist das Jahr 1946, und für Ablenkung sorgen die in der Stadt stationierten amerikanisch-jüdischen Soldaten. Sie gehen in dem Haus an der Hope Street ein und aus.
Dort gibt es Schmalzhering, Latkes und Kascha. Statt des Brandes, der den Prosorow-Haushalt bei Tschechow aufwühlt, erleben wir antisemitische Krawalle. Aus der alten Amme ist Tante Beil geworden. Der Koffer, mit dem sie vor den Pogromen geflüchtet ist, liegt für den Notfall fertig gepackt unter ihrem Bett. Die matronenhafte Jennie Stoller ahnt immer Böses, brabbelt jiddisch, während sie mit aufgeregter Geschäftigkeit den Haushalt versorgt, und fleht die Schwestern an, sie nicht ins jüdische Altersheim zu verbannen. Der idealistische Baron Tusenbach mutiert zu Tush, einem leidenschaftlichen Zionisten, der mit Rita in ein Kibbuz auswandern will, aus Hauptmann Solyony, der ebenfalls um Rita buhlt, wird Solly, dessen grüblerische Misanthropie sich daraus erklärt, dass er als Soldat die Befreiung von Dachau erlebt hat.
Fliegerführer Vince Samuel, der in die Rolle des Oberstleutnants Werschinin schlüpft und die frustierte May mit seiner romantischen Allüre erobert, schimpft über den "österreichischen Nudnik Adolf", von dem es immer geheißen habe, dass er sich nicht durchsetzen werde. Der zeitungsbesessene Militärarzt Tschebutykin hat in der Hope Street seinen Auftritt als der Logiergast Nathan Weinberg, dessen Gebrochenheit Pete Voss mit heiserem Bass glänzen lässt. Er verdient sein Geld mit Hinterhofabtreibungen und ertränkt seinen Weltekel in Alkohol. Der Lehrer Mordy, von Elliott Levey gespielt als Karikatur des getretenen und zugleich selbstgefälligen Juden, erzählt immer im falschen Moment einen jüdischen Witz und treibt seine Frau May mit seiner pingeligen Gutmütigkeit zur Verzweiflung und in Samuels Arme. Andrej hat sich in den Patoffelhelden Anton Ben Caplans verwandelt. Seine herrschsüchtige Frau Debbie (Tschechows Natascha) stößt alle mit ihrem kleinkötigen Fisimatenten vor den Kopf. Daisy Lewis spielt sie als ordinäre Aufsteigerin, die mit schwerem Liverpooler Akzent spricht.
Vom kultivierten großbürgerlichen Milieu der russischen Provinz haftet ihnen nichts mehr an. Vielmehr haben sie die Autoren Diane Samuels und Tracy-Ann Oberman ins Spießbürgertum versetzt. Auch in dem schweren spätviktorianischen Mobiliar des Hauses an der Hope Street, wo das Metronom die tote Zeit schlägt, sich die erotisch-füllige May Suzan Sylvesters gelangweilt über dem Klavier räkelt, Samantha Robinsons zwischen jungmädchenhaften Zukunftsträumen und Resignation schwankende Rita sich in den Sessel fläzt und die spinöse Gertie Anna Francolini märtyrerhaft seufzend über den Schulbüchern sitzt, spiegeln sich die engstirnigen Verhältnisse, in denen die Laskys unter Lindsay Posners effizienter Regie gefangen sind. "If it ain't broke, don't fix it", sagen die New Yorker. Der Spruch drängt sich bei dieser Bearbeitung von Tschechows Meisterwerk unwillkürlich auf.
GINA THOMAS
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